Seit Monaten steht die Sozialhilfe in unserem Land medial im Fokus. Während hier für Reformen plädiert wird, bilden sich dort verhärtete Fronten gegen Anreizumbau, oder es werden gar Abbaupläne lanciert. Worum geht es eigentlich?
Prügelknabe Sozialhilfe
Seit der Fall Carlos 2013 Schlagzeilen produziert hat, wird erbittert darüber diskutiert, ob Wohlfahrt statt Schuld und Sühne das richtige Rezept sei. Während für die Kritiker die ausbezahlten Leistungen schlicht zu hoch sind, beharrt die andere Seite auf dem gegenteiligen Standpunkt: sie seien gerechtfertigt, ja sollten sogar erhöht werden. Hier wird von falschen Anreizen und untragbaren Kosten für Gemeinden gesprochen, dort von knapp bemessener Überlebenshilfe und gerechter Lastenverteilung.
«Wo Rauch ist, da ist Feuer», meint der Volksmund. Urteilen Sie selbst: Wenn am Zürichsee eine Sozialhilfe beziehende Familie mit zwei Kindern monatlich z.B. 5’610 Franken vom Staat (resp. von den Steuerzahlenden) erhält, entspricht das den KOS-Richtlinien. Dieser Betrag setzt sich zusammen aus Grundbedarf/Lebensunterhalt 2’110 Franken, Wohnkosten (situativ) 2’100 Franken, medizinischer Grundversorgung 1’400 Franken. Jährlich beläuft sich dieses steuerfreie «Einkommen» auf 67‘320 Franken. Die vergleichbare, für sich selbst aufkommende Familie muss mindestens 75‘000 Franken (je nach Steuersatz) verdienen, damit ihr nach Abzug der Steuern gleich viel Geld zur Verfügung steht.
Stolpersteine
Die unterschiedlichen Meinungen haben verschiedenste Gründe. Das beginnt wohl schon bei den Richtlinien für die Behörden. «Sozialhilfe steht allen Einwohnerinnen und Einwohnern der Schweiz offen. Massgebend ist die Notlage, nicht die Ursache.»
Diese offene Formulierung ist unglücklich. Sie könnte suggerieren: Komme ich in eine (allenfalls selbstverschuldete) Notlage, so wird mir ja geholfen. Diese Anspruchsgarantie kann falsche Anreize schaffen.
Mentalitätsgraben?
Missbräuchlicher Bezug nährt den Verdacht, dass da und dort Geld zu grosszügig verteilt wird. Zusätzlich fällt auf, dass offensichtlich ein Mentalitätsgraben das Land durchzieht. Warum geben viele städtische Agglomerationen pro Kopf deutlich mehr Geld aus als ländliche Gegenden? Ist es die Mentalität der Menschen, die hier aus Schamgefühl eher still dulden und dort ohne Hemmungen zulangen? Sind es die Risikogruppen, die es in die «attraktive» städtische Anonymität zieht? Auf der anderen Seite: Spielt der unterschiedliche Umgang mit des Steuerzahlers Geld gar eine wichtige Rolle?
Eine Studie aus 15 Zürcher Gemeinden stellt fest, dass es offensichtlich sehr grosse Unterschiede gibt, was etwa die durchschnittliche Bezugsdauer oder die Handhabung von Rückforderungen betrifft. Auch dies weist darauf hin, dass die persönliche Interpretation der Richtlinien durch die Verantwortlichen sehr unterschiedlich ist. Daran sind dann wohl nicht die harsch kritisierten Vorgaben schuld. Und natürlich: Der Bericht ist so vertraulich, dass er seinen Zweck gar nicht erfüllen kann.
Medial aufgeblasene Einzelfälle
Es sind Einzelfälle, die polarisieren. Die arbeitsfähige, aber arbeitslose Sozialhilfebezügerin, die es «menschenverachtend» fand, dass sie während vier Wochen einen Basisbeschäftigungskurs absolvieren sollte und den Entscheid der Behörde bis vor Verwaltungsgericht anfocht (woher kam das Geld für den Anwalt?) – sie blitzte ab. Auch das Bundesgericht urteilte kürzlich, dass sich – wer die Teilnahme an einem Arbeitsprogramm verweigert – die Streichung von Sozialhilfe gefallen lassen muss.
«Hanfanbau, Jaguar und Sozialhilfe» titeln Medien, seit aus Regensdorf bekannt wurde, dass ein jüngerer Mann dort von kriminellen Deals gelebt und gleichzeitig Sozialhilfe bezogen hatte, die ihm trotz renitentem Verhalten durch die kommunale Behörde nicht gestrichen worden war. Nun wurde der Jaguarfahrer und mutmassliche Täter eines Tötungsdeliktes verhaftet. Und wie reagiert die fehlbare Sozialbehörde? Sie ärgert sich über das Datenleck und erwägt Strafanzeige gegen unbekannt.
«Immer mehr Menschen in der Sozialhilfe», lesen wir. 2013 sollen es 257‘000 Menschen gewesen sein, was einer Quote von 3,2 Prozent entspricht. Diese Quote ist seit Jahren mehr oder weniger unverändert. Grund für den Anstieg wäre in diesem Fall schlicht das Bevölkerungswachstum.
Die SKOS im Brennpunkt
Die Richtlinien des privaten Vereins SKOS (Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe) werden in der Schweiz von der Mehrheit der zuständigen Behörden (Kantone, Städte, Gemeinden) übernommen. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass dessen Tarife und Definitionen gelegentlich für Frust und Wut sorgen. Die Co-Präsidentin der SKOS zeigt dafür wenig Verständnis. Auch nicht gegenüber dem Vorwurf, die SKOS-Interpretation von Armut hätte eine eigenartige politische Färbung. Die moderne Sozialhilfe soll sich nach SKOS-Meinung nicht nur auf die materielle Grundsicherung beschränken. Worauf denn sonst noch? Armut mutiert auf diese Weise zu einem individuell definierbaren Existenzminimum.
Diese Richtlinien sind es, die nach der Meinung vieler Behördenmitglieder überarbeitet gehören. Damit soll sichergestellt sein, dass Sozialhilfegelder jene Menschen, die von staatlicher Unterstützung leben, nicht besser stellt als ihre hart arbeitenden Nachbarn, oft Working Poors genannt, die sich ohne solche Auffangnetze durchkämpfen. Fehlanreize sollen beseitigt werden. Jetzt hat die SKOS schon mal eine verbandsinterne Vernehmlassung angekündigt und einen Fragenkatalog an rund 900 Gemeinden verschickt. Deren Auswertung soll ab 2016 zu revidierten Richtlinien führen.
Umbau der SKOS
Uneinigkeit herrscht über die einzuschlagende Richtung. In der «NZZ am Sonntag» wird von Sozialromantikern gesprochen, die ihre Richtlinien neu gar für alle Kantone und Gemeinden verbindlich erklären möchten.
Dagegen wehren sich SVP, FDP und GLP; sie streben genau das Gegenteil an. Im Kanton Zürich erwägen sie jetzt gar den Austritt des Kantons aus der SKOS. Dazu bräuchte es allerdings eine Änderung des kantonalen Sozialhilfegesetzes.
Noch am ehesten einig zu sein scheint man sich in der Meinung, das Anreizsystem der SKOS, speziell die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber renitenten Klienten, zu revidieren. Die Kürzung um 15 Prozent des Grundbedarfs wird als zu gering betrachtet, eine Erhöhung auf 25 Prozent dürfte breite Zustimmung erhalten.
Von der Sozialhilfe zur Sozialrente
Trifft es zu, dass die Sozialhilfe von der Überbrückungshilfe in Not immer mehr zu einer De-facto-Sozialrente mutiert? Diese These basiert auf dem Umstand, dass das Bundesamt für Statistik (BfS) kürzlich veröffentlichte, dass «in den letzten Jahren die mittlere Bezugsdauer der laufenden Sozialhilfefälle gestiegen ist». Dies deutet darauf hin, dass gegenwärtig vermehrt Langzeitbezüger in den Dossiers zu finden sind. Über die Hälfte dieser Menschen sind seit mehr als drei Jahren bezugsberechtigt.
Ein wichtiger Grund dafür scheint der Trend zu sein, dass viele über 50-jährige nicht mehr aus der Sozialhilfe herausfinden. Der Hintergrund: Die Anforderungen des Arbeitsmarktes und der restriktive Kurs der Invalidenversicherung (IV) bewirken zweierlei: Man muss heute fitter sein, um wieder eine Anstellung zu finden und man muss kränker sein, um eine IV-Rente zu erhalten. Dieser Befund wäre dann allerdings für einmal nicht der SKOS anzulasten.
Jugendliche Sozialhilfeempfänger
Gemäss Bundesamt für Statistik macht der Anteil der bis 25Jährigen schweizweit 8,2 Prozent aus, fast die Hälfte davon sind 18 bis 25jährig. Von dieser Gruppe wiederum haben 20 Prozent einen universitären Abschluss oder eine höhere Fachausbildung, 53 Prozent eine Berufsausbildung oder Maturität und 26,3 Prozent keine berufliche Ausbildung. Wer rechnet, realisiert, dass somit über 4’000 Universitätsabgänger und über 11‘000 Jugendliche mit Berufsausbildung/Maturität betroffen sind.
Da stellt sich dann nochmals die Frage der falschen Anreize. Es ist die Errungenschaft unseres hochentwickelten sozialen Netzes, die eine solche Situation überhaupt ermöglicht. Auf der anderen Seite sei die Frage erlaubt, ob man diesen Jugendlichen langfristig einen Dienst erweist. Eine Tellerwäscherkarriere startet anders. Zudem heisst es in den Richtlinien, wer objektiv zu einer Arbeit fähig sei, soll diese annehmen müssen und nicht Sozialhilfe fordern dürfen.
Reformziele kontra politische Dogmen
Dieser Beitrag kann nur einige Probleme der Sozialhilfe thematisieren. Es soll gezeigt werden, dass Reformen wichtig sind, die Vorstellungen dazu aber weit auseinanderdriften, entlang der bekannten politischen Schützengräben. In der Schweiz ist ein menschenwürdiges Dasein durch die Bundesverfassung garantiert. Wie dies erreicht werden soll, ist offen.
Die SKOS scheint ebenso unwillig zu echten Reformen wie die SVP zu einem vernünftigen Dialog. Bei allem Lärm ist der Grundgedanke der Sozialhilfe richtig. Nicht alle Vorwürfe an die SKOS sind berechtigt. Nicht alle populistischen konservativen Reaktionen versprechen sinnvolle Veränderungen. Um so wichtiger wäre es, wenn auf beiden Seiten nicht die Hardliner am Verhandlungstisch sässen.
Ende Februar 2015 hat sich nun auch der Bund nochmals mit dem Vorschlag eines Bundesrahmengesetzes in die Diskussion eingeschaltet. Nachdem der Ständerat erst 2013 eine Motion für ein nationales Rahmengesetz verworfen hat, insistiert der Bund aufgrund der verworrenen Lage. Es scheint, als gewinne die Überzeugung immer mehr Anhänger, dass das Gewirr kommunaler und kantonaler Interpretationen nicht mehr zeitgemäss ist.
Und zum Schluss: Richtlinien sind das eine. Eingehalten oder beachtet werden müssen sie durch die Verantwortlichen in den Behörden. Wo es da hapert, werden auch neue Gesetze nicht viel ändern. Die helvetische Kirchturmpolitik feiert Urstände.