Als eiserne Regel gilt, dass Mann oder Frau stets ein Stück Wurst im Hosensack haben soll, falls der bös bellende Bäri nach den Waden schnappt, um sein Gehöft zu verteidigen. Weiterhin ist die Z-Skala zu beachten. Sie reicht von Z-0 bis Z-3. Das heisst: von freier Fahrt ohne Zäune bis zu hindernisreicher Fahrt mit vielen Zäunen. Da sind dann „elegante Überwindungstechniken“ gefragt, denn es drohen Stacheldraht und „hohe Gefahr textiler Integritätsschäden“.
So lustig geht es zu und her auf Skitouren im Entlebuch und im Emmental. Und selbst wer noch nie eine Skitour gemacht hat, der liest das Buch wohl mit Vergnügen und Überraschung. Denn hier geht es nicht nur ums Skifahren, sondern auch um die Begegnung mit einer Landschaft und ihrer Kulturgeschichte. Nichts für tollkühne Freerider, keine eisigen Steilwände und schwindelerregenden Couloirs, wie es uns die Outdoor-Werbung täglich vormacht. Da sind Autoren am Werk, die mit feinem Humor jedes alpinistische Pathos untergraben und sich selber und ihre Schneewanderungen mit der Prise Ironie betrachten, die schon im Titel des Buches aufblitzt: „Im Reich der Hubel und Chnubel“.
Schangnau statt St. Moritz
„Wer kennt heute noch alte Klassiker wie die Äschlenalpabfahrt nach Oberdiessbach oder die Chuderhüsiabfahrt vom Ringgis?“ heisst es im Vorwort: „Dieser Skitourenführer möchte dich dazu animieren, die Landschaft vor deiner Haustüre zu entdecken. Rämisgummenhogger statt Grand Combin, Schangnau statt St. Moritz.“
„Medizinisch ist es das Gegenteil von Adrenalin“, sagt Christoph Blum. „Da sind wir beim Parasympathikus. Davon haben wir Berner ja vielleicht etwas mehr. Usschnufe wär vilicht es Wort, oder besser no ufschnufe, eifach de Stress la abecheie.“
Christoph Blum (1944) ist einer der vier Autoren des Buches. Der begeisterte Kletterer und Skitourengeher hat Jahrzehnte lang in Langenthal als Hausarzt praktiziert und steht wie auch die andern - Michael Kropac (1978), Valentin Raemy (1984) und Katharina Conradin (1981) - der Alpenschutzorganisation Mountain Wilderness nahe. Ihnen geht es darum, die touristische Nutzung der Berge naturverträglicher und nachhaltiger zu machen.
Gletscherspalten, Bergschründe und Eisabbrüche sucht man im Emmental und Entlebuch vergeblich. Und auf vielen Touren über flache Hänge kann man Lawinenschaufel, Sonde und Verschütteten-Suchgerät getrost daheim lassen. Eine der wenigen objektiven Gefahren lauert im exzessiven Konsum von „Merängge mit Nidle“, meinen die Autoren. Mit gutem Grund, denn es gibt sicher keinen Skitourenführer, wo die vielen Gasthäuser und Dorfläden so detailliert aufgeführt sind. Die meisten der beschriebenen Touren sind mehrfache Überschreitungen, die nicht zum Ausgangspunkt zurückführen. Entsprechend sorgfältig sind die Hinweise auf Bus- und Bahnverbindungen.
Natürlich gibt es im Emmental und im Entlebuch auch hier und da steilere Tobel und senkrechte Abbrüche. Deshalb kommen auch die Kategorien „Voralpin“ und „Crack“ vor, ein Beispiel für letztgenannte ist die Schratteflue Nordwestabfahrt. Doch auf den meisten Touren bewegt man sich auf einer Schwierigkeitsstufe, die die Autoren mit der Kategorie „Tiefstapel“ erfassen, eine in Skitourenführern bislang unbekannte Rangordnung.
Es sei ist nicht nur das Tiefstapeln im metaphorischen Sinn, sagt Blum, sondern im wörtlichen Sinn ein Aufeinander-Stapeln von kleinen Abfahrten. Denn es geht die Hügel rauf und runter, und wer dem Klebstoff seiner Felle misstraut, der sollte ein Paar Ersatzfelle im Rucksack haben.
Aber sicher geht es auch um das ironische Understatement, das dem Wort Tiefstapeln im übertragenen Sinn zugrunde liegt. Jene Mentalität, die man als „small ist beautifull“ beschreiben könnte. Eine Haltung, die die Autoren sicher nicht nur ökonomisch sondern auch philosophisch verstehen.
Emmental-Rap?
Goldbachschwändeli, Unter Jurteneggli, Ober Mueshüttli, Ängelberg, Hinter Spitzhusgrebli, Brotheiteri, Bärhegenchnübeli, Ziberschusshürli, Chrümpelhüttenmösli….
Das klingt wie ein Gedicht, ein Stück Slam Poetry oder Rap. Es sind aber nur die Flurnamen, die einem auf einer Skitour im Emmental oder Entlebuch begegnen können. „Das ist ja aus der Arbeit heraus entstanden“, sagt Christoph Blum. „Da, wo die Leute Mühe hatten, da, wo sie es gut hatten, - das sind die Flurnamen. Wenn man die alten Karten anschaut, da hatte fast jedes Feld seinen Namen, aber das gibt es heute auf den neuen Karten immer weniger. Das geht verloren.“
Der Grundton des Buches ist eine heitere Gelassenheit, aber auch eine durchaus beabsichtigte Zelebration der Langsamkeit im Zeitalter von Heliski, Motorschlitten-Rennen und Offroadern. Die Fotos zeigen nicht nur Gipfelaufstiege und Abfahrten, sondern auch Berggasthäuser, uralte Lindenbäume, und verschneite Alphütten. Das altmodische Wort Beschaulichkeit kommt einem in den Sinn, wo die Bilder der winterlichen Hügellandschaft mit Zitaten von Jeremias Gotthelf versehen sind:
„Es war ein kalter Morgen, wie schwerer Rauch schien des Mundes Hauch, es knarrte der Schnee unter den Füssen, glitzerte und funkelte wie ein Diamentenfeld, eng ward die Nase und kalt, und zwischen einem zarten Jungfernnäschen und einer alten Branntweinnase war fast kein Unterschied mehr.“
Die kraftvolle Sprache Gotthelfs, seine Kunst, das Konkrete sprachlich zu packen, das passt zu diesem Skitourenführer, der eine Aufforderung ist, in der Landschaft die Zeugen einer bäuerlichen Welt des 19. Jahrhunderts zu finden. Häuser und Scheunen, die der Erosion der Geschichte einen materiellen Widerstand entgegengesetzt haben. Aber solche Spurensuche macht man nicht auf die Schnelle, sondern in gemächlicher, respektvoller Annäherung. Vier Winter haben die Autoren gebraucht für ihr Buch.
„Es ist das Gemüt“, sagt Christoph Blum. „Es gibt Orte, die siehst du zum ersten Mal und denkst: Da bin ich daheim. Es sind die kleinen Freuden, aber zusammengezählt ist es eben schon eine Menge.“
Emmental und Entlebuch: Im Reich der Hubel und Chnubel. 52 Skitouren zwischen Bern und Luzern. topo.verlag Basel 2015