Frankreich ist mit Abstand der wichtigste Wirtschaftspartner Tunesiens und ist stolz darauf. Zwischen Paris und Tunis gibt es täglich rund ein Dutzend Flüge, für manchen in Frankreich ist Tunesien die Badeanstalt vor der Tür.
Hunderttausende Franzosen haben mit diesem Land eine „besondere Geschichte“, familiäre Beziehungen und überschäumende, nostalgische Erinnerungen. Zum Beispiel an La Goulett, den am Strand gelegenen Vorort der Hauptstadt Tunis. Darum ranken sich zahlreiche Erzählungen älterer Franzosen.
Keine glorreiche Rolle
Ein bedeutender Teil der jüdischen Gemeinde Frankreichs hat Vorfahren, die aus Tunesien stammen - darunter auch der ehemalige Grossrabiner Joseph Sitruk. So viele privilegierte Beziehungen zwischen beiden Ländern nördlich und südlich des Mittelmeers - und dann dies: Frankreich, das - man wagt es schon gar nicht mehr zu sagen - „Mutterland der Menschenrechte“, das offizielle Frankreich, will heissen: das Präsidentenpalais und das Aussenministerium, haben in den Tagen und Wochen vor dem Sturz Ben Alis eine wenig glorreiche Rolle gespielt, sich mit Kritik am schwankenden Diktator und an der gewaltsamen Repression mehr als zurückgehalten. Ja, das Schweigen der Machthabenden in Paris wurde geradezu schreiend laut, beängstigend und empörend.
„Die Revolution in Tunesien hat ohne Frankreich stattgefunden", hiess es in einem der zahlreichen, wütenden Pressekommentare der letzten Tage, „der Kultur- und der Aussenminister haben herumgedruckst, Präsident Sarkozy beredt geschwiegen. Das Verhalten des offiziellen Frankreichs ist schlicht eine Schande.“
Stets das gleiche Argument
In der Tat musste man den Eindruck haben, Frankreichs Diplomatie habe abgedankt. Niemand unter den Beratern der französischen Botschaft in Tunis, den Spezialisten im Quai d’Orsay oder vom Personal der verschiedenen Geheimdienste ist offenbar in der Lage gewesen, die politisch Verantwortlichen darüber zu informieren, dass sich in Tunesien etwas grundlegend ändert. Stattdessen vermittelten Präsident und Regierung in Paris den Eindruck, als kämen ihnen die Ereignisse in Tunesien nicht gelegen, als sei ihnen der Sieg des demonstrierenden tunesischen Volkes und die erzwungene Flucht Ben Alis eher peinlich.
Sie wirkten so, als hätten sie ein ernstes Problem und wüssten nicht, wie von heute auf morgen vergessen machen, dass sich sämtliche französischen Politiker, ob konservativ oder sozialistisch, seit einem Vierteljahrhundert mehr oder weniger mit dem tunesischen Diktator kompromittiert hatten. Sie hatten stets das gleiche Argument: Ben Ali sei ein wichtiges Bollwerk gegen den radikalen Islam in der Region. Deswegen hat Frankreich Menschenrechtsverletzungen und grenzenlose Korruption, ja schlichten Diebstahl durch die weit verzweigte Familie Ben Alis bis zum Schluss kritiklos hingenommen.
Im jetzt von der Armee eingenommenen Präsidentenpalais zu Karthago hatte Nicolas Sarkozy zum Beispiel im April 2008 bei einer Tischrede vor einem zufrieden grinsenden Ben Ali doch tatsächlich gesagt, in Sachen öffentliche Freiheiten habe das Land deutliche Fortschritte gemacht und er denke als Gast bei Freunden nicht daran, irgendwelche Lektionen erteilen zu wollen. Das war fast so gut wie Jacques Chirac wenige Jahre zuvor. Der hatte während einer Tunesienvisite getönt, das erste aller Menschenrechte sei das Recht, etwas zu essen zu haben. Mit anderen Worten: Tunesien geht es wirtschaftlich so gut, dass niemand Hunger leidet, also haltet den Mund.
Ein Orden von Ben Ali
„Ich schäme mich für meinen Präsidenten, ich schäme mich für die französische Diplomatie“, sagte dieser Tage der bei Frankreichs Sozialisten für internationale Fragen zuständige Abgeordnete, Pierre Moscovici, angesichts des peinlichen Schweigens in Paris.
Doch all zu weit lehnen sich auch Frankreichs Sozialisten nicht aus dem Fenster, wissen sie doch nur zu gut, dass Ben Ali schon unter Francois Mitterrand keine grosse Kritik fürchten musste und auch in der Jahren der Kohabitation 1997 bis 2002 unter Premierminister Jospin niemand auf den Gedanken kam, die Respektierung der Menschenrechte in Tunesien lautstark einzufordern. Schon gar nicht der sozialistische Bürgermeister von Paris, Betrand Delanoe, der seit Jahren keine Gelegenheit auslässt zu betonen, ein Teil seines Herzens hänge an Tunesien, wo er geboren wurde und einen Zweitwohnsitz hat.
Nie hat man aus seinem Mund eine wie auch immer geartetes, kritisches Wort über die Zustände in Tunesien vernommen. Und noch vor knapp zwei Jahren hat ein anderer Sozialist und möglicher Präsidentschaftskandidat, ein gewisser Dominique Strauss-Kahn, dessen Familie mütterlicherseits ebenfalls aus Tunesien kommt, sich von Präsident Ben Ali einen Orden umhängen lassen und bei dieser Gelegenheit erklärt, Tunesien sei ein positives Beispiel, dem andere Schwellenländer folgen sollten.
Frankreich nimmt zur Kenntnis
Zwanzig Jahre lang haben sie sich in Frankreich alle mit Ben Ali abgefunden, nach dem Motto: Er hat zwar schlimmere Wahlergebnisse als einst Ceaucescu oder Brejnew, aber er ist ein Bollwerk gegen die Islamisten, und man kann in seinem Land gute Geschäfte machen.
Während US Präsident Obama jetzt angesichts der Massendemonstrationen klar und deutlich den Mut des tunesischen Volkes begrüsste und in Paris und anderen französischen Städten tausende Tunesier mit Hupkonzerten Ben Alis Abgang feierten, beschränkte sich der Elyseepalast doch tatsächlich auf ein trockenes Kommuniqué, wonach Frankreich die verfassungsmässige Übergangslösung in Tunesien zur Kenntnis nehme, eine Beruhigung der Lage und ein Ende der Gewalttätigkeiten wünsche. Noch weniger hätte Paris kaum tun können.
Immerhin hat man es abgelehnt, den fliehenden tunesischen Präsidenten auf französischem Territorium zu empfangen, allerdings mit dem Argument - so eine nicht näher genannte Regierungsquelle - dass in Frankreich mehrere Hunderttausend Tunesier lebten, von denen die meisten gegen Ex-Präsident Ben Ali seien. Dies klingt, als habe man nicht aus Überzeugung einem Diktator die Tür gewiesen, sondern als sei man durch die Umstände leider dazu gezwungen gewesen. Schliesslich hatte ja auch die neue Aussenministerin - als Ben Ali auf Demonstranten schon scharf liess – im französischen Parlament erklärt, Frankreich biete Tunesien seine Hilfe bei der Ausbildung von Ordnungskräften an. Tollpatschiger geht es kaum.
Die meist gehörte Parole bei den Demonstrationen der Tunesier hier in Frankreich war dann auch: „Ben Ali, Mörder - Sarkozy, Komplize."