Man stelle sich eine Klinik vor, in der ein Patient im Koma liegt, aber den Ärzten vormacht, er würde in jedem Moment aufwachen und gesunden. Alle wünschen nichts sehnlicher als das. Von den Anästhesisten, den Internisten, den Allgemeinärzten, den Chirurgen bis zu den Urologen stehen alle um sein Bett, und der übrige Klinikbetrieb wird von den Schwestern und den Pflegern erledigt.
Wichtiger Patient
Eine solche Klinik würde in kürzester Zeit nicht nur jede Reputation, sondern auch die Zulassung verlieren. Die Ärzte würden sofort gefeuert werden.
Womit könnten sie sich rechtfertigen? Der Patient sei so wichtig, dass sein Ableben die gesamte Klinik in Frage stellen würde. Dieser Vergleich mit Europa und Griechenland ist natürlich schief, denn selbstverständlich sterben in jedem Krankenhaus jeden Tag Patienten, ohne dass an dem Sinn der medizinischen Leistungen der jeweiligen Kliniken gezweifelt werden dürfte.
Tagen, tagen, tagen
Aber drehen wir diesen Gedanken: Etwas derartig historisch Wichtiges wie die europäische Gemeinschaft mitsamt ihrem Euro, der nach Auskunft der deutschen Kanzlerin das eigentliche Bindeglied, eine Art Ehering darstellen soll, könnte scheitern, weil ein einziges Land nicht in der Lage ist, die sehr grosszügig ausgelegten Regeln einzuhalten. Jetzt liegt Europa im Koma, nicht der Patient.
Die Finanzminister und Regierungschefs tagen und tagen. Sie tagen, und die Journalisten berichten und berichten. Man muss sich schon fragen: Was würde eigentlich geschehen, wenn es um ernstere Krisen ginge? Wenn der Konflikt um die Ukraine weiter eskaliert, wenn Frankreich seine Atomkraftwerke nicht mehr im Griff hat, wenn die Migration aus Afrika und dem Nahen Osten jede Diskussion um Humanität zunichte macht?
Wo sind die Herren?
Das eigentlich Unheimliche an den derzeitigen Debatten um Griechenland und ihrer medialen Darstellung besteht darin, dass Griechenland im Vergleich zu den Problemen, die schon da sind oder mit brutaler Unausweichlichkeit auf Europa zukommen, keine Tragödie, sondern eine Posse ist. Aber Griechenland eignet sich wunderbar zur Inszenierung. Keine Rolle und kein Darsteller fehlen.
Aber alle Darsteller zusammen ergeben ein erbärmliches Bild: Wo ist die Souveränität? Der europäische Einigungsprozess begann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber bis heute haben es die verantwortlichen Politiker nicht geschafft, sich als Herren im „gemeinsamen europäischen Haus“, wie es Gorbatschow einmal formuliert hat, zu etablieren.
Welches Mandat?
Statt dessen haben sie einen Krach im Treppenhaus, eine zänkische Familie zahlt weder die Miete, noch putzt sie Flure und Treppen, aber sie droht damit, alle Nachbarn zu desavouieren, wenn sie nicht für sie einspringen. Und es kommt die Kritik von aussen: Wieso schafft Ihr es nicht, diese lästige Familie zu unterstützen, zum Schweigen zu bringen und damit in ihrer Gefährlichkeit zu entschärfen?
Ja, warum? Die europäischen Politiker einschliesslich der Kanzlerin Angela Merkel wirken wie Familienväter, die so schrecklich gerne einmal auf den Tisch hauen würden, aber, bevor sie es einmal probieren, ängstlich herumschauen, weil sie dafür doch ein „Mandat“ bräuchten.
Sie hätten dieses Mandat, aber sie können sich nicht entscheiden, ob sie es lieber bei ihren Stammwählern oder in der Europäischen Union vermuten sollen. Deswegen wirbeln sie lieber in der Luft herum und lassen die Dinge ganz buchstäblich auf sich zutreiben. Die Umfragen zeigen: Damit macht zumindest Angela Merkel nichts falsch. Die Deutschen lieben sie. Aber ist das schon Souveränität?