Das polnische Wrocław, zu deutsch Breslau, besitzt eine Vielzahl an Bauwerken der frühen Moderne. Sie werden in Publikationen zur Architektur des 20. Jahrhunderts zwar regelmässig abgebildet, und doch sind sie praktisch nur den Insidern bekannt. Zu Unrecht.
Breslau hat eine wechselvolle Geschichte mit stets neuen Herrschaftsverhältnissen. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie kämpfte die Stadt mit wirtschaftlichen Problemen, die sie mit Investitionsprogrammen zu lindern versuchte. Davon profitierte auch das Bauwesen.
Eine polnische Stadt ist Breslau erst seit Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Siegermächte die europäische Landkarte neu ordneten. Die deutschsprachige Mehrheit der Bewohner und Bewohnerinnen wurde vertrieben. Als Deutschschlesier wurden sie zu Heimatlosen, während sich in Breslau andere Flüchtlinge aus dem Osten niederliessen. Sie fanden zahlreiche Spuren der frühen Moderne vor, vorwiegend Bauwerke von deutschen, bzw. deutschsprachigen Architekten.
Die Jahrhunderthalle
Anlässlich der Jahrhundertausstellung von 1913 zur Erinnerung an die preussischen Kriege gegen Napoleon plante der deutsche Architekt Max Berg (1870–1947), der in Breslau als Stadtbaurat tätig war, zusammen mit zwei Ingenieuren eine imposante Halle, ein veritables Raumwunder. Aussen besitzt der Aufbau gewisse Ähnlichkeiten mit einer Sinan-Moschee, was wohl damit zusammenhängt, dass hier wie dort eine zentrale Kuppel Grund- und Aufriss prägt.
Die Jahrhunderthalle, wie sie nun heisst, ist ganz in Sichtbeton ausgeführt mit einem komplexen System aus Rundbögen und Rippen, welche die Kalotte mit einer Spannweite von 65 Metern stützen und rahmen. Diese setzt sich aus sich nach oben verjüngenden Ringen zusammen, die durch radial angeordnete Streben miteinander verbunden sind. Dadurch konnte die Hülle weitgehend verglast werden, was für extrem gute Lichtverhältnisse im Innern sorgt.
Das seit 2006 mit dem Label Unesco-Weltkulturerbe ausgezeichnete Denkmal kann, wenn nicht gerade Veranstaltungen stattfinden, besichtigt werden. Dazu gehört auch ein kleines Museum, das die Geschichte der Halle darlegt und sie als architektonisches Meisterwerk würdigt.
Die Werkbundsiedlung
Nur durch einen Waldstreifen vom Messegelände mit der Jahrhunderthalle getrennt, erstreckt sich die 1929 unter der künstlerischen Leitung von Adolf Rading (1888–1957) erstellte Werkbundsiedlung WuWA. Rading war ein Verfechter des Neuen Bauens, der hier wie bei den anderen ähnlichen Unternehmungen mit Musterhäusern eine avantgardistische Form des Wohnens propagierte. Die Breslauer Schau ist weniger bekannt als die ungleich berühmteren Werkbundsiedlungen in Stuttgart (1927), Wien (1932), Prag (1932/33) und Zürich (1930/32), und die Namen der beteiligten Architekten sind mit wenigen Ausnahmen in Vergessenheit geraten.
Auf dem Gelände ermöglichen ein Modell sowie beschriftete Betonbänke vor den erhaltenen Gebäuden eine ausgezeichnete Orientierung. Das wichtigste und am meisten rezipierte Werk ist das Heim für Ledige und junge Ehepaare, das aus der Feder von Hans Scharoun (1893–1972) stammt. Ein kompakter gerader und ein leicht gebogener Flügel, jener mit einem begehbaren Dach, dieser mit Balkonen, werden in der Mitte von einem plastisch geformten Scharnier mit den Gemeinschaftsräumen zusammengehalten. Zum Garten greift ein spitzer Keil aus, der den Ausgang säumt und teilweise überdacht.
Scharoun bot eine Lösung für die Wohnungsnot Alleinstehender, für die er kleine, aber komfortabel eingerichtete Einheiten schuf. Wie bei anderen Werken von Scharoun spielt auch hier die Farbgebung eine grosse Rolle, insbesondere in den Gängen und Treppenhäusern. Dieser Hauptbau wird durch wenige Einfamilienhäuser erweitert, die dem Stil des Bauhauses entsprechend kubisch gestaltet und mit Flachdächern versehen sind. Eine lange und eine kürzere zweigeschossige Wohnzeile, ein ausgesprochen nüchterner viergeschossiger, schmaler und ein wuchtiger, breiter Block runden das Areal mit den erstaunlich gut erhaltenen Gebäuden ab.
Kaufhäuser und ein Verwaltungsgebäude
Wer in der Innenstadt von Breslau unterwegs ist, wird überrascht sein, wie Alt und Neu sich hier höchst verträglich verzahnen. Es gibt sie, die aufgehübschten historischen Plätze mit fotogenen Häuserzeilen, aber es stört weiter nicht, dass am Solnyplatz ein nüchterner grauer Eckbau aus dem Jahre 1931 steht, dem auf einer Seite eine weitere Fassade in der Manier des Neuen Bauens folgt. Die Juwelen der nachträglichen Eingriffe sind aber die Kaufhäuser, wie etwa das ehemalige Wertheimkaufhaus, das etwas ausserhalb des Stadtkerns seit 1930 durch die dekorativen Keramikbänder zwischen den Fenstern die Blicke auf sich zieht.
Das herausragendste Beispiel ist jedoch das 1928 vollendete ehemalige Kaufhaus Rudolf Petersdorff von Erich Mendelsohn (1887–1953), der sich hierfür mit den Schocken-Geschäften in Stuttgart und Nürnberg empfohlen hatte. Die zwei im rechten Winkel aufeinander stossenden Fassaden weisen unterschiedliche Gestaltungen auf. Die dominierende besteht aus durchgehenden Fensterbändern, die durch markante Gesimse mit den Sockeln aus Travertin voneinander geschieden sind. Diese horizontale Struktur wird über die Flucht der anderen Fassade mit einem regelmässigen Fensterraster hinausgezogen und zu einem Halbrunderker gebogen.
Historische Aufnahmen dokumentieren effektvoll die Fassade bei Nacht mit den hell leuchtenden Fensterbändern. Es ist ein Bekenntnis zu den Möglichkeiten, welche die Industrie schafft. Dazu zählen auch die Verkehrsmittel wie die Eisenbahn, an die man unweigerlich denkt, wenn man die Schaufassade von einem der beiden Enden betrachtet. In den Projektskizzen von Mendelsohn wird Bewegung häufig mit parallelen und gebogenen Linien angedeutet.
Vermutlich von Mendelsohn angeregt, wartete der in Stans geborene Schweizer Architekt Sepp Kaiser (1872–1936) fast in unmittelbarer Nachbarschaft für das Unternehmen C&A Brenninkmeyer mit einer eigenen Lösung auf. Dominiert wird der 1931 realisierte Eckbau von den Fensterbändern an beiden Fassaden. Statt eines Erkers wird die Ecke lediglich durch eine minimale Verlängerung der einen Wand akzentuiert, die zusätzlich mittels Klammern bei den Fensterbändern eine dekorative Note erhält. Unter der Dachtraufe sind die erwähnten Klammern zu Lisenen erweitert, die über die gesamte Länge der beiden Wandteile – wobei derjenige der Seitengasse nach einem Drittel in eine Glasbrüstung übergeht – ausgezogen sind. Wer Kaisers verspielte Heimatstilvilla Heimeli in Luzern kennt, wird sich vor seinem Werk in Breslau wundern. In der Tat schloss sich Kaiser vor allem in der Rolle als Hausarchitekt von C&A Brenninkmeyer Ende der 1920er Jahre der Avantgarde an.
Ein anderer Schweizer, der damals in Berlin ansässige Architekt Otto Rudolf Salvisberg (1882–1940), schuf 1929 für das Reichswehrministerium in Breslau einen beachtlichen mehrflügeligen Verwaltungsbau mit Klinkerfassaden und rasterartig angeordneten quadratischen Fenstern. Salvisberg wird heute üblicherweise das Etikett «andere Moderne» angeheftet, um den Abstand zum Stil des Neuen Bauens, aber auch denjenigen zum Historismus zu betonen.
In der Tat wirkt die Anlage in Breslau etwas düster und schwerfällig, aber sie lässt sich durchaus einreihen in eine Gruppe moderat moderner Architekten wie Fritz Schumacher in Hamburg oder Willem Marinus Dudok in Hilversum, die fast ausschliesslich Klinker als Verkleidung ihrer Bauten einsetzten. Das Gebäude wird immer noch vom Militär genutzt und ist mit einem hohen Zaun umfriedet. Architekturtouristen müssen sich mit ungenügenden Ansichten weniger Fassadenteile begnügen.
Und zum Schluss noch dies
Der Architekturführer zu Breslau erwähnt selbstverständlich zahlreiche weitere Bauten, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden – das soll hier nicht thematisiert werden. Jedoch auf das bombastische, 2015 eingeweihte Konzerthaus des polnischen Teams APA Kuryłowicz kann hier nicht verzichtet werden. Es steht sinnbildlich für den Aufbruch in eine neue Ära, die 2016, als Breslau europäische Kulturhauptstadt war, begann.
Der Konzertsaal ist aussen mit einer goldenen Alumiumhaut überzogen, wobei davon nur das Dach und eine Ecke sichtbar sind, welche die Ummantelung aus horizontal geschichteten Glas- und Holzbändern aufbrechen. Vor der Hauptfassade mit einer bis fast zur Dachkante reichenden Glasfront erstreckt sich ein weiter Platz, der flächenmässig etwa so gross ist wie der Grundriss des Konzerthauses, das den Vergleich mit den besten Beispielen weltweit nicht zu scheuen braucht.
Alle Fotos © Fabrizio Brentini