Dass Koalitionsregierungen scheitern können, ist weder verwunderlich noch neu. 1982 passierte es schon einmal. Der Vergleich von damals und heute zeigt viele Ähnlichkeiten. Was aber jetzt anders ist: Das Wechseln zu einer neuen Regierung wird nicht so glatt gehen.
Nachkriegsdeutschland hat in den 75 Jahren seines staatlichen Bestehens schon eine Reihe von Krisen erlebt und überstanden. In Sonderheit der ehemals westliche Teil des Landes namens Bundesrepublik. Seit der Wiedervereinigung sind mittlerweile 34 Jahre vergangen. Jahre, die eigentlich beglückt hätten verlaufen sollen und auch können. Doch schon nach einer vergleichsweise kurzen Zeit gemeinsamer Freude über das unvorhergesehene, besser: unvorhersehbare, wirklich historische Ereignis sind links und rechts der Elbe wieder Unmut, Missgunst, Neid und Zwietracht eingezogen. Keineswegs nur im (inzwischen mehr gar nicht so «neuen») Osten, sondern - zumindest in der Tendenz - genauso im satten und saturierten Westen. Das Ganze hier wie dort angereichert um eine zunehmende Politikverdrossenheit, um Fremdenfeindlichkeit und (dies am schlimmsten) um wachsenden, inzwischen sogar schon unverhohlen zur Schau gestellten Antisemitismus. Also: Judenfeindlichkeit.
Man muss nicht ausgewiesener Pessimist sein, um vorherzusagen, dass die gegenwärtige politische Krise die wohl schwerste und daher vermutlich auch am schwierigsten zu meisternde in der deutschen Nachkriegsgeschichte ist. Klar, die rot-grün-gelbe Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP in Berlin ist geplatzt. Genauer: Sie hat sich selbst gegen die Wand gefahren. Das war angesichts des jahrelangen und immer brutaler werdenden Dauerstreits der drei beteiligten Parteien zu erwarten und konnte eigentlich nur politische Naivlinge wirklich überraschen. Scheiternde Regierungen sind an sich nichts Alarmierendes, wenn die demokratischen Grundfesten einer Gesellschaft stabil sind. Dann ordnen sich die politischen Kräfte halt einfach neu und stellen sich den Bürgern zur Entscheidung.
Scheiternde Koalition: nichts Neues
Das war zum Beispiel Anfang der 80-er Jahre so. Ja, vor 41 Jahren. Damals noch in Bonn. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere daran. Auch seinerzeit war die Bundesregierung, in Gestalt eines rot-blauen Bündnisses, am Ende. Zwar gelang es dem in der Bevölkerung hoch geschätzten sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt unter kräftiger Mithilfe seines getreuen Knappen und späteren Freundes, des langjährigen Regierungssprechers Klaus Bölling, den bisherigen liberalen Partner als «Verräter» anzuprangern. Was, nebenbei bemerkt, bei der gleichzeitig erfolgenden Landtagswahl in Hessen die CDU den Sieg kostete. Doch in Wirklichkeit war Schmidt in erster Linie an den eigenen Parteigenossen gescheitert.
Gescheitert in zweifacher Weise, was dem Vergleich mit der gegenwärtigen Situation ruft: einmal wegen der Aussen- und Sicherheitspolitik und zum anderen wegen des sogenannten sozialen Bereichs. Ende der 70-er und zu Beginn der 80-er Jahre tobte in der Bundespublik eine erbitterte, nicht selten geradezu erbarmungslose Auseinandersetzung um die so genannte Nato-Nachrüstung. Es ging um die Stationierung amerikanischer, mit Atomsprengköpfen bestückter Kurz- und Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden. Dies ausdrücklich auf deutschem Wunsch! Helmut Schmidt selbst war schliesslich der erste im Bündnis, der auf eine ernste westliche Sicherheitslücke aufmerksam gemacht hatte, weil die damalige Sowjetunion über Jahre insgeheim entsprechende, auf die Nato-Staaten zielende Waffensysteme wie z. B. die SS-20 aufgestellt hatte. Damit war das bis dahin geltende, den Frieden praktisch garantierende «Gleichgewischt des Schreckens» zugunsten Moskaus und des Warschauer Pakts verschoben.
Entgegen der damals zögernden US-Administration unter Präsident Jimmy Carter brachte der deutsche Sozialdemokrat Schmidt die westlichen Bündnispartner dazu, dem so genannten Doppelbeschluss zuzustimmen, der da lautete: Entweder der Osten baut ab, oder der Westen rüstet nach. Doch im Westen grassierte die Angst vor einem atomaren Inferno. Besonders in der Bundesrepublik, wo sogar der Spruch «Lieber rot als tot» immer mehr Gehör fand – an den Unis, in den Kirchen, bei Friedensbewegten, bei politischen Parteien. Allen voran die grösste Regierungspartei namens SPD und deren Bundestagsfraktion. Sprich: des Kanzlers Genossenschaft. Allein schon diese Entwicklung brachte die sozialliberale Koalition in Existenznöte, weil die mitregierenden Freien Demokraten mit Partei- und Aussenamtschef Hans-Dietrich Genscher an der Spitze absolut zum Nato-Beschluss standen.
Fallen da gewisse Parallelen zur aktuellen Situation auf? War damals die «Nachrüstung» ein wesentlicher Bruchpunkt, so ist es heute – wieder vor allem bei der SPD – die zunehmend umstrittene Haltung zur deutschen Hilfe für die von Wladimir Putin überfallene Ukraine und der auch in dieser Frage tiefe Dissens mit der FDP (und auch mit den Grünen). 1982 erfolgte die zweite Explosion wegen der von Schmidt (infolge von Wirtschaftsflaute und staatlichen Finanznöten) als notwendig empfundenen Sozialpolitik. In einer Brandrede vor seiner Bundestagsfraktion befand der Kanzler seinerzeit: «Es gibt in der gegenwärtigen Lage nur zwei Lösungsmöglichkeiten: Die eine – relativ tiefe Einschnitte in das´soziale Netz` - kann ich mit Euch nicht machen. Die zweite – das Anwerfen der Geldnoten-Presse – könnt Ihr mit mir nicht machen.» Das hiess im Klartext: Wir sind am Ende.
Wie tief sich die Sozialdemokratie damals bereits von dem von ihr gestellten (und im öffentlichen Bewusstsein bis heute hoch geschätzten) Hanseaten Helmut Schmidt entfernt hatte, wurde aller Welt spätestens im Frühjahr 1983 auf dem so genannten Kölner «Raketen-Parteitag» zum Nachrüstungsthema erkennbar, als sich gerade noch 14 (!) der mehr als 200 Delegierten zu ihrem Hamburger Partei-«Freund» bekannten.
Scheidungspapiere damals und heute
Und die zweite mögliche Parallele zu heute? Sie läuft unter dem Begriff «Scheidungspapier». In vielen Kommentaren sowie unlängst in der Parlamentsdebatte und auch in den Auslassungen von Bundeskanzler Olaf Scholz selbst war es das umfangreiche Papier, das Finanzminister Christian Lindner (FDP) von seinem Haus zu der von ihm als notwendig erachteten künftigen Finanz- und Steuerpolitik mit Schwerpunkt eines gewissen Abbaus staatlicher sozialer Leistungen hatte anfertigen lassen. Abseits von richtig oder falsch: Das musste von der SPD als Provokation empfunden werden. Und das wurde es auch. Schliesslich zählt der soziale Sektor historisch zum politischen Glaubensbekenntnis von Deutschlands ältester Partei.
Als «Scheidungspapier» war allerdings auch jenes umfangreiche Konvolut bezeichnet worden, das im Frühherbst 1982 der damalige freidemokratische Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff – übrigens auf ausdrücklichen Wunsch von Kanzler Schmidt – von seinem Staatssekretär Otto Schlecht hatte schreiben lassen. Und das aus Sicht der SPD ebenfalls ein gehöriges Mass an Koalitions-Sprengstoff enthielt. Jedenfalls, und damit dritte Parallele zu heute, entliess Schmidt (manche sagen: schmiss er raus) die seinerzeitigen FDP-Minister und kam damit deren freiwilligem Rücktritt zuvor. Exakt das tat vor wenigen Tagen auch Olaf Scholz. In beiden Fällen bedeutete es das Ende eines existierenden Parteienbündnisses. Wobei die Berliner Ampel-Koalition allerdings das mit Abstand kompliziertere war.
Nun also Neuwahlen am 23. Februar. Wie damals, vor 41 Jahren, nach einem kurzen Winter-Wahlkampf. Doch hier enden auch die Gemeinsamkeiten der beiden so ähnlich scheinenden Ereignisse. Denn 1982/83, als die FDP vorzeitig zur CDU/CSU überschwenkte, konnte sich die so neu entstandene christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl im Bundestag auf eine Mehrheit stützen. Zudem ging auch die Rechnung mit den von Kohl und Hans-Dietrich Genscher zuvor (entgegen den vehementen Widerständen von CSU-Chef Franz-Josef Strauss und SPD-Ex-Kanzler Helmut Schmidt) vereinbarten, vorgezogenen Neuwahlen des Bundestages auf. Kohl und Genscher wollten durch dieses Wählervotum den aussergewöhnlichen Regierungswechsel demokratisch legitimieren lassen. Das war dann der Beginn von 16 Jahren gemeinsamer Regierungszeit.
Verändertes Parteienspektrum
Doch jetzt liegen die Dinge ganz anders. Der Berliner Bundestag besteht nicht mehr aus nur drei oder vier Parteien. Es sind neue hinzugekommen. Politische Kräfte, die überhaupt keinen Anlass zu Freude oder Optimismus geben. Die ursprünglich einmal von einer Handvoll Professoren als «EU-kritisch» gegründete und inzwischen in die extreme rechts-nationalistische Ecke gewechselte Alternative für Deutschland (AfD) und, erst seit etwa einem halben Jahr bestehend, die allein und ausschliesslich auf ihre Person zugeschnittene schillernde Bewegung Sarah Wagenknecht (BSW), der Frau des früheren SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine. Im Übrigen – was heisst «hinzugekommen»? Beide neuen Kräfte haben gerade in jüngster Zeit einen unglaublichen Zulauf erhalten. Sie wurden also gewählt. Von den Bürgern dieses Landes. Und vieles spricht dafür, dass auch die Wahlen am 23. Februar diese schon bei den Urnengängen zu den neuen Landtagen in Bayern und Hessen sowie in Thüringen, Sachsen und Brandenburg manifeste Entwicklung, wenigstens im Grundsatz, nicht verändern wird. Und dann?
Es schien etliche Jahrzehnte so, als sei seit dem Ende der Hitler-Barbarei in Deutschlands Gesellschaft tatsächlich so etwas entstanden wie eine gefestigte, demokratisch gesinnte Mitte. Jedenfalls gefestigt genug, um «normale» extreme Gebilde auf den äussersten Flügeln links und rechts, wie sie praktisch in allen offenen Gesellschaften der Welt auftreten, locker abzufedern. Das war offensichtlich ein Trugschluss. Und dieser Trugschluss ist sichtbar geworden im Zuge von – zugegeben – extremen, auf jeden Fall alle Bürger bis hin zur Verängstigung bewegenden Ereignissen, zu denen allen voran die seit 2015 vor allem Deutschland bedrängende Massenmigration zählt. War die für die heimische Bevölkerung psychisch wie physisch schon schwierig genug zu verarbeiten, so traf das zusätzlich noch auf die Tatsache, dass die traditionellen demokratischen Parteien die schwelende Zeitbombe lange Zeit ignorierten. Bewusst ignorierten. Das Ergebnis ist bekannt. Es bildete sich ein Vertrauensvakuum, wie geschaffen für jene Kräfte, die mit scheinbar einfachen Lösungen zu punkten wussten. Und dies weiterhin tun.
Wenn inzwischen bei Landtagswahlen jede dritte Person bei AfD oder BSW ihr Kreuzchen macht, dann kann man es drehen und wenden wie man will – dann ist die Demokratie, so wie sie lieb gewonnen zu sein schien, in Gefahr. Dann kommt es wahrscheinlich auch im Westen demnächst zu Wahlergebnissen wie jüngst in den drei ostdeutschen Ländern. Denn die Tendenzen sind ja jetzt schon erkennbar. Nicht zuletzt wegen der Schwächen bei CDU/CSU, SPD, FDP und auch bei den Grünen verfängt der längst tot geglaubte Lockruf nach den «starken Männern» ganz offensichtlich wieder. Es ist ja auch viel einfacher, sich dem Austauschen von Argumenten, der Suche nach Kompromissen, dem mühsamen Abwägen von richtig und falsch, machbar und utopisch zu entziehen und stattdessen dem oder denen da oben zuzujubeln.
Hatte wirklich der legendäre gewaltfreie indische Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi recht? Er hatte bekanntlich den Hoffnung gebenden Spruch, dass die Geschichte die Völker lehre, pessimistisch so umgedeutet: «Die Geschichte lehrt die Völker, dass diese aus der Geschichte nichts lernen wollen.» Die Bundestagswahl nach dem Ende der fragilen Berliner Regierung wird Ende Februar zeigen, wer Recht hat. Sie wird zu einer echten Prüfung der politischen Reife in Deutschland.