Die Zwölfbotenkapelle des Zürcher Grossmünster ist ein Ort der Besinnung. Gegenwärtig kann man hier hineinhören in Gespräche, die der Künstler Till Velten (*1961) mit zwölf Menschen geführt hat. Sie alle sind mit dem Grossmünster verbunden und reden über ihr Leben und ihre Erfahrungen mit der Kirche.
Christoph Schneider: «Das ist ja das Problem. Ich glaube an etwas, aber ich weiss nicht, woran.»
Till Velten: «Du musst ja nicht glauben, du kannst, wenn du möchtest.»
Schneider: «Das verstehst du auch, man kann nicht alles begründen. Und das akzeptiere ich heute, dass man nicht alles begründen kann. Und ich habe auch keine Probleme zu sagen, dass ich nicht weiss, weshalb ich glaube – es ist einfach so.»
Till Velten ist Künstler. Er führte Gespräche mit zwölf Personen, die im Zürcher Grossmünster tätig sind – als Pfarrer, Katechetin, in der Administration, als Sigrist, als Sozialarbeiterin, als Verantwortlicher für die Kirchenmusik, im Präsenzdienst (das sind meist pensionierte Frauen, die sich den Besuchern der Kirche für Auskünfte und Gespräche zur Verfügung halten). Christoph Schneider ist pensionierter Betriebswirtschafter und leitet den Freundeskreis Grossmünster, eine lockere Vereinigung von Menschen, die sich mit der Kirchgemeinde und ihren Aktivitäten verbunden fühlen und auch aktiv mitarbeiten.
Der eben angeführte kurze Textausschnitt stammt aus einem Gespräch, das Till Velten im Bullinger-Zimmer der Kirchgemeinde Grossmünster mit Christoph Schneider geführt hat. Dieses und die anderen elf Gespräche finden sich im Buch «Sprich mit mir – Gesprächsskulpturen von Till Velten». Ausschnitte aus allen Gesprächen bilden, über Lautsprecher abgespielt, die Installation gleichen Namens in der romanischen Zwölfbotenkapelle des Grossmünsters. Zu den Textfragmenten sind ruhig-getragene Musikstücke – Arien aus einer Kantate von J. S. Bach – zu hören, die den Worten Raum zum Nachklingen geben. Die Zwölfbotenkapelle, so benannt in Erinnerung an die zwölf Apostel – sie sind in der Szene der Fusswaschung Thema einer Malerei an der Nordwand –, ist der wohl intimste Raumteil des Grossmünsters. Er ist zu erreichen über eine von der Südseite des Hochchores abwärts führende Treppe. Die Kapelle ist ein Ort der Besinnung und Einkehr, streng in seiner romanischen Architektursprache, mit spärlichem Licht, mit Taufstein und Altar. Till Velten hat ihm mit einem blauen Teppich Wärme gegeben. Den Besucherinnen und Besuchern bietet er mit einfacher Möblierung Sitzgelegenheiten an. Zur Atmosphäre im Raum tragen zwei mundgeblasene leuchtende Glasobjekte bei.
Immaterielle Skulptur
Das Grossmünster ist Zürichs prominenteste Kirche. Das gilt für das Äussere, das das Stadtbild prägt, aber auch für die historische Bedeutung als Geburtsort der Reformation im Geiste Huldrych Zwinglis und Heinrich Bullingers. In der Kirche, noch bis vor wenigen Jahrzehnten nur während der Gottesdienste zugänglich, herrscht heute ein reges Kommen und Gehen. Offensichtlich gehört der Bau zu den touristischen Hauptattraktionen der Stadt, denn zu den Einheimischen, die sich im dunkel-strengen Kirchenraum einfinden, gesellen sich viele Touristinnen und Touristen. Einige steigen auch in die Zwölfbotenkapelle hinab, setzen sich kurz hin, lauschen den Worten und der Musik und steigen nach wenigen Minuten wieder hoch. Andere verweilen länger und geben sich der beschaulichen Atmosphäre des Raumes und der Installation Till Veltens hin.
Es steht zu vermuten, dass die meisten Besucherinnen und Besucher Till Veltens Arbeit einfach zur Kenntnis nehmen als das, was eben da ist. Vielleicht ist auch gar nicht so wichtig, ob und wie sie die Intention des Künstlers spüren, der seine Arbeiten «Gesprächsskulpturen» nennt. Das ist ein ungewohnter Begriff. Nach allgemeinem Verständnis können wir eine Skulptur mit den Händen greifen. Die «Gesprächsskulptur» aber ist immateriell. Der Begriff ist gedacht als Beitrag zur Diskussion, was Skulptur denn sein kann und wie sie eingreift ins Bewusstsein der Betrachter. Da fühlt man sich an Joseph Beuys und seinen Begriff der «Sozialen Plastik» erinnert oder auch an Till Veltens Düsseldorfer Akademielehrer Fritz Schwegler, der in den 1970er Jahren als eine Art «Bänkelsänger» die Präsenz von Sprache im Raum auslotete.
Gemeinschaftswerk mit den Gesprächspartnern
Für Till Velten sind die Gespräche das «Material», das er zu Skulpturen formt. Er geht sie – die Lektüre des Buches zeigt das deutlich – diskret und einfühlend an und sucht sie über verschiedene Wendungen sachte in existenzielle Tiefen zu führen. Die Gespräche beginnen mit einfachen Fragen zur Biographie: Woher kommst du, was führt dich in diese Kirche und zur Arbeit in diesem Raum? Wie empfindest du die Kirche in ihrer aktuellen Ausprägung? Fühlst du dich zugehörig? Immer wieder hören wir die für den Katholiken Till Velten bedeutende Frage: Wie stehst du zu möglichen Bildern, die deiner Vorstellung von Leben und Tod entsprechen? Wie zum zwinglianischen Bilderverbot? Wie zum damit verbundenen Reduzieren sinnlicher Komponenten in der religiösen Praxis? Der Künstler geht behutsam vor. Er macht Intimes zum Thema, doch sein Fragen und Nachfragen stellt die Gesprächspartnerinnen nicht bloss. Vor allem: Till Velten formt sein «Material», das Gespräch, nicht allein, sondern lässt den Gesprächspartnern die Freiheit, das gemeinsame «Material» nach eigenem Befinden und nach eigener Initiative mitzugestalten. So gesehen, ist der Anteil der Partnerinnen und Partner jenem des Künstlers, der allerdings die Regie für sich beansprucht, ebenbürtig. Dazu gehört wesentlich die Bereitschaft beider Seiten, sich zu öffnen, aber auch, sich das Recht vorzubehalten, auf zu viel Öffnung zu verzichten und oftmals auch eine Frage unbeantwortet zu lassen. So ist es nichts als folgerichtig, dass Till Velten jedes Gespräch mit einem herzlichen Dank an die Partner abschliesst.
Ein Bild der Kirche
Die zwölf Personen, die Till Velten zu «Sprich mit mir» einlud, sind ganz verschieden. Es sind Frauen und Männer, alte und junge Menschen. Unterschiedlich sind auch ihre Funktionen im Grossmünster. Die Gespräche gestalten sich je nach Konstellation völlig anders: Der Pfarrer, der das religiöse Leben im Grossmünster während Jahren prägte und nun von seinem Amt zurücktritt, gibt naturgemäss andere Antworten als der junge und eher kirchenfremde Student, der seit wenigen Monaten seinen Dienst als «Türöffner» tut und die sonntäglichen Gottesdienstbesucher willkommen heisst; die Antworten des Sigristen sind andere als jene der 80-jährige Mitarbeiterin im Präsenzdienst. So werden die von Till Velten geführten Gespräche zum «Material» für Porträts – analog zum Ton, den der Plastiker zur Porträtbüste formt und in Bronze giessen lässt. Die Installation in der Zwölfbotenkapelle und die dazu gehörende Publikation mit den Gesprächen lassen die Besucherinnen und Besucher den Raum des Grossmünsters und die mit ihm mehr oder weniger eng verbundenen Menschen farbig, vielseitig und vertieft erleben: «Sprich mit mir» wird zum Bild eines facettenreichen Phänomens «Kirche».
«Sprich mit mir» gehörte zu den Aktivitäten, die im Zürcher Grossmünster seit einigen Jahren unter dem Motto «Kunst in der Krypta» stattfinden. Versucht wird ein Brückenschlag zwischen Spiritualität, Kirche und Seelsorge einerseits und zeitgenössischer Kunst andererseits. Eine Kuratorengruppe (die Kunsthistorikerin Angelika Affentranger-Kirchrath sowie Marc Bundi und Martin Rüsch von der Grossmünster-Gemeinde) gab und gibt namhaften Künstlerinnen und Künstlern Gelegenheit zu Interventionen in der Krypta. Einige Namen: Bethan Huws, die Frères Chappuisat, Judith Albert, Mario Sala, Mirko Baselgia. Ab diesem Jahr steht die Krypta aus denkmalpflegerischen Gründen nicht mehr zur Verfügung, sodass das Kuratorenteam und Till Velten in die im Vergleich zur Krypta besinnlicher und geschlossener wirkende Zwölfbotenkapelle auswichen.
Till Velten, geboren 1961 in Wuppertal, studierte Kunst in Düsseldorf bei Gerhard Richter und Fritz Schwegler und anschliessend Soziologie in Stuttgart. Einzelausstellungen und Professuren in ganz Europa, u. a. auch in Luzern, wo er den Master-Lehrgang Kunst leitete. Er lebt und arbeitet in Berlin und Zürich. Seit 2002 ist ein Schwerpunkt seiner Arbeit, in Gesprächen die Erfahrungswelten unterschiedlicher Menschen zur Sprache zu bringen und diese in Installationen hör- und sichtbar zu machen. (www.velten-berlin.org)
Grossmünster Zürich, Zwölfbotenkapelle. Bis 13. März. Täglich von 13.30 bis 17 Uhr
Zur Ausstellung erscheint im Vexer-Verlag, St. Gallen/Berlin, das Buch «Sprich mit mir» mit den zwölf Gesprächen, die Till Velten geführt hat. (26 Franken)