Dekorative Stickereien haben in der Bündner Volkskunst eine lange Tradition. Das Bündner Kunstmuseum fragt nach ähnlichen Techniken in der Gegenwartskunst und wartet mit weitreichenden Querverbindungen auf.
«Venedigsche Sterne» ist die Ausstellung im Bündner Kunstmuseum betitelt. Das klingt exotisch. Der Untertitel «Kunst und Stickerei» sagt wohl, was die Besucherinnen und Besucher erwartet, doch warum dieser Titel? Er stammt von Christian Egenolffs 1564 in Frankfurt erschienenem «Modelbuch, aller Art Nehwens und Stickens». Das Musterbuch, eine Anweisung für Nähen und Sticken, bezeugt, dass die Wanderung kultureller Güter keine Erfindung unserer Zeit ist und dass der noch junge Buchdruck schon im 16. Jahrhundert eine frühe Art der Globalisierung beschleunigte: Egenolffs «Modelbuch» transportierte Anleitungen zu textiler Handarbeit von Venedig als kulturellem Scharnier zwischen Europa und Orient in den Norden Europas.
Ob das Buch in der schon damals verbreiteten Stickereipraxis der Bündner Bergtäler konkrete Anwendung fand, ist kaum von Belang. Wichtiger ist den Kuratoren der Ausstellung – Stephan Kunz, Direktor des Bündner Kunstmuseums, und Susann Wintsch, Spezialistin für die Gegenwartskunst des Vorderen Orients – das Faktum, dass die Bündner Stickereitradition, wie sie die grosse Sammlung des Rätischen Museums in Chur dokumentiert, kein Inseldasein fristet und sich in ihren Dekorationen oft importierter Motive bediente.
Kunz/Wintsch machen Schichtungen und Verbindungslinien hierhin und dorthin sichtbar – auch über die Jahrhunderte und über Kulturräume hinweg. Sie sensibilisieren die Freundinnen der Bündner Stickerei für vergleichbare Erscheinungen in der internationalen Gegenwartskunst und zeigen umgekehrt einem an Gegenwartskunst interessierten Publikum, dass die textilen Techniken, wie sie in der klassischen Moderne und erneut ab den 1970er-Jahren praktiziert werden, auch in ganz anderem kulturellem Kontext Anwendungen finden – nicht nur in Europa, sondern auch weit darüber hinaus. Und: Dass Stickerei beileibe nicht immer harmlos sein muss. Das führt zu einer erlebnisdichten, vielseitigen Ausstellung, die Besucherinnen und Besucher einlädt, dem komplexen Beziehungsnetz nachzuspüren und sich einzufühlen in erweiterte Dimensionen einer Kunstwelt.
Stickkunst der frühen Moderne
Ausgangspunkt der Ausstellung ist eine Präsentation von Bündner Stickereien aus der Sammlung des Rätischen Museums. Die Vitrinen zeigen Mustertücher, Referenzstücke, Tischdecken, Paradehandtücher, Kissenbezüge, Wandbehänge, Dekorationen von Trachten, Stickereien für rituellen Gebrauch, wie etwa Taufdecken. Manche zeigen einfache abstrakte Ornamente, Hirsche und Vögel oder Blumen. Andere erzählen ganze Lebensgeschichten. Ganz verschiedene Stiche kommen zur Anwendung, ebenso unterschiedliche Materialien. Oft ist dem für Graubünden typischen Kreuzstich mit rotem Garn auf Leinen zu begegnen.
Um diesen Ausgangspunkt gibt die Ausstellung Einblick in die Stickereipraxis der frühen Moderne in der Schweiz. Wichtige Namen sind hier Alice Bailly (1872–1938), die sich nicht nur des Pinsels und der Farben bediente, sondern auch mit Nadel und Faden «malte», sowie Sophie Taeuber-Arp (1889–1943), Pionierin der textilen Kunst in der Schweiz und überdies, wie die Ausstellung im Kunstmuseum Basel (2021) zeigte, Universal-Künstlerin in umfassendstem Sinne. Auch Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) kommt zu Wort. Er führte seine Stickereien allerdings nicht selber aus, sondern überliess seine mit farbigen Fadenmustern versehenen Entwürfe zur Bearbeitung der Textilkünstlerin Lise Gujer.
Die aktuelle Präsentation in Chur gibt spannende Einblicke in die Transfer-Praxis der expressionistischen Kirchner-Motive in die Textilkunst. Auch Alighiero Boetti (1940–1994) führte seine Stickereien nicht selber aus, allerdings nicht aus praktischen Gründen, sondern mit kolonialpolitischem Hintergrund: Er überliess die Ausführung seiner Stickereien – der monumentalen Arbeit «I mille fiumi più lunghi del mondo» und anderer Werke – Frauen in Afghanistan, wo er, in Kabul, das One Hotel betrieb. Die Afghaninnen wandten die ihnen vertraute traditionelle Stickereitechnik an und erhielten von Alighiero Boetti eine entsprechende Entlöhnung.
Feministischer Hintergrund
Stephan Kunz und Susann Wintsch fragen auch nach dem Stellenwert des Stickens in der feministisch geprägten Avantgarde der 1970er und 1980er Jahre. Die 1946 geborene Annegret Soltau ist dafür ein Beispiel mit ihren vernähten fotografischen Selbstportraits, ein weiteres Beispiel ist die 1943 geborene Amerikanerin Elaine Reichek, die zur Stickerei griff, weil diese Technik im Unterschied zur Malerei nicht bereits von Männern beansprucht wurde und darum der Künstlerin mehr Freiheit ermöglichte. Sie umkreist in ihren Arbeiten den Ariadne-Mythos. Den berühmten Ariadne-Faden zeigt sie nicht explizit, doch indem sie in ihren Stickereien nach berühmten historischen Ariadne-Darstellungen das Garn verwendet, schreibt sie sich selber in den Ariadne-Mythos ein.
Eine wichtige Rolle im Churer Ausstellungskonzept spielt Louise Bourgeois (1911–2010). Sie ist längst eine Ikone vielseitigster weiblicher Kreativität und war in der Schweiz seit ihrer Ausstellung im Kunstmuseum Bern 1991 immer wieder präsent. Sie ist auch eine Pionierin im Einbezug verschiedener textiler Techniken in ihre künstlerische Arbeit. Bourgeois ist mit vielen Werken in Chur vertreten – u. a. mit «Don’t Swallow Me!» von 2008, einem grossformatigen Spiel mit verschiedenen Medien wie Radierung, Gouache, Bleistift unter Verwendung eines grossen ovalförmig arrangierten Stoffstückes, wohl eines Unterrocks: Beispiel einer für Bourgeois typischen drastischen Darstellung weiblicher intim-erotischer Empfindung.
Blick über die Grenzen
Die Ausstellung «Venedigsche Sterne» lässt, und das gibt ihr einen besonderen Stellenwert, in manchen Teilen über die Grenzen Europas hinaus in arabisch geprägte Kulturräume blicken, in deren traditioneller Volkskunst das Stickhandwerk eine wichtige Rolle spielt. Darauf bezieht sich zum Beispiel die Türkin Gözde Ilkin (*1981), die bereits mit Stickereien versehene Aussteuer-Bettwäsche ihrer Mutter mit einem dreiteiligen Lebenszyklus-Bild bestickte und dabei auch auf Bündner Stickereien aus dem Rätischen Museum Bezug nimmt.
Einem ähnlichen Brückenschlag kommt man in den Arbeiten von Susan Hefuna (*1962) auf die Spur. Die Tochter eines muslimischen Ägypters und einer katholischen Deutschen nimmt das Motiv vergitterter halbtransparenter Fenster nordafrikanischer Architektur auf und arbeitet in den in Chur gezeigten Werken mit Überlagerungen von weissen, mit Zeichnungen und gestickten Wörtern versehenen Stoffen. Hefuna war an zahlreichen internationalen Ausstellungen beteiligt und lebt in Berlin, wo sie im Neuen Museum eine Installation realisieren wird. Auch das ist ein Brückenschlag, diesmal über Jahrtausende hinweg, beherbergt das Neue Museum die Berlin doch eine Sammlung altägyptischer Kunst.
Stickerei mit politischer Stossrichtung
Manch eine Werkgruppe in der Ausstellung erschliesst sich für die Besuchenden erst, wenn sie um die Geschichten dahinter wissen. Ihre politische Sprengkraft wird erst so erfahrbar, denn was zu Beginn harmlos erscheint, kann durchaus politische Sprengkraft entwickeln. Das gilt etwa von der berührenden Installation der 1994 in Afghanistan geborenen, heute in Teheran lebenden Latifa Zafar Attaii. Sie gehört zur Ethnie der Hazara, die unter zahlreichen Diskriminierungen zu leiden haben. Die Künstlerin thematisiert diese hierzulande kaum wahrgenommenen Ausgrenzungen, indem sie 1000 kleinformatige Fotos von Angehörigen der Hazara so bearbeitete, dass sie die Gesichter mit buntem Besticken unkenntlich macht (Bild oben).
Auch die Serie «Taraneh» (persisch für Liebeslied) von Rozita Sharafjahan (*1962) versteht in ihrer politischen Bedeutung nur, wer um die Hintergründe weiss: Die in Teheran lebende Künstlerin bestickt Digitalprints von Portraits von Sängerinnen mit Ornamenten. Es sind in ihrem Kulturkreis berühmte und beliebte Künstlerinnen, die wegen grundsätzlicher Diskriminierung von Frauen in islamischen Ländern nicht auftreten und ihre Kunst nicht ausüben können.
Thema «Frauenkunst»
Die überwiegende Mehrzahl der in Chur Ausstellenden sind Frauen. Alighiero Boetti, Jean-Frédéric Schnyder und Ernst Ludwig Kirchner sind die Ausnahmen. Textile Techniken in der Kunst werden tatsächlich häufig immer noch und oft etwas voreilig mit Frauen und Frauenarbeit in Verbindung gebracht. Noch weit ins 20. Jahrhundert galt: Ernstzunehmende Künstler sind Männer; Kunsthandwerk ist Sache der Frauen. Der Wind hat gedreht. Künstlerinnen sind seit einiger Zeit (rechtens, nach langer Benachteiligung) in besonderem Masse im Schweizer Ausstellungswesen präsent – just jetzt, um ein paar Beispiele zu nennen, in Zürich (Niki de Saint-Phalle), Luzern (Shara Hughes), Aarau (Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau), Basel (Fun Feminism), Schaffhausen (Sandra Böschenstein/Zilla Leutenegger), Glarus (Silvia Kolbowski und Laua Langer), St. Gallen (Manon de Boer).
Schliesst sich das Kunstmuseum Chur dem weit verbreiteten Trend an? Vielleicht, und dagegen wäre nichts einzuwenden. Doch im Ausstellungstitel und in den Saaltexten, auch im Katalog zu «Venedigsche Sterne» wird «Frauenkunst» weder thematisiert noch theoretisch abgehandelt. Das Thema wird einfach und ohne viel Gerede in die Praxis umgesetzt, als sei dies – was es tatsächlich ist – eine Selbstverständlichkeit.
Möglich, dass damit der Sache sehr viel besser gedient ist.
Bündner Kunstmuseum Chur. Bis 20.11.
Informative und reich bebilderte Publikation: Venedigsche Sterne – Kunst und Stickerei. Scheidegger und Spiess. 252 Seiten, 38 Franken