Seit gut neun Monaten regieren die Sozialisten mit absoluter Mehrheit, diese allein aber sichert keine Stabilität. Ministerpräsident António Costa hat bisher die stattliche Zahl von zwölf Abgängen aus der noch jungen Regierung hinnehmen müssen. Schon wird darüber spekuliert, wie lange diese Legislaturperiode wohl dauert.
Die Opposition im Land sei «wütend», sagte Portugals sozialistischer Regierungschef, António Costa, Mitte Dezember in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin «Visão». Sie habe sich mit dem Ausgang der Parlamentswahl vom 30. Januar nicht abgefunden, müsse sich aber damit abfinden, dass seine Regierung vier Jahre halten werde. Costas Partido Socialista (PS) hatte bei der vorgezogenen Parlamentswahl überraschend die absolute Mehrheit im Parlament errungen. Sie ist damit, anders als in den sechs Jahren nach Costas Antritt als Regierungschef im Herbst 2015, nicht mehr auf die Duldung durch kleinere linke Parteien angewiesen. Im Interview sprach Costa nun so, als habe ihn diese Mehrheit den Blick für einige Probleme in den eigenen Reihen getrübt.
Vorerst keine «Atombombe»
Er zog, wie nicht anders zu erwarten, eine positive Bilanz der neun Monate seit dem Antritt der Regierung, zählte Erfolge auf und warf der Opposition die Schaffung von Soundbytes um Nebensächlichkeiten vor. Hätte Costa vor dem Interview einen Blick in eine Kristallkugel werfen können, hätte er sich womöglich vorsichtiger geäussert. Zum Jahreswechsel haben vor allem die rechten Oppositionsparteien gefrohlockt.
Costas nunmehr dritte Regierung seit 2015 war mit 17 Ministerinnen und Ministern und 36 Staatssekretärinnen und -sekretären angetreten. Er hat schon einen Minister und eine Ministerin sowie zehn StaatssekretärInnen verloren – und dürfte über die Festtage nicht richtig zur Ruhe gekommen sein. Ende Dezember verlor er eine Schlüsselfigur in seinem Kabinett, nämlich den mitunter als «enfant terrible» apostrophierten Minister für Infrastruktur und Wohnungswesen, Pedro Nuno Santos, vom linken Flügel des Partido Socialista (PS). Eine Dringlichkeitsdebatte im Parlament forderte der bürgerliche Partido Social Democrata (PSD), stärkste Oppositionspartei. Während die junge Iniciativa Liberal (IL) einen Misstrauensantrag stellte, forderte die rechtsextreme Chega die Auflösung des Parlaments, im Politjargon oft instinktlos als «Einsatz der Atombombe» bezeichnet, durch Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa.
Noch im alten Jahr schloss der oft schlicht «Marcelo» genannte Präsident den Einsatz der «Atomwaffe» (er selbst benutzte den Begriff) vorerst aus, unter anderem mit der Begründung, dass Portugal derzeit Stabilität brauche und sich durch Neuwahlen nicht viel ändern werde. Er äusserte jedoch die Erwartung, dass Costa 2023 eine Lösung für die weitere Führung der Regierung präsentieren werde.
Kettenreaktion der Rücktritte
Minister Santos reagierte mit seinem Rücktritt auf eine Affäre um die am Vortag zurückgetretene Finanz-Staatssekretärin Alexandra Reis und um die Staatsairline TAP, deren Verwaltungsrat sie bis Februar angehört hatte. Als Minister war Santos für die TAP mit zuständig, und diese ist im Gerede, weil sie in Schwierigkeiten steckt. Mit einem 3,2 Mrd. Euro schweren Hilfspaket will sie die Regierung für die Privatisierung fit machen.
Vor diesem Hintergrund löste kurz vor Weihnachten die Nachricht, dass Staatssekretärin Reis die TAP gegen eine Abfindung von 500’000 Euro verlassen hatte, einen Sturm der Empörung aus. Immerhin hatte sie unter anderem bei Kürzungen der Saläre und beim Personalabbau mitgewirkt. Sie selbst fiel die Treppe hoch und waltete ab Juni als Präsidentin des für die Verwaltung und Sicherheit des nationalen Luftraums zuständigen staatlichen Unternehmens NAV, ehe sie Anfang Dezember ins Finanzministerium wechselte.
Mit der Frage, ob sie die Abfindung zu Recht erhalten hatte, befassen sich noch die Fachleute. Von dieser Zahlung wollte weder Minister Santos noch Finanzminister Medina gewusst haben. Und die TAP hatte erst knapp drei Monate zuvor für Fassungslosigkeit gesorgt, als bekannt wurde, dass sie neue Dienstwagen für Führungskräfte bestellt hatte – 79 BMW, aus der Sicht des steuerzahlenden Volkes eine Schamlosigkeit.
Ein neuer Flughafen? Dürfen es auch zwei sein?
Aus einem ganz anderen Grund hatte Minister Santos schon Ende Juni für einen Eklat gesorgt. Seit Jahren platzt der Flughafen von Lissabon aus allen Nähten. Seit über 50 Jahren geht ein Gezerre um einen neuen Airport – als Ersatz für den jetzigen oder als «Filiale». In wenig mehr als 20 Jahren haben die Regierungen schon drei Standorte ausgeguckt, ausser Spesen ist bisher aber nichts gewesen. Ende Juni kündigte Santos im Alleingang den Bau von gleich zwei Flughäfen an. Als Ergänzung zum bisherigen Flughafen sollte zunächst die Luftwaffenbasis in Montijo am südlichen, Lissabon gegenüber liegenden Tejo-Ufer auch dem zivilen Flugverkehr dienen; bis 2035 sollte ein völlig neuer Flughafen bei Alcochete, rund 45 Kilometer östlich von Lissabon, in Betrieb gehen.
Grösser hätte die Verblüffung kaum sein können. Regierungschef Costa pfiff seinen Minister zurück und hatte Mühe, dessen weitere Zugehörigkeit zum Kabinett zu rechtfertigen. Santos hatte seit 2015 verschiedene Ämter in der Exekutive innegehabt. In der Zeit der PS-Minderheitsregierungen hatte er als Kontaktmann zu den Mehrheitsbeschaffern fungiert. Solche Mittlerdienste sind jetzt, da sich Costa auf eine absolute Mehrheit stützen kann, natürlich nicht mehr erforderlich. Santos gilt, dank starkem Rückhalt in der Partei, derweil als möglicher Nachfolger für Costa.
Neue Prioritäten
Costa scheint andere, weniger linke Prioritäten zu setzen. Hatten sich seine Regierungen ab 2015 vor allem von der sozialen Seite gezeigt, nicht zuletzt auf Druck der linken Mehrheitsbeschaffer hin, so gilt ihr Augenmerk nun offenbar mehr den Staatsfinanzen, da die Zinsen für die öffentliche Schuld steigen.
Im Oktober leistete der Staat immerhin, angesichts der Inflation, an alle Bezieher monatlicher Bruttoeinkommen bis 2’700 Euro eine einmalige Zahlung von 125 Euro. Pensionäre bekamen eine halbe Monatsrente extra, aber nicht ganz gratis. Wegen dieser Sonderzahlung sollen die Renten 2023 nur halb so stark steigen, wie sie nach einer festgelegten Formel hätten steigen sollen, und das wirkt sich auf künftige Erhöhungen aus. Costas Finanzminister stand als Trickser da.
Nicht zuletzt, weil infolge der Inflation das Aufkommen an indirekten Steuern steigt, ist immerhin das Haushaltsdefizit unter Kontrolle. Costa rechnet für das ganze Jahr mit einem Defizit von maximal 1,5 Prozent des Inlandprodukts, statt der ursprünglich veranschlagten 1,9 Prozent. Costas Regierung nimmt Streiks im Transportsektor und Grossdemonstrationen von Lehrkräften in Kauf.
Chaotische Verhältnisse in Spitälern
Mit der Lösung einiger drückender Probleme ist die Regierung derweil überfordert. Zum Teil chaotische Zustände herrschen in einigen staatlichen Spitälern, wo Notaufnahmen hier und da wegen Personalmangels immer wieder nicht zur Verfügung stehen. Wellen schlug Ende August der Fall einer hochschwangeren Frau aus einem südlichen Vorort von Lissabon, die rund 100 Kilometer zurücklegen musste, um in einem Spital aufgenommen zu werden. Einige Tage später starb eine schwangere Frau beim Transport zwischen zwei Spitälern in der Hauptstadt, woraufhin die Ministerin für Gesundheit, Marta Temido zurücktrat. Sie hatte sich im Kampf gegen die Covid-Pandemie noch recht gut geschlagen.
Im November war der Staatssekretär im Amt des Ministerpräsidenten, Miguel Alves, nach weniger als zwei Monaten im Amt aus der Regierung ausgeschieden. Gerade hatte ihn die Staatsanwaltschaft beschuldigt, als ehemaliger Bürgermeister der Kleinstadt Caminha, im hohen Norden des Landes, beim geplanten Bau eines Ausstellungszentrums öffentliche Mittel veruntreut zu haben. Costa war bei der Besetzung des Postens anscheinend nicht sehr wählerisch. Mit solchen Vorkommnissen wächst die Gefahr, dass ein Generalverdacht gegen die politische Führung aufkommt, und davon profitieren nur die Rechtspopulisten.
Verliert der Präsident die Geduld?
Die Regierung will zur Tagesordnung übergehen. Sie hat Minister Santos ersetzt und dabei sein Ressort in zwei neue Ministerien zweigeteilt. Am Donnerstag wies das Parlament den Misstrauensantrag der Iniciativa Liberal zurück. Am gleichen Tag erlitt die Regierung einen weiteren Abgang, diesmal den einer Staatssekretärin für Landwirtschaft, Carla Alves, die erst am Vortag angetreten war. Sie reagierte auf eine Affäre um ihren Mann, einen früheren Lokalpolitiker, in deren Zuge die gemeinsamen Konten eingefroren worden waren. Und wieder stellt sich die Frage, wer wovon gewusst hat.
Wie geht es weiter? Laut Verfassung kann Präsident Rebelo de Sousa das Parlament auflösen, wenn dies nötig ist, um «das normale Funktionieren» der Institutionen zu sichern – eine Bestimmung, die Ermessensspielraum lässt. «Marcelo gibt Costa ein Jahr, um die Legislaturperiode zu sichern», lautete am Freitag die Schlagzeile der Wochenzeitung «Expresso». Vor Journalisten am Freitag hierauf angesprochen, wollte «Marcelo» dies nicht dementieren, er drückte sich aber anders aus. Er habe der Regierung «mehr Zeit» gegeben, um wichtige Aufgaben zu erfüllen, wie die Anwendung von EU-Hilfsgeldern und die «politische Stabilisierung».
Eigentlich stammt «Marcelo» aus dem Lager des bürgerlichen PSD, wo manche Mitstreiter von einst finden, dass er sich mit den Sozialisten bisher zu gut verstanden habe. Nur bietet der PSD wenig mehr als Soundbytes. In der Wählergunst lagen die Sozialisten kurz vor dem jüngsten Wirbel laut einer Umfrage jedenfalls noch vorn, nur ihre absolute Mehrheit würden sie im Falle von Neuwahlen verlieren. Wenn die grösste Opposition nicht bis 2026 auf ihre Chance warten will, muss sie auf weiteren Verschleiss der Sozialisten hoffen und selbst an Glaubwürdigkeit gewinnen.
Manche Kommentatoren sehen schon die Zeit für einen Führungswechsel bei den Sozialisten gekommen. Costa wäre für den Ruhestand aber noch zu ehrgeizig. Er gilt als denkbarer Anwärter auf einen Posten bei der EU.