Wenn auf dem Dammweg des schmalen Saone-Kanals aus dem 18. Jahrhundert das Surren von Fahrrädern zu hören ist und dann Buntgekleidete, Behelmte und Bepackte ihres Weges ziehen, sagen die Anwohner hier nur: „Ah, Holländer."
Von denen weiss man, dass auf ihren internationalen Radwanderkarten von Rotterdam nach Tanger ein Weg verzeichnet ist, der durch dieses gottverlassene Stück tiefes Frankreich führt. Manchmal sagen sie hier auch: „Schau, schon wieder so ein Verrückter." Das ist dann einer, der im Liegen radelt.
Ein politischer Seitenhieb
Doch der, der heute in Begleitung einer Frau auf einem normalen Rad an der Schleuse hält, wo tatsächlich noch ein Schleusenwärter arbeitet und wohnt, liegt irgendwie anders auf seinem Rad. Und vor allem treibt er es mit der Kraft seiner Arme an. An der Schleuse, an der gerade zwei für die Woche gemietete Touristenboote und ein privates Motorboot hinuntergelassen werden, halten die beiden Radler. Es sind keine Holländer, sondern Schweizer, und der liegende Mann ist querschnittsgelähmt. Auf dem Bau sei er aus drei Meter Höhe heruntergefallen, erzählt er dem braungebrannten 70-Jährigen mit Goldkettchen um den Hals auf dem privaten Motorboot, das die südfranzösische Stadt Sète als Heimathafen ausweist.
Ja er - antwortet der Franzose am Ruder - während sein Boot langsam nach unten sinkt, sei früher aus wesentlich grösserer Höhe heruntergefallen, aus Hubschraubern und dann aber, am Boden: tackatackatackatack ….. und er mimt das Schiessen mit dem Maschinengewehr und grinst. Ein Algerienveteran im wohldotierten Ruhestand, der zum Abschied noch den Satz zum Besten gibt: „Es ist schon schlimm, wenn sich Politiker heute ihrer bedienen, um Wahlen zu gewinnen." Übersetzt und im Kopf des Freizeitkapitäns heisst das nichts anderes als: François Hollande ist nur dank der Araber Präsident geworden - Araber, die selbstverständlich allesamt Franzosen sind – aber mit solchen Kleinigkeiten hält sich der Kriegsnostalgiker gewiss nicht auf.
„Je tape chez Peugeot“
Man hat es nicht gewagt, den Schweizer zu fragen, was er über den kurzen Ausflug in die jüngere französische Kolonialgeschichte dachte. Marine Le Pens Anhänger jedenfalls, so sagt man sich, haben sogar teure Boote und schippern stolz durchs tiefe Land. Und wo sie vorbeikommen, fehlt es nicht an Gesinnungsgenossen. Hier, in den zwei- bis dreihundert Seelendörfern des Departements Haute-Saone, wo weit und breit kein einziger „Araber“ zu sehen ist, lag die extreme Rechte im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen mit 20 bis 30 Prozent klar an zweiter Stelle, fast gleichauf mit den Konservativen der Marke Sarkozy.
Es ist einer dieser Landstriche, in denen das Leben wegzusterben scheint, wo sich die noch Verbliebenen von der öffentlichen Hand zunehmend verlassen fühlen und immer verbitterter werden. Da werden wegen der Alkoholkontrollen noch die letzten Kneipen zugesperrt, und nachts ist ausser dem blauen Flimmern aus einzelnen Fenstern rein gar nichts mehr zu sehen und zu hören. Pro Dorf sind maximal noch zwei Bauernhöfe bewirtschaftet.
Wer noch Arbeit hat, ist hier Fernfahrer oder Handwerker oder, wie die meisten, „hämmert“ bei Peugeot, wie sie sagen. In der Kleinstadt Vesoul, im internationalen Zentrum für Ersatzteile des Automobilherstellers, der in der Krise steckt - „Je tape chez Peugeot“ - „arbeiten“ scheint ihnen ein zu nobles Wort für die Tätigkeiten, die sie unter immer horrenderen Kadenzen zu verrichten haben. Der Haschischkonsum sei beträchtlich in der Fabrik, ist zu hören.
Vezet – ein Dorf sammelt für einen Totschläger
20 Kilometer weiter südlich sorgt das 180-Einwohner-Dorf Vezet dieser Tage für Aufsehen. Vier Jahre ist es her, dass am 14. Juli, in der Nacht des Nationalfeiertags, Frederic Badet an drei Messerstichen verblutet ist. Der dritte Sohn einer Grossfamilie aus dem sogenannten „fahrenden Volk“, die sich seit zwei Generationen in dem kleinen Ort niedergelassen hatte.
Der als geistig minderbemittelt und zu 80 Prozent als behindert eingestufte Frederic war seit Jahren der Albtraum des Dorfes gewesen. Hasen, Hühner, Werkzeuge und andere Gegenstände verschwanden regelmässig in der Nacht und jeder wusste: Er war es.
Als der 36-jährige Elektriker Charles Beau in jener Nacht um 2 Uhr morgens Geräusche in seinem Gartenhäuschen vernommen hatte, ergriff er ein Messer, stiess in der Dunkelheit mit besagtem Frederic zusammen, am Ende stürzten beide, Charles Beau verteidigte sich mit dem Messer, stach dreimal zu und sah, wie der mutmassliche Dieb davonlief. Drei Jahre später war Charles Beau zu einem Jahr Gefängnis und 80 000 Euro Geldstrafe verurteilt worden.
Seit der Elektriker wieder auf freiem Fuss ist, haben sie in Vezet einen Verein gegründet, der Tombolas und Flohmärkte organisiert und Geld sammelt, um die 80 000 Euro Schadensersatz zusammenzubringen, die der Elektriker der Familie von Frederic Badet zu zahlen hat. Sogar der Bürgermeister hat dem Verein 1000 Euro Subventionen zugestanden.
Niemand im Dorf hat daran etwas auszusetzen, im Gegenteil: Die Einwohner signalisieren ganz offen, dass sie Charles Beau, der immerhin in einen Nachbarort gezogen ist, dankbar sind, das Dorf von seinem Störenfried befreit zu haben. Die fast zehnköpfige Grossfamilie des Opfers lebt weiter in Vezet. Die Stimmung im Dorf ist entsprechend. Vor dem Haus der Badets wehen beständig und unübersehbar ein halbes Dutzend schwarzer Fahnen.
Das Los der Nachbarn von Mohamed Merah
Bald fünf Monate ist es her, dass der 22-jährige Mohammed Merah in Toulouse und Umgebung drei französische Soldaten und vier jüdische Kinder getötet hat und nach 32-stündiger Belagerung von einer Sondereinheit der Polizei erschossen wurde. Ein Junge aus Frankreichs Vorstädten, der den Gotteskriegern auf den Leim gegangen war und mit schier unglaublichem Zynismus und einer gehörigen Portion Glaubwürdigkeit seine Bluttaten begangen hatte. Eine Tragödie, die damals ganz Frankreich erschüttert hat.
Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht dauerte damals die Belagerung von Merahs Wohnung in einem schmucklosen, vierstöckigen Wohnhaus in Toulouse. Dutzende Mitglieder der Sondereinsatzkommandos machten sich nach und nach in den umliegenden Wohnungen des Hauses breit, und brachten die Bewohner dieser Wohnungen, die teilweise sieben oder acht Stunden auf dem Boden kauernd verbringen mussten, nach und nach in Sicherheit. Danach wurden Granaten gezündet und im Lauf der Stunden fielen hunderte Schüsse.
Als die Mieter oder Eigentümer am übernächsten Tag wieder zurückkehren durften, glichen ihre Wohnungen einem Schlachtfeld. Wasserleitungen waren zerschlagen worden, die Fussböden aufgequollen, Möbel und Türen zerschlagen und in den Wänden von den Explosionen der Sprengsätze dutzende Risse - ja selbst Berge von Pizzakartons und Getränkedosen lagen noch wild herum.
So war es am Tag danach und so ist es, im Grunde auch fünf Monate später noch. Die Bewohner wurden mit ein paar Telefonnummern von Psychiatern abgespeist - in deren Behandlung sie sich begeben konnten. Und für die materiellen Schäden wollte sich weder die Präfektur - also der Staat - noch die Stadt Toulouse zuständig zeigen. Die Betroffenen - unter ihnen eine Studentin, eine kleine Beamtin und eine Sozialarbeiterin -, allesamt traumatisiert, müssen seit Monaten um Unterstützung für die Behebung der materiellen Schäden kämpfen und werden von Pontius zu Pilatus geschickt. Die Behörden haben die Fassade renovieren lassen und zerschossene Fenster neu eingesetzt – das war es dann. Einem, der in diesem Haus vor einem Jahr eine Wohnung für 120'000 Euro erstanden hatte, werden heute gerade noch 90'000 geboten. All dies scheint aber niemanden etwas anzugehen. Das ist auch eine Form von Arroganz der Macht.