Omar Nasiri heisst nicht so; er ist auch nicht 1967 geboren, wie er dies selbst auf der ersten Seite seiner Autobiografie erklärt. Namen und Geburtsdatum hält er geheim, weil er von vielen Seiten Rache zu befürchten hat. "Omar Nasiri" ist Marokkaner und Belgier. Er hat seine Jugendzeit abwechselnd in beiden Ländern durchlebt. Sein Vater pflegte seine Mutter zu schlagen. Seine Mutter war "ein Engel".
Die Kinder wussten Bescheid über die Schläge. Sie ereigneten sich immer wieder, regelmässig, bis Omar Nassiri gross und stark genug war, um seinen Vater seinerseits zu Boden zu schlagen und ihn vor die Haustür zu werfen. Die anderen Söhne, auch Hakim, der ältere Bruder "Omars", schauten verlegen zu. Verlegen, weil man sich trotz all seiner Brutalität nicht am Familienoberhaupt hätte vergreifen dürfen. Der Vater ist seither verschwunden.
Im Sanatorium in Belgien
Dies geschah in Marokko. Die Mutter kehrte darauf mit ihren Söhnen nach Belgien zurück, ausser mit Omar, Der blieb auf eigene Faust in Marokko. Er muss damals gegen 17 Jahre alt gewesen sein. Zuvor, noch als Kind in Belgien, war er von Tuberkulose befallen und wurde in ein Sanatorium und Internat in Belgien gesteckt, das von Nonnen geführt wurde. Dort war er der einzige Araber und der einzige Muslim. Der Kirchenbesuch am Sonntag kam ihm seltsam vor, besonders der Gesang beim Gottesdienst. Denn in Moscheen zu singen, wäre sündhaft gewesen, das wusste er.
Nach dem Sanatorium lebte er in dem schlossartigen Haus von Edouard, einem Schweizer, der belgischer Staatsdiener gewesen war und den Staatsdienst quittiert hatte, um Halbwüchsige zu erziehen, die ihm der Staat zur Betreuung zuwies. Es gab 23 solcher Zöglinge. Omar war Einzelgänger und Träumer. Am Fussballspiel der anderen nahm er nicht teil.
Zum Waffennarr gemacht
Edouard war ein Liebhaber von Waffen. In seinem Keller hatte er eine Waffensammlung und hatte dort auch eine Schiessgalerie eingerichtet. Er nahm Omar mit in den Keller, und der Halbwüchsige begeisterte sich für die Waffen und für Schiessübungen. Mit Edouard lernte er alles, was über die grosse Sammlung Schusswaffen zu lernen war. Patronen kosteten viel Geld. Er lernte deshalb von Edouard, wie man Schiesspulver herstellt und Patronenhülsen damit neu füllt, um sie wieder zu verwenden. Blei für die Kugeln musste überall, wo man es finden konnte, abgekratzt, gesammelt, geschmolzen und mit grosser Sorgfalt neu eingesetzt werden.
Edouard verwendete die Liebe zu den Waffen des jungen Omar dazu, um ihn anzuhalten, seine Schulaufgaben zu machen. Erst nachdem sie erledigt waren, durfte er in den Waffenkeller. Doch einmal log Omar seinen Erzieher an. Er sagte, die Hausaufgaben seien erledigt und verbrachte den ganzen Nachmittag mit den Waffen. Als sich herausstellte, dass er angelogen worden war, wurde Edouard furchtbar wütend. Seither war das Sonderverhältnis zwischen den beiden gestört.
Marokko enttäuscht ihn
Omar kam nicht lange darauf zu seiner Familie zurück und reiste mit ihr nach Marokko. Solange er in Belgien lebte, schwebte ihm sein Heimatland, Marokko, als eine Art Paradies vor. Doch als er dort ankam, war er enttäuscht. Er stellte fest, dass er in Marokko auch nicht dazu gehörte. Die Lebensbedingungen waren "primitiv". Er beherrschte die arabische Umgangssprache nur mangelhaft. Seine Gleichaltrigen machten sich lustig über ihn. Die Familie lebte zuerst in Tanger, der halb europäischen Hafenstadt an der Meerenge. Doch dann sollte sie ins Landesinnere ziehen, weil der Vater dort Arbeit fand. In diese Zeit fiel die Episode der Herauswurfs des Vaters. Die Mutter kehrte mit den anderen Söhnen nach Belgien zurück.
Omar, alleine zurückgeblieben, wurde Fremdenführer. Er lernte jene Touristen erkennen, die sich leicht fügen würden. Er steuerte sie dann in die Geschäfte, die ihm Provisionen bezahlten. Doch in Tanger gab es viele Touristen, die wegen Haschisch gekommen waren. Omar lernte, sie zu bedienen und wurde schrittweise Mittelsmann zwischen den Bauern, die das Kraut anbauten und den ausländischen Kunden. Dann stieg er in grösserem Masstab in den Haschischhandel ein.
Sowjetische Waffen
Tanger wimmelte von Polizisten. Omar beobachtete ihre Aktivitäten und lernte, Polizisten in Zivil als solche zu erkennen. An ihrem Gang, wie er schreibt, an der Kopfhaltung, den Blicken. Einmal kamen Deutsche, die ihm Waffen gegen Haschisch antrugen. Sie brachten einen Katalog mit aller Art Waffen aus der Sowjetunion. Alles nur Denkbare fand sich darin, bis hin zum Kampfflugzeug. Dies war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und es gab russische Generäle, die Geld machen wollten und die Waffen ihrer Einheiten nach Deutschland absetzten.
Omar war zu klug, um auf das Waffengeschäft einzugehen. Er verbrannte den Katalog der deutschen Händler. Ein solches Geschäft in Marokko sei viel zu gefährlich, machte er ihnen klar. Sie riskierten von der marokkanischen Staatssicherheit eingesperrt und zu Tode gefoltert zu werden. Das Tageslicht würden sie jedenfalls nie mehr erblicken.
Sein Bruder, zum Islamisten geworden
Omar verdiente leicht Geld. Wenn er welches hatte, schlief er im Hotel und konnte sich Frauen leisten. Einmal flog er sogar mit einer Freundin nach Paris. Dort besuchte er das Pompidou-Zentrum, ohne zu wissen, was es dort gab. Er fand Fotographien und Filme über den Jihad in Afghanistan, die ihn tagelang nicht mehr losliessen. Wenn das Geld ausging, schlief Omar auf der Strasse. Was ihm wenig ausmachte.
Als er so gegen 23 Jahre alt war, kam sein älterer Bruder Hakim nach Tanger. Er hatte sich sehr verändert. Er trug einen Vollbart und den Talar eines betont frommen Muslims. Er war zum Islamisten geworden. Seinen Bruder wollte er überzeugen, auch in der Moschee zu beten. Er lehrte ihn, ganz korrekt zu beten, Haltung der Hände, der Ellbogen, des Kopfes, die Augen zu Boden gerichtet usw. Omar ging darauf ein. Es war leicht, schreibt er, in die altangelernten Moscheengebräuche zurückzufallen. Viel schwieriger war, das Rauchen und das Trinken aufzugeben. Doch er begann heimlich zu trinken und zu rauchen. Er fügte sich seinem grossen Bruder, weil ihm daran lag, nach Belgien zurückzukehren. Hakim, so hoffte er, werde ihm dort Arbeit verschaffen.
Im Haus der Mutter
Sein älterer Bruder, brachte ihn zunächst in Kontakt mit "guten Muslimen" in Casablanca, die seine weitere Islamisierung übernahmen. Auch darauf ging Omar ein, und er liess sich "bekehren", stets in der Hoffnung der Rückkehr nach Belgien. Der Bruder ging in der Zwischenzeit seinen Geschäften in Marokko nach.
Schliesslich kehrten die beiden Brüder nach Belgien zurück. Dort, im Haus der Mutter, findet Omar viele Besucher vor. Zwei davon fallen ihm auf: glattrasiert, elegant gekleidet, athletische Körper, ein ganz besonderer Gang, als schwebten sie beschwingt über den Boden. Er nennt sie Yasin und Amin. Amin kommandiert, Yasin noch muskulöser als sein Kollege, ist offensichtlich dessen vertrauter Gehilfe. Amin ist beständig an seinem Handy, um Transporte und Treffen zu organisieren. Die beiden haben Hakim, Omars älteren Bruder, bekehrt und geschult. Doch sie selbst verzichten darauf, ihren islamischen Glauben nach aussen hin sichtbar hervorzukehren. Den Bruder behandeln sie immer höflich, aber Omar merkt, dass sie ihn nicht wirklich achten.
Das erste Waffengeschäft
Das Haus der Mutter Hakims und Omars dient den beiden als eine Art Organisationszentrum. Omar hört den Gesprächen zu, ohne stark daran teilzunehmen. Er ist kaum einen Monat zuhause, als er aufschnappt: die beiden Besucher wollen Patronen für Kalaschnikows kaufen. Diese kommen aus Deutschland, doch der Preis ist zu hoch. Omar anerbietet sich, billigere Patronen zu finden. Dass er das vermöge, glauben die Gäste nicht. Doch sie stimmen zu, er könne es ja versuchen.
Dank seiner Beobachtungsgabe, die er in Marokko erworben hat, gelingt es Omar rasch, in dem Brüsseler Ausländerviertel von Schaerbeek einen Strassenhändler ausfindig zu machen, der Drogen verkauft. Er nimmt Kontakt mit ihm auf. Er bittet den Mann, eine Frage von ihm anzuhören, ohne sofort auf sie antworten zu müssen. Dann sagt er ihm, er benötige eine grosse Zahl von Patronen. Er fügt rasch hinzu, sie würden sofort ins Ausland geschafft werden. Sie seien nicht für einen Einbruch in Belgien gedacht. Dann flüstert er dem Händler ins Ohr, die Patronen seien bestimmt für die Umma (Gemeinschaft der Gläubigen) und für den Jihad. Omar weiss, dass diese Begriffe auf jeden Muslim eine Wirkung ausüben, auch wenn dieser in keiner Hinsicht zu den Frommen gehört. "Ich glaube, das ist besonders wahr in Europa, wo die Muslime so weit weg von allem sind, von dem Land der Muslime." Der Händler verlangt einen Tag Bedenkzeit. An nächsten Tag teilt er mit, er kenne eine geeignete Person. So kommt, nach einigen Proben, die Omar erfolgreich besteht, das erste Waffengeschäft zustande.
Maschinenpistolen, Sprengstoff
Der Waffenhändler, "Laurent" trägt ein Kreuz auf der Brust. Er hat eine Quelle in Belgien selbst und kann daher billiger verkaufen als die Deutschen, die das Risiko von Transporten über die Grenze einrechnen müssen. Omar handhabt die Sache so, dass ein kleiner Profit bei einer jeden Patrone für ihn herausschaut. Dem Käufer, Amin, sagt er nichts davon. Er bittet ihn sogar um eine Belohnung für seine Vermittlungsarbeit. Doch Amin sagt empört, die Transaktionen seien ja für die Umma und den Jihad. Da gebe es keinen persönlichen Profit.
Den Patronen folgen Waffen, Nachtsichtgeräte, Zündkapseln. Uzi-Maschinenpistolen sind leicht zu haben. Semtex Sprengstoff ist schwieriger, aber auch möglich. Die Preise müssen natürlich jedes Mal ausgehandelt werden. Es hilft Omar, dass er selbst über Waffen Bescheid weiss und dass er die Absichten und die Gedanken seines Lieferanten zu erraten vermag.
"Al-Ansar"
Yasin und Amin sorgten auch für den Druck und die Verteilung einer französischen und arabischen Zeitschrift, die "al-Ansar" hiess. Tausende von Exemplaren gingen durch das Haus in Brüssel und wurden von dort aus über alle Welt verteilt und verschickt.
"Ansar" (Helfer) nennt man in der islamischen Geschichte die Bewohner von Medina, die sich zum Islam bekehrten, als Mohammed nach 622 das erste islamische Staatswesen gründete. "Al-Ansar" war der Informationsbrief der GIA, die in jener Zeit, seit 1992 in Algerien kämpften.
Vorläufer von al-Kaida und des IS
Die "Groupes Islamiques Armés" waren die radikalste Faktion der muslimischen Kämpfer, die in Algerien im Bürgerkrieg gegen die algerische Armee standen. Sie töteten nicht nur Truppen und Polizisten des algerischen Staates sondern auch viele algerische Intellektuelle und Zivilisten; sie verübten Massaker in ganzen Dörfern. Viele Algerier und Franzosen sind bis heute der Ansicht, sie seien tief vom algerischen Geheimdienst infiltriert gewesen, und dieser habe sie zu ihren Untaten verführt, im Bestreben die algerischen Jihadisten beim algerischen Volk übel angesehen zu machen.
Die gemässigteren Islamisten des algerischen Widerstandes von FIS (Islamische Heilsfront) galten den GIA als Feinde. Auch Lehrer und Schulen waren für sie Angriffsziele. Im Rückblick von der heutigen Warte aus, waren sie Vorläufer von al-Kaida und des IS. Wie diese übten sie "takfir", Ungläubig-Erklärung aller Andersdenkenden, auch wenn diese Muslime waren. Manche ihrer Aktivisten kamen aus den Ausbildungslagern für arabische Jihadisten in Afghanistan. Dies war auch der Fall von Yasin und Amin, wie Omar aus gelegentlichen Bemerkungen in den Gesprächen erfuhr.
Diebstahl und Morddrohung
Von den vielen Geldern, die in dem Haus der Familie Omars zusammenliefen, nahm er einmal 25’000 belgische Francs. Er machte sich eine gute Luxusnacht aus dem Geld. Doch am nächsten Morgen traf ihn sein kleinerer Bruder vor dem Haus und warnte, die Aktivisten hätten den Diebstahl bemerkt und berieten darüber, wie sie ihn umbringen könnten. Auch sein älterer Bruder, Hakim, sei einverstanden, ihn umzubringen. Das Geld war ausgegeben.
Getrieben von Angst und von Ressentiments begab sich Omar zum französischen Konsulat, um mit dem französischen Geheimdienst Kontakt aufzunehmen. Er rechnete sich aus, die belgische Polizei, wenn er sich ihr stellte, um ihren Schutz in Anspruch zu nehmen, würde ihn wahrscheinlich ins Gefängnis bringen. Doch der französische Geheimdienst (DGS) würde an Informationen über die GIA interessiert sein. Der Kontakt kam zustande, und Omar arbeitete über längere Zeit mit der französischen Geheimpolizei in Brüssel zusammen. Auf Anraten seines französischen Kontrolleurs kehrte er nach Hause zurück, erklärte seine Reue und versprach das gestohlene Geld zurückzuerstatten. Den gestohlenen Betrag steckte sein Kontrolleur ihm zu. Die dortigen Islamisten sahen sich - entsprechend den muslimischen Gepflogenheiten - gezwungen, die Reueerklärung entgegenzunehmen, obwohl sie Omar von da an misstrauten.
Auf eigene Faust nach Afghanistan
Sie benötigten ihn auch, um die Waffenkäufe fortzusetzen, und sie brauchten sein Mutterhaus als Operationszentrum. Sie beschlossen jedoch, Omar auf eine gefährliche Reise nach Marokko schicken. Er sollte ein Auto voll von Material, das für Bombenanschläge dienen konnte, durch Frankreich und Spanien nach Marokko transportieren. Omar selbst vermutet, seine Auftraggeber hätten nicht damit gerechnet, dass er lebendig aus Marokko zurückkehren werde. Doch das gelang ihm mit Schlauheit und Glück.
Ein Ende seiner Tätigkeit in Brüssel erfolgte, als im März 1995 die belgische Polizei eine Razzia gegen das Netzwerk der GIA in Belgien durchführte und seine Familienmitglieder sowie die beiden Agenten, Yasir und Amin, verhaftet wurden. Omar selbst entkam der Verhaftung, doch seine Brüder wurden auch festgenommen. Omar flieht nach Frankreich, und zwingt die DGS, ihn als ihren Agenten anzuerkennen. Er anerbietet sich, in die Ausbildungslager der arabischen Extremisten in Afghanistan einzudringen. Sein Kontrolleur von der DGS ist skeptisch. Dies ist noch keinem Spion gelungen, der es versuchte. Doch Omar erklärt sich bereit, den Versuch auf eigene Faust zu unternehmen.
Im afghanischen Trainingslager
Der grösste Teil der Autobiographie Omars befasst sich mit der Schilderung seines Weges in die Trainingslager, dem dortigen Leben und der Art der dortigen Ausbildung. Die Namen von Yasir und Amin dienen ihm als Schlüssel, um die Zulassungshürden zu überwinden, denn beide sind Absolventen der afghanischen Ausbildungslager. Er verbringt ein volles Jahr in Khaldan, einem der Lager in Afghanistan, um sich zum Mudjahedin (Kämpfer im Heiligen Krieg) ausbilden zu lassen. Seine Schilderung macht klar, dass er sich ganz dieser Ausbildung und dem Leben mit seinen Kameraden hingab.
Das Training war überaus hart. Wohl nur für junge Männer zu überstehen, die wirklich voll an den Jihad glaubten. Omar besitzt eine doppelte Identität als französisch sprechender Belgier und als Marokkaner. Im Trainingslager gelingt es ihm, seine belgische Identität zu unterdrücken und ganz seine marokkanischen und islamische zu leben. Seine Leidenschaft für Schusswaffen hilft ihm dabei. In dem Trainingslager sind sie in Mengen vorhanden in allen Variationen und Kalibern. Auch Munition ist in Fülle da. Die Ausbildung an vielen verschiedenen Waffen ist ein Hauptprogrammpunkt im Lager.
Kaum Kontakt mit Afghanen
Omars Aufenthalt fällt in die Jahre nach dem Abzug der sowjetischen Truppen. In Afghanistan kämpfen die "Warlords" gegeneinander, und die Taliban, unterstützt von Pakistan, haben ihren Aufstieg zur Macht gerade begonnen. Sie herrschen noch nicht in Kabul. Die Ausbildungslager in Afghanistan für Jihadisten fuhren mit ihrer Arbeit fort, obwohl der Glaubenskrieg in Afghanistan mit dem Abzug der Russen Anfang 1989 beendet war. Es gab weitere Glaubenskriege in Bosnien, in Tschetschenien, in Tadschikistan und Usbekistan, in Kaschmir und in Somalia, auf den Philippinen, für die man sich ausbilden konnte. In den Lagern taten dies nicht nur Araber, sondern auch Angehörige all dieser Völker.
Afghanen waren in Khaldan nur als Küchenmannschaft vertreten. Ein Verbot bestand, mit ihnen zu sprechen. Auch afghanische Politik war ein verbotenes Thema. Afghanistan als Gastland sollte nicht in Frage gestellt werden, und wer mit Afghanen Kontakt aufnahm, war bereits durch diesen Kontakt mit einer der vielen einander bekämpfenden Gruppen identifiziert. Auch von Osama bin Laden erfuhr Omar wenig, obwohl bekannt war, dass er die Ausbildungslager mit Geld unterstützte. Ibn Scheich al-Liby war der Kommandant seines Lagers und ein enger Vertrauter bin Ladens. Doch dieser selbst kam erst 1996 vom Sudan nach Afghanistan.
Islamistische Indoktrinierung
Es bestand eine enge Kameradschaft zwischen den nur durch ihren ideologisierten Islam geeinigten Aspiranten auf den Titel eines Mudjahedin aus vielen Ländern. Die islamistische Indoktrinierung, stets nach den Auslegungen der "Takfiri"-Radikalen, nahm beinahe ebenso viel Raum ein wie die physische und die Waffenausbildung.
Nach einem Jahr der Grundausbildung in dem Lager von Khaldan wurde Omar in ein zweites Ausbildungslager, Darunta, versetzt. Dort hätte er eine Schulung in Sprengstoffen durchmachen sollen. Doch der Hauptsachverständige hatte sich mit einer Bombe verletzt und lag im Spital in Pakistan. Omar war deshalb freier, um sich auf eigene Faust weiter auszubilden, zum Beispiel an einem Panzer, der zu diesem Zweck in dem Lager zur Verfügung stand. Dann erhielt er Befehl, nach Europa zurückzukehren und sich dort für Anweisungen bereit zu halten.
Zurück nach Europa
Die Rückreise nach Europa war für ihn äusserst gefährlich, weil die pakistanischen Behörden und Geheimdienste nach Arabern Ausschau hielten, die in den Jihad verwickelt waren, um sie an die Amerikaner auszuliefern. Die Pakistani sahen die afghanischen Taliban als ihre Schützlinge an. Sie hofften, über sie Einfluss in Afghanistan zu gewinnen. Doch die arabischen Jihadisten wollten die Taliban gerne den Amerikanern übergeben, um ihre Beziehungen mit Washington zu pflegen. Omar kommt durch, sauber rasiert und mit Sonnenbrille.
Später arbeitet er in London mit dem französischen und dem englischen Geheimdienst in einer von beiden Diensten geleiteten Doppelaktion, um mehr über die Aktivitäten in den radikalen Moscheen in London zu erfahren. Seine Schilderungen gewähren Einblicke in das stets schwierige Zusammenspiel der Engländer mit den Franzosen und in die unterschiedlichen Absichten und Vorhaben der radikalen Prediger in den damaligen Londoner Moscheen. Den Engländern geht es vor allem darum, die Prediger dabei zu überführen, dass sie zur Gewalt gegen Grossbritannien aufrufen. Doch diese kennen das Spiel und vermeiden allzu heftig gegen Grossbritannien zu hetzen. Den Franzosen liegt mehr daran, die Gründe des Erfolgs dieser Prediger bei ihren muslimischen Zuhörern zu begreifen, in der Hoffnung ihren Einfluss abzubauen.
Ausstieg
Der englische Geheimdienst nützte die Informationen Omars, doch traute er ihm nicht. Nach den Bombenangriffen auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Dar es-Salam durch die Gruppe bin Ladens am 7.August 1998 wird den Briten der Mann mit den beiden Identitäten allzu gefährlich. Er könnte ja auch ein Doppelagent für sie selbst und für bin Laden gewesen sein. Sie legen ihm nahe, aus London zu verschwinden. Die Franzosen versprechen ihm eine neue Identität und sicheres Leben in Deutschland. Doch ihre Versprechen verwirklichen sich nicht.
Es ist, Jahre später, ein Kontakt mit der BBC, der "Omar Nasiri" darauf bringt, seine Erfahrungen und Abenteuer öffentlich darzulegen. Zuerst Interviews, am Ende wird ein Buch daraus, aus dem man viel über die Techniken der Geheimdienste lernen kann, aber auch - wenigstens rückblickend - die Erkenntnis gewinnt, dass die Welle des Jihadismus über viele Jahre hin langsam anstieg, bevor sie am 11. September 2001 über New York schwappen sollte.
Es begann vor 20 Jahren
Dieser Anstieg fand statt in ehemaligen Kolonien und Randgebieten: Algerien (FIS und GIA), Afghanistan (Jihad gegen Russland), Somalia (Scharia Courts und Schabab), Philippinen (Abu Sayaf), Russland (Tschetschenien und Kaukasus), Ägypten (Takfir wa Hidschra), Tadschikistan (Kuliyabi) usw. Doch wurde er als Einzelerscheinung in einem jeden Land gesehen und bewertet, nicht als Gesamtwelle.
Der Einblick in das Lagerleben von Afghanistan nach dem Ende des Krieges gegen die Russen, den Omar Nasiri gab, hätte vermitteln können, dass die Jihadisten alle zusammenhingen und auf Grund ihrer Ideologie das Potential besassen, grossflächig zum Zuge zu kommen. Der weltweite Aufstand, den man heute zu erkennen beginnt und zu spüren bekommt, war bereits damals, 20 Jahre zuvor, in Bewegung geraten.
* Omar Nasiri: Inside the Jihad, My Life with al-Qaeda, A Spy's story. Basic Books, New York
Deutsche Ausgabe: Omar Nasiri, Mein Leben bei al-Qaida, Die Geschichte eines Spions, DVA und Spiegel Buchverlag 2006