Seit 14 Tagen, seit ausgerechnet der unter anderem für die Bekämpfung von Steuerflucht und Steuerhinterziehung zuständige Budgetminister Cahuzac zugeben musste, selbst seit rund 20 Jahren Schwarzgeldkonten in der Schweiz bzw. in Singapur zu besitzen, hängen die Regierungsmannschaft, die sozialistischen Abgeordneten und der Präsident regelrecht in den Seilen. Sie schleichen mit eingezogenen Köpfen durch die Paläste der Republik, als würden sie nach dem politischen Erdbeben des Cahuzac-Skandals jeden Tag einen weiteren Erdstoss fürchten.
Das von Finanzkrise, Schuldenbergen, Betriebsschliessungen und Massenarbeitslosigkeit ohnehin schwer gebeutelte Land ist - nicht einmal ein Jahr nach der Wahl des Sozialisten François Hollande zum Staatspräsidenten - jetzt auch noch von einer schweren politischen und moralischen Krise heimgesucht.
Wer wusste was?
Die einen rufen nach einem Referendum, die anderen nach einer Kabinettsumbildung, manche fordern gar die Auflösung des Parlaments. Da ist Hysterie im Spiel und gleichzeitig hat man den Eindruck, die Institutionen der monarchischen Republik Frankreich taugen einfach nicht mehr, um auf diese Krise eine entsprechende Antwort zu finden.
Desaster, Erschütterung, Verblüffung, Staatsaffäre, ja Systemkrise – die Schlagzeilen der Zeitungen überbieten sich in diesen Tagen, um die Folgen zu beschreiben, die das Geständnis des bisherigen französischen Haushaltsministers Cahuzac nach sich zieht.
Natürlich müssen sich der Staatspräsident und die Regierung fragen lassen, ob sie Bescheid wussten. Wenn ja, dann liegt Mitwisserschaft vor, wenn nein, gleicht das zwangsläufig einer fortgeschrittenen Form der Inkompetenz.
Schliesslich waren einfache Journalisten des Internetportals „Mediapart“ ohne Hilfe des Staatsapparats und der Nachrichtendienste in der Lage herauszufinden, dass der sozialistische Haushaltsminister in einem nicht allzu fernen Leben sich in einer Welt bewegt hatte, die mit den hehren Zielen der einst von Jaurès getragenen Sozialistischen Partei reichlich wenig zu tun hat.
Da hat einer, bevor er sich zum allseits anerkannten Finanzexperten mauserte, in der Schönheitschirurgie und als Berater der Pharmaindustrie offensichtlich Millionen gemacht, die er nicht im Land lassen und deklarieren wollte - und war trotzdem jahrelang Abgeordneter der sozialistischen Partei gewesen.
„Es stinkt“, sagte dieser Tage einer der Rechtsausleger der französischen Konservativen. Man hat Mühe, ihm zu widersprechen.
Unverschämte Lügen
Präsident Hollande hatte unmittelbar nach Bekanntwerden des Skandals nur harte und sehr deutliche Worte übrig für seinen ehemaligen Budgetminister, der allerdings für den Staatschef seit seinem Amtsantritt eine zentrale Person im Kampf um die Sanierung der öffentlichen Finanzen gewesen war.
„Er hat“, so Hollande, „die höchsten staatlichen Autoritäten getäuscht: den Staatspräsidenten, die Regierung und das Parlament und damit letztlich alle Franzosen. Das ist eine unverzeihliche Verfehlung, ja eine grobe Beleidigung der Republik.“
In der Tat: Cahuzac hatte allen zynisch und unverfroren Monate lang ins Gesicht gelogen und mit seinem Verhalten das ohnehin schon sehr geringe Vertrauen der Franzosen in die Politik noch weiter erschüttert, noch einmal kräftig Stoff geliefert für die populistische Parole, wonach doch sämtliche Politiker korrupt seien, was quasi automatisch den politisch Extremen im Land in die Hände spielt.
Transparenz
Mit einer Art gläsernen Politik, mit einigen konkreten Massnahmen zur sogenannten „Moralisierung des politischen Lebens” versuchte François Hollande letzte Woche, mit dem Rücken zur Wand stehend, einen Ausweg aus der abgrundtiefen Vertrauenskrise zu finden, die unter anderem dazu führt, dass der Präsident mittlerweile nicht einmal mehr 30 % Zustimmung bei den Franzosen findet.
Die für Frankreich spektakulärste Massnahme, die in zahlreichen anderen Demokratien schon seit langem existiert, ist ein Gesetzesvorschlag, wonach künftig alle Abgeordneten, Bürgermeister der Grossstädte und Direktoren der grossen staatlichen Verwaltungen ihre persönlichen Vermögensverhältnisse offenlegen müssen. Die Minister der Regierung Ayrault müssen dies sogar schon an diesem Montagabend tun.
Einige dieser Minister, aber auch einige konservative Politiker, darunter der ehemalige Premierminister Fillon, waren nach Hollandes Ansprache von sich aus vorgeprescht und hatten ihre Vermögensverhältnisse offengelegt, mussten aber prompt schon Spott über sich ergehen lassen, weil ihr Vermögen dann doch allzu bescheiden wirkte.
Zahlreiche andere, selbst in der sozialistischen Partei, halten nicht sonderlich viel von dieser Offenlegung ihrer Vermögensverhältnisse. Der sozialistische Parlamentspräsident Batrolone etwa sprach sich eindeutig dagegen aus und warnte vor einem ungesunden Klima der permanenten Verdächtigungen.
Und der konservative Abgeordnete Bernard Debré schimpfte und ironisierte: „Sich vor allen auszuziehen, das ist doch der reinste Populismus. Man wird sich z.B. bemühen, ein möglichst altes Auto anzugeben, einen Renault 4 etwa, dann ist man ein ehrenwerter Mensch, wer einen Audi hat, ist unehrenhaft. Das ist sehr, sehr gefährlich für die Demokratie, dieser Populismus. Was soll denn das? Man macht das doch nur, um die Cahuzac-Affäre zu übertünchen.“
Präsident Hollande, der mit dieser Initiative einen Befreiungsschlag versucht hatte, muss sich wohl zurecht sagen lassen, dass er in diesem Fall prinzipiell nicht anders gehandelt hat wie sein Vorgänger Sarkozy in ähnlicher Lage – nämlich auf ein Problem mit einer überstürzt ausgearbeiteten Gesetzesinitiative zu antworten.
Tumult im Parlament
Seit Tagen schlagen bei jeder Sitzung der Nationalversammlung die Wogen gewaltig hoch, der Diskurs der Opposition ist ganz eindeutig schärfer, radikaler geworden, Schimpfwörter und demagogische Übertreibungen sind plötzlich an der Tagesordnung.
So tönte z.B. der Fraktionsvorsitzende der konservativen UMP-Partei letzte Woche: Anders als Premierminister Ayrault oder der Chef der Sozialisten, Harlem Desir, sei er kein ehemals Vorbestrafter, der zu 6 bzw. 18 Monaten verurteilt worden sei – eine Äusserung, die in dieser Art schlicht nicht der Wahrheit entspricht, doch sie lief über alle Fernseh- und Radiokanäle.
Ein konservativer Fraktionskollege verdächtigte offen das Finanzministerium, Haushaltsminister Cahuzac gedeckt zu haben, und beschwor die Regierung, sie möge zusätzlich zur wirtschaftlichen und sozialen Krise, die sie provoziert habe, der Bevölkerung nicht auch noch eine moralische und politische Krise zumuten.
Ein anderer UMP-Abgeordneter griff den Staatspräsidenten persönlich an, weil ein alter und enger Freund Hollandes, Jean-Jacques Augier, der 2012 Schatzmeister seines Präsidentschaftswahlkampfs gewesen war, Teilhaber zweier Offhshore Konten auf den Caiman-Inseln ist, wie aus den Dokumenten von OffshoreLeaks hervorging. Dem engen Hollande-Vertrauten und neuen Haushaltsminister, Bernard Cazeneuve, platzte der Kragen. „Die Politik“, so rief er in Richtung Oppositionsbank, „ ist eine würdige Tätigkeit, was bedeutet: wenn man ein politisch Verantwortlicher ist, bringt man nicht wissentlich alles durcheinander, dann läuft einem der Hass nicht aus den Mundwinkeln und dann ist man fähig, nicht mit den Wölfen zu heulen, wie sie es gerade auf unwürdigste Art und Weise getan haben.“
Sorgen um die Republik
Der altgediente Politologe Roland Cayrol hebt angesichts des derzeitigen Klimas im Lande sogar einen warnenden Zeigefinger und bringt eine gewisse Sorge um den Zustand der Republik zum Ausdruck. „Diese Affäre ist für die Franzosen ganz besonders schwer zu akzeptieren wegen der Wirtschaftskrise. Man sagt ihnen, sie müssen den Gürtel enger schnallen. Und ausgerechnet die Leute, die ihnen das sagen, erlauben sich, ein Gesetz zu brechen, das sie selbst im Parlament verabschiedet haben. Eine solche Affäre ist in der Geschichte dieser Republik ohnehin schon etwas sehr, sehr Schlimmes. Warum muss man jetzt aber auch noch suggerieren, dass der Premierminister und der Präsident zwangsläufig informiert waren über Cahuzacs Konten. Es ist, als hätten einige ganz offensichtlich Lust, die Republik zu erschüttern.“
Kein Wunder, dass die Parteichefin der rechtsextremen Nationalen Front sich angesichts dieser Situation tagtäglich die Hände rieb und lautstark den Rücktritt der Regierung und neue Parlamentswahlen forderte. Zumindest bis zu dem Tag, als bekannt wurde, dass ausgerechnet einer ihrer heutigen politischen Berater vor 20 Jahren als Wirtschaftsanwalt das erste Schwarzgeldkonto für Ex- Haushaltsminister Cahuzac in der Schweiz eröffnet hatte!
Und die heute so laut tobende konservative UMP-Opposition sollte eigentlich auch nicht ganz vergessen haben, dass ein Wirtschaftsanwalt namens Nicolas Sarkozy Mitte der 90er-Jahre - als er eine politische Durststrecke durchlief, weil er damals vom neugewählten Präsidenten Chirac in die Wüste geschickt worden war - vermögende Franzosen beriet, um ihr Geld in die Schweiz zu schaffen, wobei er nicht einmal ein glückliches Händchen hatte. Mehrere seiner Kunden, unter anderem der Tennisstar Henri Leconte, haben damals Millionen verloren, weil ein Schweizer Bankier, der heute an der Côte d'Azur residiert, als wäre nichts gewesen, sich verspekuliert hatte.
Schlimmer als Strauss-Kahn
Ein „Le Monde“-Kommentator schrieb dieser Tage, der Cahuzac-Skandal sei deutlich schlimmer als die Strauss-Kahn Affäre, bei der man gedacht hatte, man habe den absoluten Skandal eigentlich bereits erreicht. „Jetzt aber“, so der Kommentator, „steht das Schicksal der gesamten Amtszeit von Präsident Hollande auf dem Spiel. Das Image der französischen Demokratie ist schwer angeschlagen, der Pakt des Vertrauens mit den Bürgern erschüttert - durch die enorme Lüge, den unergründlichen Zynismus und die kaum vorstellbare Verantwortungslosigkeit eines ehemaligen Ministers.“
Rechte Stosstrupps
Doch damit noch nicht genug. Die so genannte „gemässigte Rechte“ hat dieser Tage nicht nur im Parlament in der Cahuzac-Affäre bedenklich radikale Töne angeschlagen. Sie bedient sich seit Wochen auch des andauernden Protestes gegen die Einführung der Homoehe, um Präsident und Regierung auch über den ausserparlamentarischen Weg zu destabilisieren. Die Gegner der Homoehe haben in den letzten Wochen kommandoartig funktionierende Stosstrupps organisiert, die für gezielte Ausschreitungen bei Demonstrationen sorgen oder reihenweise öffentliche Diskussionsveranstaltungen von politischen Gegner sprengen, ja sogar nicht davor zurückschrecken, auf das Parlament zu zu marschieren.
Als am letzten Freitag auch der Senat dem Gesetz zur Einführung der Homoehe zustimmte, belagerten tausende Gegner der Homoehe das Gebäude am Jardin du Luxembourg und kleine Gruppen versuchten, gewaltsam zum Senat vorzudringen.
Als die Regierung anschliessend beschloss, das Gesetzgebungsverfahren zu beschleunigen und die entscheidende 2. Lesung des Gesetzes in der Nationalversammlung schon auf diese Woche vor zu verlegen, sind eine ganze Reihe von konservativen Politikern regelrecht ausgerastet. Nicht nur, dass sich die so genannte „gemässigte Rechte“ bislang nicht eindeutig von den Kommandoaktionen distanziert hat. Nein – diese Parlamentarier der UMP heizen ganz unverhohlen die Stimmung noch zusätzlich an. Ein Abgeordneter der UMP nannte die Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens einen „Aufruf zum Bürgerkrieg“, ein anderen war sich nicht zu blöde, gar von einem „Staatsstreich“ zu sprechen.
Am Tag darauf wurde bei einem von der Wochenzeitung „Nouvel Observateur“ organisierten Diskussionswochenende die als Lesbin bekannte, hoch geschätzte Essayistin, Caroline Fourest in Nantes von einem Stosstrupp am Reden gehindert. Sie wurde anschliessend von der Meute bis auf den Bahnsteig verfolgt, im Zug zurück nach Paris weiter beschimpft und bei der Ankunft in der Hauptstadt erneut von einigen Dutzend aufgebrachten Gegnern der Homoehe in Empfang genommen.
Die Ministerin für Gleichstellung und Regierungssprecherin, Valaud-Belkacem, die an dem Kolloquium in Nantes hätte ebenfalls teilnehmen sollen, war angesichts der Ereignisse erst gar nicht angereist. Sie war nicht die erste Politikerin, die in den vergangenen Wochen von derartigen Kommandoeinheiten am Reden gehindert worden ist.
Am Tag darauf erfuhr man dann auch noch, dass auf der anderen Seite ein bekannter und engagierter Gegner der Homoehe während der Nacht verprügelt worden war und sogar einige Messerstiche abbekommen hatte.
Unverantwortliche Opposition?
Angesichts derartiger Ereignisse täten die exaltierten Damen und Herren der so genannten „gemässigten Rechten“ wahrlich gut daran, sich möglichst rasch einmal zu fragen, ob ihre überzogenen und demagogische Wortwahl der letzten Wochen nicht mitverantwortlich ist für das immer unerträglicher werdende politische Klima im Land.
Zumal hinter diesen heftigen Worten und den mehr als zweifelhaften Aktionen auf der Strasse in den letzten Wochen zunehmend deutlicher eine Attitude der französischen Rechten durchschimmert, die für eine Demokratie im Grunde unerträglich ist. Sie besteht darin, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verstehen zu geben, dass die Linke in diesem Land an den obersten Schaltstellen der Macht in ihren Augen schlicht und einfach nicht legitim ist. Mit anderen Worten: Frankreichs Konservative haben die Wahlniederlage vom Frühjahr 2012 immer noch nicht verdaut, die „Alternance“, der politische Wechsel ist für sie anscheinend nichts Normales und sie gebärden sich, als hätten die Sozialisten die Macht zu Unrecht an sich gerissen.
Frankreich erscheint in diesem Frühjahr mehr denn je als ein verkrampftes, verbiestertes, verängstigtes und untolerantes Land – Lichtjahre entfernt von seinem Jahrhunderte alten fortschrittlichen und weltoffenen Image.