Der französische Plastiker Aristide Maillol (1861–1944) schuf fast ausschliesslich Frauenakte. Darf man sich heute noch unbeschwert an ihnen freuen? Der Vorwurf der politischen Unkorrektheit steht im Raum. Das Kunsthaus ist bemüht, ihm aus dem Weg zu gehen.
Fraglos ist Aristide Maillol nach Rodin die zentrale Figur der französischen Skulptur im 20. Jahrhundert. Er erreichte mit seinen klassisch-schönen Figuren ikonische Bekanntheit und Anerkennung weit über Frankreich hinaus. Mit seinen teils monumentalen Werken prägte er weite Teile der Skulptur in Europa und wurde zum Inbegriff klassischer Ruhe und Gemessenheit – und zugleich einer sinnlichen Lebensfreude. Seine stets figürlicher Tradition verpflichteten Skulpturen bezeugen ein Gefühl des Künstlers für vollendete Proportionen und ein hochentwickeltes Raumempfinden. Die Tektonik seiner Figuren ist perfekt. Statik und Dynamik halten sich die Waage. Sein Lebenswerk tendiert auf Harmonie. Da ist nichts von den Verwerfungen der Zeit zu spüren, nichts von den Weltkriegen.
Und so ist auch nur schwer eine Entwicklung auszumachen. Ebenso suchte er nicht nach metaphorischer Überhöhung seiner Figuren. Zu einem seiner bekanntesten Werke, zu «La Méditerranée» (1905–1907, u. a. Römerholz, Winterthur), soll er gesagt haben: «Sie ist schön. Sie bedeutet nichts.» Maillols Beziehungen zur Schweiz waren intensiv – einerseits zu Sammlern wie Hahnloser und Oskar Reinhart in Winterthur, andererseits auch zu Künstlern, die sich von ihm anregen liessen und, meist vergeblich, nach ähnlicher Zeitlosigkeit suchten – vom Basler Ernst Suter bis hin zum Aargauer Eduard Spörri.
Harte Schlagschatten
«Maillol – die Suche nach Harmonie» titelt das Kunsthaus Zürich folgerichtig für die Ausstellung. Sie ist eine Übernahme vom Musée d’Orsay in Paris und präsentiert den «ganzen Maillol» mit den frühen Malereien, die in die Nähe zu den Nabis und zu Maurice Denis führen, mit Textilen, Kleinskulpturen, mit den Zeichnungen und Buchillustrationen – und mit den Hauptwerken und Grossskulpturen.
Die Kuratoren setzten die Skulpturen Maillols scharfem Scheinwerferlicht aus, das harte Schlagschatten wirft und den Besucherinnen und Besuchern vor allem Dramatik statt Oberflächensensibilitäten vor Augen führt. Ob das im Sinne Maillols ist? Zeitgenössische Aufnahmen von Maillol-Skulpturen, zum Beispiel des berühmten Fotografen Eugène Druet (1876–1916), der auch für Rodin fotografierte, bezeugen jedenfalls ein diffuses Licht oder gar Tageslicht, das die Feinheiten der Modellierung besser zur Geltung bringt. Möglich, dass die fensterlosen Räume für Wechselausstellungen im sonst viel gelobten neuen Chipperfield-Bau zu Kompromissen zwangen, zumal der «Bührle-Saal» mit seinen besseren Lichtbedingungen gegenwärtig von der Ausstellung Niki de Saint Phalles belegt ist.
«Derb die Brüste»
Maillol, dem Hitlers Lieblingsbildhauer Arno Breker 1943 eine Büste widmete, wurde in Frankreich als Inbegriff französischer Kunst und Kultur gefeiert. Jean Girou nannte ihn 1938 einen grossen «französischen Klassiker; er ist das wundervolle und authentische Produkt unserer Rasse». Der deutsche Kunstschriftsteller Hugo Kubsch sah in Maillol einen mit der «Scholle» vertrauten Künstler.
Es gab aber schon in den 1920er-Jahren andere Stimmen. Nicht ohne Ironie schrieb 1928 der für die Rezeption der Moderne in Deutschland wichtige Julius Meier-Graefe, Maillols Welt bestehe «aus Frauenschenkeln, Frauenbrüsten, Frauennacken und den Plänen, Ebenen, Schnitten zwischen den Körperteilen». In den gleichen Zwanzigern hielt der Kritiker Ernst Collin bitterböse und sarkastisch fest, es gebe bei Maillol «keine Kranken, keine mondänen Gestalten, sondern Frauen und Mädchen von sinnlicher Fülle des Fleisches, derb die Brüste und das Becken, dick die Waden».
Interessant ist, dass der theorieferne Maillol selber ähnliche Worte verwendete, allerdings dreister, bar jeder Ironie und strotzend von Selbstbewusstsein. Als Ministerpräsident George Clemenceau ihm den Auftrag zur 1908 vollendeten Gedenkskulptur für den Pariser Kommunarden Louis-Auguste Blanqui erteilte, soll er zur Antwort gegeben haben: «Ich mach Ihnen einen schönen grossen Frauenarsch und nenne ihn ‹Die Freiheit in Ketten›.»
Ausschliesslich Frauen
Tatsächlich widmete Aristide Maillol fast sein ganzes skulpturales Schaffen und ebenso seine Zeichnungen dem nackten weiblichen Körper. Es sind stehende, liegende, hockende, kauernde Akte – Eva mit Äpfeln, Venus, Nymphen, Badende mit und ohne Tücher. Es sind selbst Frauen, die – als Denkmäler – an Männer erinnern, an Gefallene des Ersten Weltkrieges in Céret oder in seinem Heimatort Banyuls, an verunglückte Flieger in Toulouse oder an Paul Cézanne. (Zum Glück, liesse sich sagen, denn aus Deutschland kennen wir, von Kolbe, Breker oder Thorak zum Beispiel, Denkmäler von peinlich praller Männlichkeit.)
Männerakte sind bei Maillol ganz seltene Ausnahmen. Beispiele sind der etwa 30 cm hohe «Junge Mann» (1908–30) oder der «Radfahrer» (1907/08), beide aus dem Besitz von Maillols tatkräftigstem Förderer Harry Graf Kessler, sowie eine Aktzeichnung des Tänzers Vaslav Nijinski. Wiederum war es Kessler, der eine Nijinski-Figur von Maillol als Krönung für das Nietzsche-Denkmal in Weimar vorsah, das aber nicht zustande kam.
«Maillol – ein anderer Blick»
Diese manisch anmutende radikale Aufmerksamkeit, die Maillol auf den nackten weiblichen Körper richtete, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl eine Selbstverständlichkeit. Und noch 1996, als in Lausanne eine ebenfalls umfassende Maillol-Ausstellung zu sehen war, veranlasste das kaum jemanden zu irgendwelchen Fragen. Die feministische Kunstkritik hatte Maillol noch nicht im Visier. Heute hat der Wind gedreht. Ob man sich (als Mann) heute noch unbeschwert an Maillols Akten freuen darf?
Der Vorwurf der politischen Unkorrektheit steht im Raum. Ihm will das Kunsthaus Zürich offenbar sorgsam aus dem Weg gehen. Es nimmt eine mögliche Kritik an seinem Unterfangen vorweg und begleitet die Ausstellung – die noch in den Planungsbereich des jüngst abgetretenen Direktors Christoph Becker fällt – mit einer Broschüre. «Maillol – ein anderer Blick», so ihr Titel, sucht nach Kontextualisierung, die die Übernahme vom Musée d’Orsay selber nicht leistet, die heute aber offenbar unerlässlich scheint.
Eine Serie von Fotografien von Franca Candrian zeigt Maillols Skulptur «Venus mit der Halskette» in Konfrontation mit Werken von Künstlerinnen aus der Zürcher Kunsthaussammlung, u. a. von Ottilie Wilhelmine Roederstein, Meret Oppenheim, Sophie Taeuber-Arp, Isa Genzken, Sylvie Fleury, Angelika Kauffmann, Verena Loewensberg. Die britische Kunsthistorikerin Catherine McCormack, Autorin verschiedener Publikationen zum Thema Frau und Kunst, steuert einen Essay bei mit einer fulminanten Kritik des in Maillols Skulpturen formulierten Frauenbildes und mit der ebenso kritischen Schilderung der Bedingungen, unter denen die Modelle ihrer Arbeit nachgehen und wie sie – meist aus wirtschaftlicher Not – sich zur Schau stellen mussten. Die selbstbewussten und selbständigen Arbeiten der erwähnten Künstlerinnen sind in McCormacks Sinn die Antwort auf Maillol, dessen Akte «einer Vergangenheit angehören, die mit ihren Sitten, Glaubenssätzen und Symbolen unbekanntes Territorium ist und uns Menschen des 21. Jahrhunderts perplex und befremdlich vor den Kopf stösst».
Die Frage mag sich dann aber stellen: Warum heute diese breite Übersicht über Maillols Werk, die gegenüber früheren ähnlichen Unternehmungen kaum wesentliche neue Erkenntnisse bringt? Weil das Musée d’Orsay das Angebot machte? Weil Maillols «bedeutungslose Schönheit» auch heute erfolgversprechend sein mag? Vielleicht als beruhigender Kontrast zu Niki de Saint Phalle im Bührle-Saal.
Kunsthaus Zürich, bis 22. Januar, Katalog vom Musée d’Orsay in französischer Sprache, 68 Franken
Sammlungspublikation mit Fotos von Franca Candrian und einem Essay von Catherine McCormack, 21 Franken
Fotos: Niklaus Oberholzer