Das Champions-League-Finale im Pariser Stade de France zwischen dem FC Liverpool und Real Madrid war von einem skandalösen Sicherheitskonzept der Polizeipräfektur und unangemessener Brutalität der Sicherheitskräfte gekennzeichnet. Das kommt nicht von gestern, sondern hat seit gut drei Jahren System.
Da hatte sich Präsident Macron höchstpersönlich engagiert, um das Champion-League-Finale, dessen Austragung nach Putins Überfall auf die Ukraine seiner Heimatstadt Sankt Petersburg entzogen worden war, in die französische Hauptstadt zu holen. Und Macron hatte damit bei der Uefa sogar Erfolg.
Und dann dies: bei weltweit 300 Millionen Fernsehzuschauern.
Die sahen ein Finale, das ein grosses Fest hätte werde sollen, das jedoch erst mit 36-minütiger Verspätung angepfiffen werden konnte, weil vor dem Stadion in der Vorstadt Saint-Denis vier Stunden lang das Chaos geherrscht hatte, das auch nach dem verspäteten Spielbeginn noch nicht zu Ende war.
Betroffen davon waren ausschliesslich die Fans des FC Liverpool.
Gewiss, einige Tausend Liverpool-Anhänger waren ohne Karten zum Stadion geströmt, oder sie hatten gefälschte Karten erworben. Doch Ähnliches hatte es auch beim Finale der letzten Euro im Londoner Wembley-Stadion bereits gegeben, ohne dass es zu einem ähnlichen, «totalen Fiasko» – so die Sportzeitung «L’Equipe» – gekommen wäre, wie an diesem Samstagabend vor den Toren von Paris.
Zunächst mussten Liverpool-Fans bei der ersten Zugangskontrolle in riesigen Warteschlangen schon halbe Ewigkeiten warten, um passieren zu können, bevor sie zur eigentlichen Kontrolle kommen konnten. Hinterher wagten es die Organisatoren zu posten, der verzögerte Spielbeginn sei auf Grund der verspäteten Ankunft der Liverpool-Fans zustande gekommen. Für die Fussballfreunde, die zu einem Fest gekommen waren und – warum auch immer – vor Ort lange Stunden brauchten, um wirklich ins Stadion zu kommen, der blanke Hohn.
Ja, der Zugang für die Liverpool-Fans war derart erbärmlich organisiert, dass so mancher unter ihnen trotz verzögertem Spielbeginn erst kurz vor Ende der ersten Halbzeit auf seinen Platz gelangte, mit Tickets, für die so mancher mehrere hundert, wenn nicht über tausend Euro bezahlt hatte.
«Ich bin nicht sicher, dass es möglich ist, ein Event schlechter zu organisieren, sogar wenn man es extra versuchen wollte. Absolut chaotisch und gefährlich», twitterte die englische Fussballlegende Gary Lineker. Die Begründung der Verzögerung auf Grund der späten Ankunft der Liverpool-Fans nannte er schlicht «Bullshit».
Die Polizei
Doch damit nicht genug. Die Polizei und Sondereinsatzkräfte, sowie die verantwortliche Pariser Polizeipräfektur haben sich bei diesem Finale alles andere als mit Ruhm bekleckert.
Schon Tage zuvor hatte der Pariser Polizeipräfekt, ein Hardliner aus dem deutlich rechten Spektrum und nach dem Innenminister der mächtigste Wächter über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Land, verkünden lassen, nicht weniger als 7’000 Polizisten würden am 28. Mai dafür sorgen, dass in Frankreichs Hauptstadt und Umgebung auch an diesem Tag Recht und Ordnung herrschen. Es wurde in der Öffentlichkeit ein Klima erzeugt, als ob die französische Hauptstadt in Gefahr wäre, weil eine Meute gewaltbereiter Fussballfans über sie hereinbricht.
Und in den Augen der Ordnungshüter waren die rund 70’000 Liverpool-Fans, die nach Paris gekommen waren, um ihrer Mannschaft so nahe wie möglich zu sein – nur 20’000 davon mit Eintrittskarten für das Spiel – an diesem Samstag anscheinend allesamt potentielle Hooligans.
Public Viewing
Im 12. Pariser Arrondissement, am Ostrand der Stadt, hatte man für die Liverpool-Fans ohne Eintrittskarten auf dem breiten «Cours de Vincennes» eine Fanzone eingerichtet, die rund 40’000 Menschen fassen konnte. Eine Fanzone, deren Umgebung von der Polizei schon neun Stunden vor Spielbeginn in eine Art Hochsicherheitstrakt verwandelt worden war. Bereits am Mittag waren, bis auf eine einzige, alle Zugangsstrassen zum «Cours de Vincennes» mit Eisengittern verrammelt und Polizisten, ohne jedes Augenmass und jeden Sinn für Verhältnismässigkeit, schickten schon zu dieser frühen Stunde alte Menschen, Eltern mit kleinen Kindern, Essensauslieferer und natürlich die Liverpool-Fans absolut kompromisslos auf endlose Fussreisen rund um die Häuserblöcke.
Und die Fanzone selbst, sie glich einem Gitterkäfig, in den die Besucher nach langem Warten zwar hinein konnten, dann aber gezwungen waren, stundenlang zu verharren, bevor sie am Abend das Spiel auf den Grossbildschirmen verfolgen konnten. Das Strassenbild im gesamten Pariser Osten war schon vor Spielbeginn geprägt von rot gekleideten Menschen aus Liverpool, die frustriert herumirrten, das Polizeiaufgebot und all die Absperrungen nicht verstehen konnten, um schliesslich, so gut es ging, in oder vor irgendeiner Kneipe mit Bildschirm einen Stehplatz zu ergattern. So etwas wie eine echte Feststimmung wollte dabei nicht aufkommen.
Vor dem Stadion
Doch wenigstens mussten diese Fans in der Stadt nicht miterleben, was Abertausende andere mit Eintrittskarten vor den Eingängen zum Stade de France, in dem immerhin seit 25 Jahren derartige Grossereignisse ausgerichtet werden, hinnehmen mussten.
Stundenlanges Warten, bedrückendes Gedränge vor zu wenigen Einlässen, gefährliche Flaschenhälse beim Zugang zum Stadion und schliesslich, als der Spielbeginn näher rückte und die Geduld der Fans überstrapaziert war, die französische Polizei, die Tränengas und Schlagstöcke einsetzte gegen Männer, Frauen und Kinder. Ein Verhalten, als hätte die Polizei es mit einer gewalttätigen Gelbwesten-Demonstration oder mit Mitgliedern des Schwarzen Blocks zu tun gehabt und nicht mit der Fangemeinde eines Clubs mit über hundertjähriger Fussballkultur, welche schon lange nicht mehr als eine Ansammlung von besonders gefährlichen Hooligans bekannt ist.
Der Chef eines Web-TVs, das sich ausschliesslich mit den Reds aus der Stadt der Beatles beschäftigt, formulierte es so: «Ich habe den FC Liverpool überallhin auf der Welt begleitet. Ich habe fünf Champions-League-Finale miterlebt. Ich habe nie eine derartige Inkompetenz bei der Organisation gesehen. Das Schlimmste aber war die schreckliche Brutalität der französischen Polizei. Tränengas und Waffen, die auf die Fans gerichtet wurden ...»
Der Laborabgeordnete von Liverpool nannte die Stunden vor dem Stadion «eine der schlimmsten Erfahrungen meines Lebens, mit einer fürchterlichen Organisation, welche Leben in Gefahr gebracht hat».
Und nicht nur durch unverhältnismässigen Tränengaseinsatz machte Frankreichs Polizei auf sich aufmerksam, sondern auch durch massive Eingriffe gegen die Pressefreiheit.
Ein Journalist von AP berichtete, Uefa-Offizielle hätten intervenieren müssen, nachdem Journalisten daran gehindert worden waren, den Tränengaseinsatz gegen eine Menschenmenge zu filmen. Und ein Kameramann wurde von Polizisten sogar einfach zur Seite genommen und gezwungen, gedrehte Bilder der Polizeieinsätze zu löschen, andernfalls würde man ihm seine Akkreditierung entziehen.
Laut mehreren Beobachtern darf man von Glück sagen, dass es in dem ganzen Chaos und Gedränge nicht zu Panikbewegungen unter den hinter Gittern gepferchten Fans gekommen ist und Schlimmeres verhütet wurde. Und dies ausgerechnet, fast auf den Tag genau 37 Jahre nach dem Drama im Heysel-Stadion in Brüssel, beim damaligen Finale des Europapokals der Landesmeister zwischen dem FC Liverpool und Juventus Turin mit 39 Toten unter den Zuschauern. (29. Mai 1985)
Die grosse französische Sportzeitung «L’Equipe» schrieb am Tag nach dem Fiasko von Saint-Denis: «Man verspürt eine Mischung aus Wut, Unverständnis und Scham angesichts der Inkompetenz der französischen Organisatoren, welche dramatische Folgen hätte haben können, wenn die Liverpool-Fans nicht unendlich geduldig gewesen wären.»
Auch Angehörige der englischen Merseyside Police, die vor Ort waren, beschrieben das Verhalten der Fans aus Liverpool an den Drehkreuzen als «vorbildlich unter schockierenden Umständen».
Selbst die konservative französische Tageszeitung «Le Figaro» sprach am Tag danach auf ihrer Webseite von «einem beschämenden Abend im Stade de France» und «einer Organisation, die weit davon entfernt war, auf dem Niveau einer solchen Veranstaltung zu sein». Die Zwischenfälle hätten «ein katastrophales Bild von Frankreich in Europa hinterlassen. Unfähig, eine Veranstaltung dieser Grössenordnung so zu organisieren, wie es sein sollte».
Repressionsdoktrin
Die Ereignisse rund um dieses Champions-League-Finale werfen erneut die Frage auf, inwieweit die französische Polizei in den letzten Jahren auf eine zunehmend härtere Gangart gegenüber jeder Art von Demonstration und grösseren Menschenansammlungen eingestellt wurde.
Ausser Frage steht, dass die Politik Frankreichs Ordnungskräften seit dem Ausbruch der Gelbwesten-Bewegung Ende 2018 eine reichlich lange Leine gelassen und nach und nach immer unverhohlener eine zusehends repressive Gangart von Polizisten und Gendarmen zugelassen hat.
Immerhin sind während der Gelbwesten-Bewegung rund 2’500 Demonstranten verletzt worden. 30 unter ihnen haben durch Gummigeschosse ein Auge verloren und fünf Demonstranten eine Hand durch Polizeiwaffen, deren Einsatz inzwischen sogar von der Uno verurteilt wurde. Und die Liste von Klagen über die Unverhältnismässigkeit von Polizeieinsätzen bei verschiedensten Demonstrationen hat sich in den letzten drei Jahren gewaltig verlängert.
Rugby-WM und Olympische Spiele
Eines scheint sicher: Wenn Frankreich seine Sicherheitsstrategien und die Einsatzkonzepte für die Ordnungskräfte weiter so beibehält, wie man es an diesem Wochenende erleben durfte, wird es auch bei der Rugby-WM im kommenden Jahr und bei den Olympischen Spielen 2024 gewaltige Probleme geben.
Sportfans nur noch als gefährliche Radaubrüder zu betrachten und dementsprechend nur noch an den Knüppel im Sack zu denken und nur noch auf Repression zu setzen, ist mit Sicherheit zu wenig, damit ein sportliches Grossereignis auch wirklich zu einem Fest des Sports werden kan.
Nach den Ereignissen am Samstag wagt man sich kaum vorzustellen, wie Frankreichs Ordnungskräfte die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 2024 absichern werden. Denn auf ausdrücklichen Wunsch des republikanischen Monarchen im Élyséepalast soll diese Zeremonie im Herzen von Paris und dort auf der Seine stattfinden. Ein Alptraum für alle Sicherheitsexperten.