«Wie die Sprache die Welt erfindet»: Eine Themenschau mit sprachphilosophischem Hintergrund und mit den Vorzügen und Schwächen dieser Ausstellungsgattung. Das macht den Ausflug ins Bündner Kunstmuseum spannend.
Seit es sie gibt, ritzt die bildende Kunst die Grenzen zur Sprache. Sie verwendet Zeichen, befragt diese nach ihren Bedeutungen und bewegt sich, teils nahe, teils entfernt, im Umfeld von Alphabeten, Hieroglyphen und was irgend dem Verschriftlichen des Sprechens dient. Verbindungen von Sprache und Bild sind seit jeher Thema der Kunst. Antike Inschriften belegen das, mittelalterliche Sakralkunst ebenso – man denke nur an die Schriftbänder aus dem Mund der Verkündigungsengel und an die mittelalterliche Buchmalerei mit ihren Initialen. Offensichtlich sind solche Verbindungen auch in der Renaissance, in der Moderne und in der Konkreten Poesie bis hin zur Gegenwartskunst, bis zu Comics, Bildergeschichten und Werbung. Abhandlungen zu diesem Thema füllen ganze Bibliotheken. Ein Heer von Philosophen hat sich damit beschäftigt.
Sprache und Bild als Einheit
Das Bündner Kunsthaus in Chur kann und will diesen Themenkomplex nicht neu und umfassend darstellen, sondern in der Art eines offenen Ausstellungs-Essays, kuratiert von Damian Jurt, einige Schlaglichter auf ein breit aufgefächertes Thema werfen. Allerdings sind Besucherinnen und Besucher tüchtig gefordert, wollen sie sich ernsthaft und vertieft auf die mit vielerlei Theorien belastete Materie einlassen. Der schöne Titel der Ausstellung «Wie die Sprache die Welt erfindet» ist dabei kaum eine Hilfe, denn er lenkt den Blick auf die Sprache, die nach Beschreibung und Deutung von «Welt» sucht, und weniger auf die Visualisierung dieses Vorgangs mit den Mitteln der Bildenden Kunst. Denn das steht doch wohl in einem Kunsthaus im Zentrum: Da kann Sprache zum Bild werden – einem Bild der «Welt» im Idealfall.
In einigen glücklichen Fällen verbinden sich Sprache und Bild zur Einheit: in der Konkreten Dichtung oder im Dadaismus (beides ist in der Schau gut vertreten), in Jenny Holzers LED-Arbeit oder, und das ist eine eigentliche Ikone der jüngeren Kunst, in Bruce Naumans als Spirale angelegten Neonarbeit «The True Artist Helps the World by Revealing Mystic Truths», die den Weg vom Kröller-Möller Museum im niederländischen Otterlo nach Chur gefunden hat. Hohe Übereinstimmung von Idee und ihrer Konkretisierung auch bei Dieter Roths «Literaturwurst»: Der Künstler zerkleinerte literarische Bücher, die er nicht mochte (zum Beispiel Martin Walsers «Halbzeit»), und verarbeitete die Schnipsel nach klassischem Rezept zu «Literaturwürsten».
Graubünden als Sprachlandschaft
Doch beginnen wir von vorn. Dass Damian Jurt ein rätoromanisch geschriebenes Reisetagebuch aus dem 18. Jahrhundert zum Ausgangspunkt des Unternehmens nimmt, zeigt, dass das Bündner Kunstmuseum weltweit diskutierte Themen deutlich und bewusst lokal vernetzt. Das gibt der Ausstellung eine Unmittelbarkeit und Publikumsnähe. Das Tagebuch stammt von Gion Casper Collenberg aus Lumbrein im Lugnez (1733–1792). Der Bündner reiste 1765/66 im Auftrag eines französischen Financiers und Sekretärs des Königs mit dem Sohn des Financiers nach der französischen Kolonie Mauritius. Dieser Sohn war der Spielsucht verfallen und sollte auf der Insel geheilt werden. Das gelang nicht. Doch Collenberg brachte sein romanisch geschriebenes Tagebuch nach Hause, in dem er für Sachverhalte, die es in Graubünden nicht gibt, Wörter oder Beschreibungsumwege suchen musste – zum Beispiel Ebbe und Flut. Damit rückt Jurt exemplarisch Graubünden als Sprachlandschaft ins Blickfeld – eine Landschaft, die von drei oder, nimmt man die rätomanischen Idiome dazu, gar vielen Sprachen geprägt ist: Eine Sprachlandschaft, die auf kleinstem Raum die problematischen Überschneidungen von Sprachpraxis, Übersetzungen und verschiedenen Möglichkeiten der Benennungen sichtbar macht.
Mehrere der aus Graubünden stammenden Künstlerinnen und Künstler, deren Werken in der Ausstellung zu begegnen ist, bewegten oder bewegen sich an diesen Schnittstellen oder fanden den Weg in eine multisprachliche Welt. Vorerst sei allerdings auf einen der «Väter» der Erneuerungsbewegung des Rätoromanischen im 19. Jahrhundert hingewiesen, auf den Oberländer Giachem Caspar Muoth (1844–1906), dessen pathetischen Aufruf «Stai si! Defenda Romontsch, tiu vegl lungagt!» («Stehe auf! Verteidige, Rätoromane, deine alte Sprache») Alois Carigiet im Jahr 1981 in majestätischen Grossbuchstaben in Graffito-Technik als Inschrift an der Wand des Schulhauses in Trun gestaltete. Eingang in die Ausstellung fanden auch Carigiets Originale des u. a. ins Afrikaans und Japanische übersetzten Longsellers «Schellen-Ursli».
Multikulturelle Biographien
Maude Léonard-Contant mag sich mit ihrer multikulturellen Biographie bestens in den Graubündner Kontext einfügen: Sie wurde 1979 im französischen Teil Kanadas geboren, besuchte in Glasgow die Kunsthochschule, lebt in Basel und ist durch Heirat Bürgerin von Poschiavo. Sie schuf im ersten Raum eine eigens für die Ausstellung «Wie Sprache die Welt erfindet» geschaffene grosse Bodeninstallation aus ockerfarbenem Sand – einem flüchtigen, wie die Sprache lebendigen und vielen Unwägbarkeiten ausgesetzten Material mit dem Titel «Nous, prêles d’hi er» (in dieser Schreibweise). Es ist ein sehr persönlicher, von der Künstlerin in ihrer französischen Muttersprache geschriebener Text. («Prêles» heisst «Schachtelhalm».) Er wird hier mit grösseren und kleineren Buchstaben zur Visualisierung einer sich stetig verändernden, sich in ganz verschiedene Richtungen entwickelnden und nur schwer zu überblickenden Sprachlandschaft.
Ähnliches lässt sich aus anderen in Chur gezeigten Werken herauslesen. Erica Pedretti (1930–2022), die sich als Schriftstellerin und zugleich bildende Künstlerin stets an Grenzen bewegte, stammte aus Mähren. Sie erlebte ganz verschiedene Sprachlandschaften: Ihr Leben führte sie nach dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz, nach New York, nach La Neuveville am Bielersee und schliesslich ins Engadin. Thomas Hirschhorn (*1957) wuchs in Davos auf, lebt in Paris und beschäftig sich in seiner Arbeit «Nietzsche-Map» (gemeinsam mit Marcus Steinweg) mit dem in aller Welt vernetzten und damit auch alle Grenzen sprengenden Werk des Philosophen.
Not Vital wiederum, weltumspannend tätig, gibt als Wohn- und Arbeitsorte neben Riesenstädten wie Beijing und Rio das ländlich abgeschiedene Sent im Unterengadin an. Aus seinen filigran und fragil wirkenden Ast-Skulpturen – weiss patinierte Bronzen – wachsen Buchstaben, die mit seiner inneren Biographie verbundene Begriffe bilden.
Ein weiteres Beispiel eines in die bildende Kunst übertragenen Sprachbildes stammt von der Waliserin Bethan Huws (*1961), die nicht nur über ihre Galerie in Zuoz, sondern auch mit einigen freien Arbeiten mit der Bündner Kultur verbunden ist. In ihrer in Chur gezeigten «Sprachvitrine» formuliert sie ihren Appell zum offenen Gespräch in Rätoromanisch und Englisch: «NU'M QUINTER CHE CHA TÜ SEST, EAU VULESS SAVAIR CHE CHA TÜ PENSAST. DON’T TELL ME WHAT YOU KNOW. I’D LIKE TO KNOW WHAT YOU THINK». Auch Bethan Huws ist eine Reisende zwischen Sprachen: Ihre Muttersprache ist das Walisische, ihre Umgangssprache das Englische. Heute lebt sie in Berlin.
Vielfalt und Problematik
Die Künstler- und Werklisten der in thematische Kapitel gegliederten Ausstellung sind lang, ohne dass der grosse Raum im zweiten Untergeschoss des Museums deswegen überladen wirkte. Die Präsentation lässt den einzelnen Werken Raum und bietet den Besucherinnen und Besuchern mancherlei Vergleichsmöglichkeiten. Einige Namen zeigen die Bandbreite: Marcel Broodthaers, Christo, Carl Andre, Ian Hamilton Finlay, Rebecca Horn, Barbara Kruger, Meret Oppenheim, André Thomkins und viele mehr. Gross ist auch die Vielfalt der Medien: Es gibt Zeichnung, Malerei, Skulptur, Installation, Film/Video. Da ist – wohl auch dank der Grosszügigkeit privater und institutioneller Leihgeber – viel vereint an internationaler Kunst-Prominenz. Der Anregungen sind viele. Besucherinnen und Besucher erleben, lassen sie sich wirklich auf die Sache ein, eine Vielfalt an Fragen, Antworten, Gegensätzen und Übereinstimmungen.
Allerdings zeigt «Wie Sprache die Welt erfindet» auch die Problematik mancher Themenausstellungen. Oft sind die Themen uferlos und schwer einzuschränken. Das gilt hier genauso wie bei der kürzlichen Ausstellung zum Thema «Zeit» im Kunsthaus Zürich: Die Konturen sind wenig klar, sodass schwer einsichtig ist, warum man sich für dieses Werk und jene Künstlerinnen und Künstler entschied und nicht auch für andere – in Chur zum Beispiel für «Art & Language» oder Joseph Kosuth und andere Konzeptkünstler. Und sicher setzen Verfügbarkeit der Werke, Transport- und Versicherungskosten sowie technische Belange der Spontaneität, den Wünschen und der subjektiven Phantasie des Kurators kaum zu durchbrechende Grenzen. Es mag das Bündner Kunstmuseum ehren, dass es das Wagnis dieser ambitionierten Ausstellung trotzdem eingegangen ist.
Bis 28. Juli im Bündner Kunstmuseum Chur
Publikation mit mehrsprachig abgedruckten literarischen Essays und zahlreichen Abbildungen, herausgegeben von Damian Jurt, Distanz-Verlag Berlin, 42 Franken