Neben den Gefühlen der Erschütterung und Empörung über Putins mörderischen Krieg in der Ukraine kann die Lektüre des monumentalen Romans «Stalingrad» von Wassili Grossmann zu vertieften Einordnungen und tröstlichen Erkenntnissen verhelfen. Das grosse, 1200-seitige Werk des russischen Autors ist erstmals in unzensurierter Form in deutscher Sprache erschienen.
In den ersten zwei Monaten seit dem Ausbruch des von Putin entfesselten Angriffskrieges gegen das Nachbarland Ukraine habe ich mich praktisch jeden Abend in die Lektüre von Wassili Grossmanns mächtigem Wälzer «Stalingrad» vertieft. Obwohl es auch in diesem Buch auf weite Strecken um Krieg, Leiden und Sterben, Ängste, Flucht, Tragik und Verzweiflung geht, hat man als Leser nicht das Gefühl, in eine heillos ausweglose Welt einzutauchen.
Nach dem Vorbild von «Krieg und Frieden»
Immer wieder ist man ergriffen von Episoden bewegender Menschlichkeit und von Beschreibungen nunancierter Seelenzustände. Man stösst auf tiefgründige Gespräche und historische Reflexionen, verfolgt neugierig die weiteren Entwicklungen im Beziehungsgeflecht eines weiten Panoramas von Menschen aus den verschiedensten gesellschaftlichen und beruflichen Schichten. Grossmanns Stalingrad-Epos ist offenkundig von Tolstois berühmtem Roman «Krieg und Frieden» inspiriert, in dem sich ebenfalls familiäre Geschichten und Kriegsszenen zu einem grossen Spannungsbogen zusammenfügen.
Wassili Grossmann (1905–1964) könnte, wie der Russland-Experte Ulrich M. Schmid formulierte, als «der unbekannteste Klassiker der modernen russischen Literatur» bezeichnet werden. Als sein Hauptwerk galt vor allem im Westen lange Zeit sein monumentaler Roman «Leben und Schicksal», der auf ebenfalls fast tausend Seiten Geschichten, Szenen und menschliche Bindungen zum deutsch-sowjetischen Krieg nach dem Hitler-Überfall auf die Sowjetunion ausfaltet und zu einem bewegenden Epos verknüpft. Darin sind auch Gestalten und Ereignisse auf Seiten der deutschen Angreifer verwoben.
«Leben und Schicksal» durfte zu Lebzeiten Grossmanns in Sowjetzeiten nicht erscheinen. Erst 1980 ist der Roman im Westen dank eines herausgeschmuggelten Manuskripts erstmals publiziert worden. Wenig beachtet blieb dabei der Umstand, dass der Autor von «Leben und Schicksal» einen Vorgängerroman geschrieben hatte, der in den fünfziger Jahren in der Sowjetunion und in der DDR stark zensuriert veröffentlicht wurde. Die Handlung spielt hauptsächlich im Umkreis der Stadt Stalingrad an der Wolga, dem Schauplatz der entscheidenden Niederlage der deutschen Kriegsmaschine an der Ostfront. Dieses Werk ist von englischen Spezialisten aufgrund der verschiedenen Textversionen neu rekonstruiert und übersetzt 2019 auf Russisch und Englisch herausgegeben worden.
Als Kriegskorrespondent an der Front
Die Handlung in «Stalingrad» konzentriert sich auf die Kriegsjahre nach dem deutschen Überfall von 1941 bis kurz vor der Kapitulation der deutschen Armee im Februar 1943 in der Wolga-Stadt, die heute Wolgagrad heisst. «Leben und Schicksal» führt die epische Handlung weiter bis zur Eroberung von Teilen Deutschlands durch die Rote Armee. Im Zentrum des ausladenden Panoramas stehen in beiden Romanen die Familie Schaposchnikow und der Kernphysiker jüdischer Abstammung Viktor Strum und dessen Angehörige.
Grossmann ist in Berditschew in der heutigen Ukraine in eine jüdische Familie geboren. Er arbeitete während des ganzen Zweiten Weltkrieges als Kriegskorrespondent der sowjetischen Armeezeitung «Roter Stern». In dieser Funktion berichtete er auch über die Schlacht von Stalingrad. Er war also mit den Realitäten des Krieges, dem Leiden und Sterben an der Front aufs engste vertraut.
Inspirierend, ja geradezu elektrisierend im Zusammenhang mit dem Putinschen Ukraine-Krieg empfand ich als Leser eine Reihe von «Stalingrad»-Passagen, die die Einschätzung der militärischen Situation der deutschen Invasoren im Zweiten Weltkrieg und diejenige der sowjetischen Verteidiger beschreiben. Auf Seite 429 zum Beispiel unterhält sich der russische Veteran Gagarow nahe an der Front mit dem Offizier Mostowskoi.
«Immense Fehlkalkulation» der Angreifer
Gagarow erklärt im Gespräch: «Schauen Sie doch, wie die (Deutschen) vorrücken! Eindeutig nach einem durchdachten Plan.» Mostowskoi winkte ab: «Unsinn! Wie Sie wissen, bestand der Plan darin, die Sowjetunion in sechs Wochen zu zerschlagen. Jetzt sind schon vierundfünfzig Wochen vergangen. Ich frage Sie, verstehen Sie die Bedeutung dieser immensen Fehlkalkulation? … Worin besteht denn dieser ausgeklügelte Plan, frage ich Sie? In dem Eindringen der faschistischen Horden in die Tiefen Russlands? Denken Sie, die würden stärker dadurch, dass sie täglich Gräueltaten begehen? Mitnichten. Eben das ist das Unterpfand für ihr Scheitern.»
Muss man da nicht sofort an den jetzigen russischen Einmarsch in die Ukraine denken? Erinnert dieser Hinweis auf die Hitlersche Fehlkalkulation nicht automatisch an die Fehlkalkulation des Kriegsherrn Putin gegenüber der Ukraine? Hatte er nicht auch damit gerechnet, seine Eroberungsziele in kurzer Frist zu erreichen?
Auf Seite 307 unterhält sich der Physiker Strum bei einem nächtlichen Gang durch Moskau mit seinem Vorgesetzten, Professor Tschepyschin, über die Hintergründe der Hitler-Invasion. «Tschepyschin drehte sich plötzlich zu Strum und sagte: ‘Dieser Faschismus! Was ist bloss aus den Deutschen geworden? Bei der mittelalterlichen Brutalität der deutschen Faschisten erfasst einen das blanke Grauen. Sie brennen Dörfer nieder, errichten Todeslager, führen Massenhinrichtungen von Kriegsgefangenen durch … Es ist, als wäre alles Gute verschwunden, als gäbe es keine gerechten, ehrlichen, guten Menschen mehr. Ist das denn möglich? Wir kennen sie doch. Ihre bemerkenswerte Wissenschaft, Literatur, Musik und Philosophie! … Man sagt, durch Hitler seien sie gekommen, besser verkommen. Der Hitlerismus habe sie zu dem gemacht.»
Auch hier liegt es für den vom laufenden Ukraine-Krieg aufgewühlten Leser nahe, den zitierten Begriff des Hitlerismus durch den Ausdruck «Putinismus» zu ersetzen.
Henker, Hochstapler und historische Helden
In einem anderen Abschnitt sinniert der Autor Grossmann über mehrere Seiten hinweg über Hitlers Persönlichkeit und über die Einschätzung von historischer Grösse – ganz ähnlich wie sein Vorbild Tolstoi in «Krieg und Frieden» über Napoleon nachdenkt. Am Schluss heisst es hier auf Seite 698: «Verbrechen gegen die Menschheit werden von Verbrechern begangen, und sie bleiben Verbrecher, auch wenn ihre Untaten ins historische Gedächtnis eingehen … Sie sind keine Helden der Geschichte, sie sind Henker und Hochstapler, hervorgebracht von dunklen und blinden Kräften. Historische Helden, wahrhaft historische Persönlichkeiten, Führer der Menschheit können jetzt und in Zukunft nur jene sein, die die Freiheit verwirklichen, in der Freiheit die Stärke von Mensch, Volk und Staat erblicken und für die Gleichheit aller Menschen, Völker und Stämme der Welt kämpfen …»
Wer solche Einsichten und Gedanken heute liest, und das ausgerechnet von einem grossen russischen Autor, der in der Ukraine aufwuchs, wird sich ermutigt fühlen in seinen Hoffnungen, dass auch der Kriegstreiber Putin aus seinem Ukraine-Überfall nicht als Triumphator hervorgehen wird. Der Stalinismus und die Sowjetdiktatur, mit denen sich Grossmann in jüngeren Jahren weitgehend identifiziert hatte, die er aber später scharf anklagte (siehe sein postum veröffentlichtes Buch «Alles fliesst») hatten zwar entscheidend zum Platzen von Hitlers Weltmacht-Phantasien beigetragen. Doch auch diese «dunklen und blinden Kräfte» (wie Grossmann alle tyrannischen Mächte nennt) sind schliesslich an ihrem freiheitsfeindlichen Wahn zerschellt.
Dem Putinismus wird es kaum anders ergehen. Grossmanns «Stalingrad»-Roman ist bei aller Tragik des Geschehens eine Inspiration. Er stützt das Vertrauen in den Reichtum und die Vielfalt zwischenmenschlicher Beziehungen auch in einer totalitär geführten Gesellschaft. Und in die langfristig überlegenen Widerstandskräfte eines zu Unrecht angegriffenen Volkes.