Die drei recht unterschiedlichen Verfasser schildern ihren Weg zu radikalen Formen des Islamismus. Beschrieben wird ebenso ihre Rückkehr entweder zu einem Normal-Islam oder zur Distanzierung von allen islamischen Glaubensvorstellungen.
Verstehen, was unverständlich erscheint
Der Reiz dieser Bücher und die Lehren, die aus ihnen gewonnen werden können, liegt um guten Teil darin, dass sie artikuliert, ausführlich und daher auch nachvollziehbar erzählen, was normalerweise nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen und mit der Frage weitergegeben wird: "Wie konnten sie nur?"
Aus dem gleichen Grund sind diese Bücher auch lehrreich. Nicht nur in dem Sinne, dass sie viele Schilderungen von Personen und Geschehnissen enthalten, welche die islamistische Szene in Europa und in der islamischen Welt betreffen, sondern auch und viel mehr, weil sie die Wege nachzeichnen, auf denen die Radikalisierung zustandekommt und auch solche, die ihr ein Ende bereiteten.
Suche nach Zugehörigkeit und Identität
Natürlich gibt es dabei nicht nur einen Weg. Man kann nicht einmal einen typischen Weg nachzeichnen, der für alle oder für die grosse Mehrheit gilt. Dennoch gibt es Ansatzpunkte, die überall zu erkennen sind. Die Suche nach Zugehörigkeit und Identität ist sicher der wichtigste von allen.
Der Fall des Maajid Nawaz
Drei Bücher, drei Fälle. Es ist der Mühe wert, alle drei nachzuzeichnen zum Nutzen von allen jenen, die nicht die Zeit haben, die drei Bücher zu lesen, und auch - besser noch - für jene, die sich anregen lassen, eines der drei Bücher, oder alle drei, in die Hand zu nehmen. Hier in einer ersten Rezension das Buch von
Maajid Nawaz: Radical, My Journey from Islamic Extremism to Democratic Awakening. WH Allen 2012.
Es handelt sich um eine recht ausführliche Autobiographie. Der Verfasser stammt aus einer Familie pakistanischer Herkunft und wuchs im britischen Southend (Essex) auf. In seiner Jugendzeit gab es dort nur wenige Familien asiatischer Herkunft. Doch zu Beginn der 90er Jahre, als er 15 Jahre alt war, gab es starke rassistische Vorurteile.
"Paki-Bashing" in Essex
Das Paki-Bashing (Pakistaner Verprügeln) war beliebt bei den Street Gangs der Jugendbanden. Wenn Skin Heads aus London ankamen, konnte es lebensgefährlich werden. Dies geschah dem 14-jährigen Maajid und seinem etwas älteren Bruder. Sie fanden sich von Skin Heads, ausgewachsenen Männern umringt, die sie mit Nazi Gruss umstanden und zu ihren mit Nägeln gespickten Schlaghölzern griffen. Die Lage der beiden umzingelten Pakistaner war bedrohlich. Sein älterer Bruder fand einen Ausweg. Er trug einen grünen Rucksack. Er rief den Skin Heads zu, die beiden seien nicht alleine, sie erwarteten Freunde. Er wolle mit den Angreifern reden. Ihr Anführer ging darauf ein. Er traf sich und flüsterte eine Zeitlang mit Othman, dem älteren der Brüder. Dann begab sich der Skinhead-Chef zu seiner Mannschaft. Sie redeten kurz miteinander und gingen dann fort.
Wie hatte Othman dies erreicht? Er erklärte seinem kleinen Bruder: `Ich habe ihnen gesagt: "Ich bin Muslim, in meinem Rucksack habe ich eine Bombe. Ich fürchte den Tod nicht. Wir alle Muslime fürchten uns nicht vor dem Tod. Wenn ihr uns angreift löse ich die Bombe aus. Ich sterbe und ihr sterbt." Sie zogen vor, nicht zu sterben. In dem Rucksack war keine Bombe. Doch das wussten sie nicht.
Die Macht des Islams
Für den jügeren Bruder war dies eine Manifestation der Macht des Islams. Sogar seine brutalsten Feinde fürchteten den Islam. Dem folgte kurze Zeit später ein Flugblatt, das ein Medizinstudent pakistanischer Herkunft vor den Toren der lokalen Universität verteilte. Es handelte von dem blutigen Streit um die Moschee von Ayodhiya, Babri Masjed, in Indien, die am 6. Dezember 1992 von Hindu-Aktivisten zerstört worden war. Unruhen folgten, denen in Indien gegen 2000 Muslime und Hindus, meistens Muslime, zum Opfer gefallen waren.
Hizb ul-Tahrir, die "Befreiungspartei"
Über das Flugblatt gelangte der junge britische Bürger pakistanischer Herkunft an HT, Hizb al-Tahrir, eine radikale muslimische Partei, damals legal in Grossbritannien. HT war 1953 von dem palästinensischen Richter im jordanischen Exil, Taqiuddin Nabahani, gegründet worden war. HT predigt Gewaltlosigkeit, will jedoch sein ultimatives Ziel, ein Kalifat für alle Muslime, auf dem Weg der Unterwanderung der bestehenden muslimischen Staaten erreichen, deren heutige Führung von den HT Aktivisten als "heidnisch" einstuft wird.
Die Ideologie der Partei ist in einem Buch des Gründers niedergelegt. Sie steht jener des Gründervaters aller Islamisten, des Ägypters Sayid Qotb, nahe. Wie Qotb erklärt sie alle Muslime, die nicht der von ihr entwickelten Ideologie folgen, als Ungläubige (Fachwort "takfir" = Ungläubigkeitserklärung).
Die Strategie von HT beruht auf der Bildung von Studienzirkeln, in denen die Ideologie der Gruppe gelehrt und vertieft wird, in der Absicht, die Eingeweihten in politische und soziale Führungspositionen zu bringen, von denen aus es zur Machtergreifung in islamischen Staaten kommen soll. Deshalb hat HT versucht, Streitkräfte von islamischen Staaten zu infiltrieren, mit dem Ziel durch einen Staatstreich zur Macht zu gelangen.
Erfolgreicher Aktivist
Maajid Nawaz steigt rasch auf in den britischen Studienkreisen der Organisation. Er zieht nach London, um zu studieren. Er findet eine Wohnung zusammen mit Gleichgesonnenen, und er betätigt sich vor allem als erfolgreicher Werber unter islamischen Mitstudenten für die radikale Gruppe. Das von ihr angestrebte Kalifat soll sich an dem Vorbild der staatlichen Ordnung ausrichten, wie sie nach dem Islamverständnis der Gruppe, dem Propheten von Gott eingegeben worden sei. Dies beinhaltet auch eine weltweite Hegemonie des "Islams", in der ideologisierten Islam-Deformation, die den Anhängern von HT vorschwebt. Der "hochmütige" Westen und seine ganze heute weltweite Macht würde "unterjocht".
Eine "bessere Welt" ist prophezeit. Verheissungen, die auf begabte und ehrgeizige Jugendliche, die Diskrimination erfahren haben, als eine Erlösung wirken können.
Aufgaben und hohes Ziel sind gestellt. Sie sollen gemeinsam mit Gleichgesonnenen erreicht werden. Man ist bereit, für sie zu kämpfen und zu sterben. Maajid Nawaz ist so sehr von diesen Idealen eingenommen, dass er seine Studien als Nebensache betreibt. Hauptsache wird für ihn die Tätigkeit für HT. Er entdeckt seine Fähigkeit, feurige Reden vor grossen Ansammlungen von Menschen zu halten. Das Internet ist noch nicht ein Medium der Massenkommunikation.
Im Dienst der Partei
Die Partei stellt ihm Aufgaben, unter anderem schlägt sie ihm vor, bei der Ausbreitung der Parteiideologie in Pakistan mitzuhelfen. Dort, so der Plan, sollen junge Offiziere für HT geworben werden, mit dem Ziel, einen Staatsstreich durchzuführen - möglicherweise parallel zu einem zweiten in den zentralasiatischen Staaten jenseits des Hindukush.
Diese sind soeben aus der Sowjetunion entlassen und bereit, zum Islam zurückzukehren. Pakistan und Zentralsien zusammen, das gäbe den Grundstock zum Kalifat ! Einige Jungoffiziere lassen sich auch bekehren. Doch die Verschwörung wird aufgedeckt, nachdem der Verfasser aus Pakistan wieder heimgekehrt war.
In der Faust der ägyptischen Staatssicherheit
Maajid Nawaz wird auch nach Ägypten entsandt. Er hat inzwischen eine gleichgesonnene Frau aus HT Kreisen geheiratet. Er kommt dort an am Tag nach dem Anschlag in New York, dem 9. September 2001. In Alexandria soll er arabisch studieren und gleichzeitig beim Aufbau neuer HT Zellen mithelfen. Doch die ägyptischen Geheimdienste haben ihn im Visier. Er wird verhaftet mit den üblichen Methoden schwerer Misshandlungen, die er eindrücklich schildert.
Die Weisungen der Partei für den Fall von Verhaftung lauten: zugeben, dass man zu HT gehört, aber dann schweigen. Man soll bereit sein, als Märtyrer für den Islam zu sterben. Hilfe durch die Partei kann man nicht erwarten, nicht einmal Unterstützung für hinterbliebene Frauen und Kinder.
Die schlimmste Folter bleibt dem Studenten und Aktivisten erspart, denn er ist ein englischer Bürger. Doch sein Verhörleiter sorgt dafür, dass er die Schreie seiner Freunde und Kollegen unter der Folter anhört. Er verbringt gute vier Jahre in den ägyptischen Gefängnissen, bevor es dem englischen Konsul und Amnesty International gelingt, seine Freilassung zu erwirken.
Ein Prozess findet zwei Jahre nach seiner Festnahme statt. Er und 46 seiner Mitstreiter werden wegen Zugehörigkeit zu einer verbotenen Assoziation zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.
Das Gefängnis als Bildungsstätte
Die Loslösung von HT findet im Gefängnis statt. Majeed Nawaz kommt in Kontakt mit ägyptischen Intellektuellen, die auch Gefangene sind. Einige sind ideologische Gegner. Sie verhalten sich dennoch als humane Kollegen. Ein Mitglied von Ai in London, gläubiger Christ, setzt sich für ihn ein und bewirkt - gegen den Widerstand anderer Mitglieder - dass er zum "prisoner of conscience" erklärt wird.
Der Gefangene schaut kritisch zurück auf das Verhalten der Führung von HT. Er trifft im Gefängnis Anhänger anderer Ideologien, sogar Kommunisten entpuppen sich als loyale und hilfsbereite Kameraden. Liberale ägyptische Politiker, die sich gegen Mubarak aufgelehnt haben, führen Gespräche mit ihm.
Es geht um Menschen, nicht um Doktrinen
Die Anschläge in der Untergrundbahn von London vom 7. Juli 2005 ereignen sich, während er im Gefängnis sitzt und werden dort diskutiert. Einige seiner Mitgefangenen wollen sie rechtfertigen. London befindet sich im Krieg gegen den Irak und hat dort mehr Tote auf dem Gewissen als die 52 Todesopfer der Londoner Anschläge. Doch Maajid Nawaz ist nicht einverstanden. Er erinnert seine Mitgefangenen daran, dass in London am 15. Februar 2003 mehr Leute gegen den bevorstehenden Irak-Krieg demonstriert hatten als in Ägypten, oder in Pakistan oder Saudi-Arabien. Es geht um Menschen nicht um Doktrinen, beginnt er zu erkennen.
Nawaz führt lange Gespräche mit Ayman Nour, dem Mann, der es gewagt hatte, in der ägyptischen Präsidentenwahl als Gegenkandidat gegen Mubarak aufzutreten. Er hatte dafür sechs Jahre Gefängnis erhalten. In den Gesprächen stellt sich heraus, dass Nour einstmals auch zu HT gehört hatte. Später hatte er die islamistische Gruppierung verlassen und war er ein liberaler Demokrat geworden. "Wie kam es dazu?" fragt Nawaz voll brennenden Interesses. Nour antwortet schlicht: "Ich wurde erwachsen!"
Wirkliche Islamstudien
Der Gefangene geht auch zur Schule bei den wirklichen Gottesgelehrten, die sich im Gefängnis befinden. Zum ersten Mal studiert er den Koran als Ganzes. Bisher hatten ihm die Ideologen von HT immer nur jene ausgewählten Passagen vorgeführt, die ihre Argumente bestätigten. Gleichzeitig liest er die englischen Klassiker und Grundschriften der modernen Literatur. Er liest Geschichtsbücher und erkennt, dass ein "Schari'a- Staat", das Kalifat, so wie die HT Ideologen es anstreben, nie existiert hat.
Der Kern der Ideologie, so wie er sie gelernt hatte, war: Islam ist Gerechtigkeit; alles was nicht Islam ist, ist unrecht. Doch nun begann er den Begriff Gerechtigkeit von dem Begriff Islam zu trennen. Es gab offenbar auch Gerechtigkeit ausserhalb des Islams. Er fand sogar eine Tradition vom Propheten, welcher über den christlichen König von Äthiopien sagte: "Ein König unter dem niemand Unrecht leidet".
Zurück in England
Der nun in seinen Sicherheiten erschütterte Islamist kommt nach beinahe fünf Jahren frei. Für eine letzte Nacht wird er noch einmal in das Foltergefängnis der Staatsssicherheit gebracht. Die Gefolterten schreien wie vor fünf Jahren. Er weiss nicht, was ihm geschehen wird. Manche seiner Mitgefangenen waren nach Abbüssung ihrer vom Gericht angeordenten Strafzeit einfach erneut gefangengenommen worden und blieben gefangen. Diese letzte Nacht geht schlaflos vorbei. Noch im Flugzeug nach London sitzt ein Offizier der ägyptischen Staatssicherheit. Er verschwindet erst bei der Ankunft.
Loslösung unter Schmerzen
Eine trockene Inhaltsangabe vermag nicht, die emotionalen Gehalt der Autobiographie zu spiegeln. Dazu muss man sie vollständig lesen. Vorläufig bleibt Nawaz in der Organisation, die ihn als heimgekehrten Helden feiert. Doch er stellt Fragen, sich selbst und seinen Mit-Islamisten. Im Zentrum bleibt: gibt es Gerechtigkeit ausserhalb der Scharia? Wenn ja, kann es keinen Anspruch geben, die Scharia der Welt aufzudrängen, weder mit gewaltsamen noch mit friedlichen Mitteln.
HT will den Zurückgekehrten zu einem ihrer Chefs in Grossbritannien erheben. Doch er erklärt seinen Rücktritt. Er bleibt gläubiger Muslim. Doch an die Ideologie von HT kann er nicht mehr glauben.
Einsamkeit
Der Austritt bedeutet auch eine Entfremdung zu seiner Frau, die er nicht überwinden kann. Er schläft in seinem Auto statt in seiner Wohnung und besteht sein fünf Jahre lang verschobenes Abschlussexamen an der Universität. All seine bisherigen Kameraden meiden ihn.
Doch er trifft einen seiner ältesten Freunde. Er hatte einst auch zu HT gehört, doch die Partei seit langem verlassen. Damals hatte der Verfasser mit ihm gebrochen. Nun kommen sie überein, dass etwas getan werden muss, um der Ideologie der Islamisten und der Jihadisten entgegenzutreten.
Die Quilliam Stiftung
Daraus wurde die Quilliam Stiftung, benannt nach William Quilliam (1856-1932), dem Gründer der ersten Mochee in Grossbritannien. Die Stiftung ist ein "Think tank", dazu bestimmt, die Ideologie des Islamismus zu hinterfragen. Dies geschieht zur Hauptsache auf dem Weg der genaueren islamischen Theologie und Glaubensgeschichte. Es lässt sich aufzeigen und dokumentieren, dass der Islam sich entwickelt hat, durch den Raum und durch die Zeit.
Zugleich gab es immer und gibt es auch heute noch eine grosse Menge von unterschiedlichen Islam- Verständnissen und Meinungen innerhalb des Islams. Dies lässt sich nachweisen. Sobald diese Vielfalt erkannt wird, fällt die These von dem einen einzigen "wahren" Islam in sich zusammen. Mit ihr fällt das "takfir", die Ungläubigkeitserklärung für alle jene, die nicht der vorgegebenen Ideologie folgen.
Evolution und Religion
Entwicklungen sind erkennbar. Wenn es sie gegeben hat, besteht auch kein Grund, dass es sie nicht weiterhin geben soll. Die heutigen Muslime benötigen ein Islamverständniss, das in der heutigen Welt Sinn gibt, nicht eine ahistorische und utopische Konstruktion, die auf die Zerstöung der heutigen Welt ausgeht. Dies versuchen die Fachleute der Stiftung zu erarbeiten und zu erweisen, durchaus auf Grund der vorliegenden theologischen Quellen und Grundlagen. Zugleich tritt die Stiftung auf gegen Islamophobie in der westlichen Welt. Sie sucht deutlich zu machen, dass diese einen eigentlichen Nährgrund bildet, auf dem die islamistische Ideologie wächst und gedeiht.
Maajid Nawaz: Radical, My Journey from Islamic Extremism to Democratic Awakening. WH Allen 2012.