Längst überwiegen die negativen Folgen der sturen Tiefzinspolitik der EZB. Auch nach dem 8.6.2017 keine Änderung, obschon das BIP-Quartalswachstum inzwischen um 0,6% gegenüber dem Vorquartal gewachsen ist. Die Politik Draghis: Augen zu, schweigen und Geld drucken. Entgegen der konjunkturellen Entwicklung und früherer Versprechungen belässt Draghi den Zinssatz auf Null Prozent. Das lässt den Verdacht aufkommen, es gehe ihm eher um Italien als um die Eurozone.
Die EZB auf Abwegen
Seit über drei Jahren, und offensichtlich auch über Ende 2017 hinaus, kauft die EZB marode Staatsanleihen, die auf dem Kapitalmarkt längst den letzten Funken von Vertrauen verspielt haben. Dies untergräbt die disziplinierende Wirkung von Marktzinsen auf die nationalen Haushaltpolitiken und deren ursprünglichen Haftungsrisiken. Damit ist die EZB mittlerweile zu einer Art Schattenregierung aufgestiegen, allerdings ohne demokratische Kontrolle. Dies war aber nie die Meinung der Erfinder. Heute muss man von einer klaren Überdehnung ihres Mandats sprechen, was letztlich die Unabhängigkeit dieser Institution – ihre Stärke und Legitimation – langsam, aber sicher untergräbt.
Abgesehen davon, dass die Aktivität der EZB die anvisierten Ziele seit Jahren verfehlt, liegt ihr offensichtlich ein Denkansatz zugrunde, der die Wirkungsmacht und Zielgenauigkeit der Geldpolitik überschätzt. Andererseits ignoriert der EZB-Rat um Mario Draghi offensichtlich das Reaktionspotenzial der Gesellschaft und Wirtschaft. Diese handeln nicht wie ökonomische Modelle, sondern – wie Menschen.
Die Sparer verlieren
Vor allem in Deutschland läuft seit Monaten eine heisse Diskussion darüber, ob die EZB mit ihrer Geldpolitik daran schuld sei, dass die Sparer allein in diesem Jahr 100 Milliarden Euro verloren hätten. Ob diese Summe mehr oder weniger stimmt, ist nicht unsere Diskussion. Doch das Argument, wonach viele Menschen von den niedrigen Zinsen profitierten, interessiert. Stimmt das wirklich?
Die Begründung: viele Menschen hätten ihr Vermögen (zumindest teilweise) in Aktien oder Investmentfonds angelegt und die Aktienkurse seien ja in den vergangenen Monaten kräftig gestiegen. Bei den Sachvermögen (eigenes Haus, eigene Wohnung) hätte sich dank sinkender Hypo-Zinsen der Wert einer Immobilie erhöht. Somit wären diese Immobilienbesitzer – zumindest auf dem Papier – reicher geworden und auch das müsse bei der Beurteilung der EZB-Zinspolitik berücksichtigt werden.
Erinnerung an den Crash von 2008
Vordergründig mag sogar beides stimmen, doch schon die Relativierung „zumindest auf dem Papier“ lässt erahnen, dass es sich dabei um wenig nachhaltige Vermögenszunahmen handeln könnte. Nicht unbegründet warnen ja viele Ökonomen seit langem davor, dass sich an beiden Märkten – also Aktien und Immobilien – gefährliche Blasen entwickelten, die früher oder später platzen würden.
In Erinnerung an die Subprime-Krise in den USA, die den gewaltigen, weltweiten Finanzcrash 2008 auslöste, stand genau diese Argumentation am Anfang des Problems. Immobilienbesitzer stockten im Gefolge steigender Immobilienpreise ihre Hypotheken entsprechend auf. Am Tag X begannen die Werte zu sinken und plötzlich überstiegen die Hypotheken die Anlagewerte und die Banken forderten Geld zurück – das nicht vorhanden war.
Bauboom in der Schweiz und das kurzfristige Denken
Neben einem unentwegt boomenden Wohnbaumarkt ist als Folge der EZB-Politik ein weiteres Phänomen zu beobachten. In Städten wie Zürich werden ganze, völlig intakte, Gewerbe- und Bürogebäude „saniert“, das heisst innen ausgehöhlt, aussen neu verpackt – wenn sie nicht völlig abgerissen und neu aufgebaut werden. Deren Besitzer sind vornehmlich Versicherungen und Banken, die für ihr „überflüssiges“ Geld bei der Nationalbank (SNB) Strafzinsen bezahlen müssten, was bei diesen Grössen zu gewaltigen Belastungen führt. Somit „investieren“ sie lieber, als Strafzinsen zu bezahlen.
Auch diese Politik ist wenig nachhaltig. Gebäude abzureissen, die es noch Jahrzehntelang problemlos gemacht hätten – wer macht das schon? Mehrfamilienhäuser auf Halde zu bauen – was ist die Motivation? Leerstände auf dem Büro- und Wohnungsmarkt steigen und steigen, entsprechend fehlen die kalkulierten Renditen. Das ist kurzfristiges statt langfristiges Denken und Handeln.
Applaudierende nationale Regierungen
Während in Deutschland und der Schweiz bei den Regierungen seit langem vor allem Kopfschütteln über Draghis Politik herrscht, applaudieren andere Länderverantwortliche. Längst ist offensichtlich, dass der Aufkauf maroder Schuldpapiere einzelner Staaten durch die EZB jene Nationen begünstigt, deren seit Jahren überfälliger Strukturreformbedarf deshalb immer wieder auf morgen verschoben wird (Beispiel Italien). Reformanreize für die nationalen Regierungen sind nicht mehr existent. Weitermachen wie bisher, lautet die Devise. Die Folgen sind unentwegt steigende Staatsdefizite, für welche die Draghi-Crew grosszügigerweise aufkommt.
Weitere Gefahrenherde bilden sich heran. Die Risikopositionen der Notenbankbilanz steigen und steigen, offensichtlich ist das längerfristige Ziel eine Vergemeinschaftung der Schulden, was wiederum jene zu berappen hätten, deren Haushalte nach altväterischer Weise (fast) schuldenfrei daherkommen. Natürlich verzerrt sich auch die Signalfunktion von Marktpreisen überhaupt.
Der MIT-Professor und seine prominenten Schüler
Eine spannende These hat im Mai 2017 die ZEIT entwickelt. „Die mächtigste Schule der Welt“ heisst ihr Titel. Die These: Eine kleine Gruppe von Ökonomen studierte vor 40 Jahren an der Eliteuniversität Massachusetts Institute of Technology (MIT) an der US-Ostküste in Cambridge, USA. Ihr Lehrmeister: Robert Solow, MIT-Legende, Nobelpreisträger 1987, heute 92-jährig. Seine Idee war es, die Wirtschaft eher mit dem Ingenieursblick zu betrachten. Damals lehrte er: „Wenn eine Maschine nicht funktioniert, dann muss man herausfinden, warum, und dann versuchen, das defekte Teil zu reparieren.“
Einige jener Studenten sind mittlerweile bekannte Grössen, über die ganze Welt verstreut. Wenn wir heute von Mario Draghi (EZB), Lucas Papademos (Griechenland), Ben Bernanke (früher Vorsitzender der US-Zentralbank FED), Paul Krugman, Ökonomie-Nobelpreisträger und Kolumnist bei der „New York Times“ oder Kenneth Rogoff, Oliver Blanchard und Maurice Obstfeld sprechen – sie alle waren sich einig über Robert Solow: „Er ist der Mann, den wir sein wollten.“
Und wenn die Theorie nicht stimmt – was dann?
Hier interessiert vor allem Mario Draghi, auch für ihn spielte die Ausbildung am MIT eine prägende Rolle. Wörtlich sagt er heute: „Die Welt und auch die ökonomische Theorie haben sich seitdem stark verändert. Aber die Grundmethodik, von den Fakten aus zu starten, ökonomische Daten aufmerksam zu lesen und sie richtig zu interpretieren, ist immer noch valide.“
Dieser Lehrsatz in Ehren, doch das „… sie richtig zu interpretieren“, also zu entscheiden, welcher Weg letztlich der goldige ist, da sind sich doch selbst die Ökonomen nicht einig. Wenn die EZB heute Banken Staatsanleihen und Wertpapiere abkauft, um die Wirtschaft zu reparieren, damit sie das erhaltene Geld zu niedrigen Zinsen verleihen, tönt das ja auf den ersten Blick plausibel. Doch wenn sich die Banken nicht an diese Theorie halten, was dann?
Da stellt der Journalist die kecke Frage, „Was ist, wenn Draghis Werkzeug die Maschine vielleicht zum Zusammenbruch bringt, weil es mit der Wissenschaft nichts zu tun hat?“
Unabhängige Notenbanken und ihr expansives Mandat
Persönlich habe ich während Jahrzehnten die Unabhängigkeit der Notenbanken verteidigt. Zu unterschiedlich, egoistisch oder unrealistisch wären doch die versuchten Einflussnahmen wichtiger Politiker. Diese Unabhängigkeit in Ehren, doch was, wenn die Notenbanken ihr Mandat ständig ausweiten?
„Die Welt und auch die ökonomische Theorie haben sich in 40 Jahren tatsächlich stark verändert. Aber die Grundmethodik, von den Fakten aus zu starten, ökonomische Daten aufmerksam zu lesen und sie richtig zu interpretieren, ist immer noch valide“, meinten Draghi und seine Mitstudierenden damals. „Wenn eine Maschine nicht funktioniert, dann muss man herausfinden, warum, und dann versuchen, das defekte Teil zu reparieren“, meinten sie auch. Was aber, wenn sich nicht nur die Welt, sondern auch die EZB und die ökonomischen Theorien gewandelt haben?
Und was, wenn alle drei nicht wie Maschinen funktionierten? Der Ingenieursblick in Ehren, doch das Festhalten an im analogen 20. Jahrhundert erlerntem Handwerk, könnte es sich im digitalisierten und globalisierten 21. Jahrhundert als überholt erweisen?
Kommt Zeit, kommt Rat (zu spät)?
Der „Economist“ legt den Finger noch auf einen anderen heiklen Punkt. Immer wieder seien die Zentralbanken, trotz ihrer technokratischen Expertisen, durch die Märkte überrascht worden. So sahen sie weder den Kollaps von 2007/08 noch die Schuldenkrise der EU voraus. Der „Economist“ folgert daraus: „It is hard to justify handing power to unelected technocrats if they fall down on the job.” (Es fällt schwer, ungewählten Technokraten die Macht zu überlassen wenn diese ihren Job nicht erfüllen.)
Die Zweifel an der Richtigkeit des EZB-Kurses sind hörbar. War etwa „die Reparatur des defekten Teils der Maschine“, um in den Worten der Solow-Jünger zu sprechen, der falsche Ansatz, weil es sich hier gar nicht um eine Maschine, sondern um die weit komplexere Sozialwissenschaft der Geldpolitik handelt?
Es bleibt die Hoffnung, dass auch dieses momentane Konzept der EZB bald – wie alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Paradigmen es regelmässig erleben – durch ein neues ersetzt wird. Die Kollateralschäden sind zu gross und könnten selbst das Vertrauen in unsere marktwirtschaftliche Ordnung erschüttern.