Autoren wie Erich-Maria Remarque und Arnold Zweig schilderten die Schrecken des ersten Weltkrieges. Dobrica Cosic aus Belgrad verherrlichte den Kampf – den der Serben.
Der Satz ist bezeichnend – bezeichnend für zwei Bücher, welche der im Mai 2014 verstorbene serbische Autor Dobrica Cosic in den Jahren 1978 und 1980 geschrieben hat. „A Time of Death“ ist der Titel der englischen Ausgabe des ersten Werkes, das zweite nennt sich „Reach to Eternity“. Gleich am Anfang des ersten Bandes findet sich der Satz: „Wenn Frieden und Sieg in den Balkankriegen uns nicht vereinigen konnte, dann lass wenigstens Krieg und Leiden uns zusammen bringen.“
Das Leiden der Serben
„Leiden“, dieses Wort ist immer noch ein Schlüsselwort für viele Serben. Leiden, weil der mittelalterliche serbische Staat in der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) am 28. Juni1389 gegen die Osmanen untergegangen ist; Leiden, weil es über Jahrhunderte nicht gelungen ist, alle Serben in einem Staat zu vereinigen; und Leiden bis heute, weil wiederum Serben in Serbien, aber auch in Bosnien, im Kosovo und anderen Staaten getrennt von einander leben müssen.
Man mag diese Art Selbstmitleid belächeln und ablehnen, aber da diese Geisteshaltung immer noch erheblichen Einfluss auf die Geschichte der Region hat, muss man sie zumindest erklären. Und dabei spielt Dobrica Cosic eine grosse Rolle. Cosic, 1921 geboren, kämpfte in Titos Partisanenarmee, arbeitete später in der Propagandaabteilung des jugoslawischen Kommunisten, galt jahrelang als enger Vertrauter Titos – bis er die Tatsache kritisierte, dass die Zentralregierung in Belgrad immer mehr an Einfluss verlor und Macht an nationale Parteibürokratien etwa in Slowenien und Kroatien abgeben musste. Er überwarf sich mit Tito, als dieser Regionen wie der Vojvodina und dem Kosovo, beide Teile der Republik Serbien innerhalb der jugoslawischen Föderation, mehr Macht geben wollte.
Vom Tito-Kritiker zum Nationalisten
Als Cosic in Opposition zu Tito stand, habe ich in den frühen 1980-er Jahren als Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Belgrad zu Cosic fast freundschaftliche Beziehungen unterhalten. Damals beklagte er in erster Linie die mangelnden demokratischen Strukturen des Tito-Staates. Später, in der Zeit der Auflösung des südslawischen Staates, trat Cosic mehr als serbischer Nationalist hervor, was für mich eine grosse Enttäuschung darstellte.
In der Frühzeit der Opposition schrieb Cosic die beiden Werke, in denen er die Leiden des serbischen Volkes im ersten Weltkrieg beklagte. Im Prinzip verherrlichte er den Kampf – trotz aller Leiden, die der Krieg über sein Volk brachte. In der Folgezeit entwickelte er die Theorie, daß die Serben in der von Tito gegründeten „Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien“ unterrepräsentiert seien – und dass die Serben im Kosovo einem Genozid der Albaner ausgesetzt seien.
Von Cosic stammt der Satz, die Serben hätten stets ihre Kriege gewonnen, den Frieden aber stets verloren. „Vater der Nation“ wurde Cosic von vielen seiner serbischen Landsleuten genannt. So gross war sein Ansehen, dass er 1992 für kurze Zeit der erste Präsident der „Föderativen Republik Jugoslawien“ wurde, die aus Serbien und Montenegro bestand.
Miturheber der jugoslawischen Katastrophe
Cosic gilt auch als Mitautor des 1986 bekannt gewordenen „Memorandums der Serbischen Akademie der Wissenschaften“, in dem – damals bestand Gesamtjugoslawien noch – der schwindende Einfluss Serbiens im jugoslawischen Gesamtstaat beklagt wurde.
Für Kroaten und Bosniaken etwa und auch für manche zeitgenössische Beobachter gilt Cosic heute als einer der intellektuellen Urheber der jugoslawischen Katastrophe. Cosic und seine Mitdenker stehen in einer langen Tradition eines ursprünglich durchaus verständlichen serbischen und südslawischen Nationalismus, der seine Ursache in der jahrhundertelangen Unterdrückung durch die Osmanen und anschliessend durch die Annexion Bosniens (1908) mit seinen vielen serbischen Einwohnern durch Österreich-Ungarn hatte.
Hundert Jahre nach Ausbruch des ersten Weltkrieges muss man aber fragen, wieso der einst verständliche Nationalismus der südslawischen Völker, besonders jener der Kroaten und Serben, eine Richtung eingeschlagen hat, die in den 1990-er Jahren zu einem blutigen Krieg geführt hat.
Unterschätzte Freiheitsbestrebungen
Rückblick. Vladimir Dedijer, in Belgrad geboren, der serbischen Dynastie der Karadjordjevic verwandschaftlich nahestehend, Historiker, Partisan, wie Cosic einst Tito-Vertrauter, beschreibt in seinem 1960 erschienenen wegweisenden Buch „The Road to Sarajevo“ die Lage der Südslawen innerhalb der europäischen Mächte der Epoche. Historiker und Politiker der damaligen Zeit hätten in grossem Stil die nationale Frage unterschätzt, besonders aber die lange Geschichte der Slawen in Zentraleuropa.
Diese Slawen hätten am Vorabend des Ersten Weltkrieges in vier verschiedenen Staaten gelebt, unter acht verschiedenen Regierungssystemen. Wie die Ungarn und Italiener hätten sie das Ziel gehabt, sich von der Fremdherrschaft zu befreien. Die habsburgischen Herrscher hätten, so schreibt Vladimir Dedijer, in keiner Weise die Motive und die Geschichte dieser Emanzipationsbewegungen verstanden.
Geschichte aus südslawischer Sicht
Vladimir Dedijer ist einer der wenigen Historiker, die den „Weg nach Sarajevo“ und damit den Weg zum ersten Weltkrieg aus südslawischer Sicht beschreiben. Ideologisches, politisches und vor allem nationales Zentrum des Widerstandes war eine Gruppe, die sich „Mlada Bosna“, junges Bosnien nannte. Ihr – sozusagen nationaler – Alptraum war die Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn im Jahre 1908, ein politischer Kardinalfehler, der schliesslich zum Ausbruch des Weltkrieges entscheidend beigetragen hat.
„Mlada Bosna“ umfasste allerdings keineswegs nur bosnische Serben oder bosnische Muslime. Mlada Bosna war eine im besten Sinne südslawische Organisation, in der sich Kroaten ebenso fanden wie Slowenen sowie Serben und Montenegriner. Ähnliche Organisationen, die für die Befreiung ihres Landes von Fremdherrschaft kämpften, hatte es zuvor etwa auch in Italien gegeben. Im südslawischen Kontext betrachtet, legte Mlada Bosna das ideologische Fundament für die Gründung Jugoslawiens, des Staates der Südslawen nach Kriegsende im Jahre 1918/19.
Zu der Gruppe Mlada Bosna gehörte auch der Attentäter vom 28. Juni 1914, Gavrilo Princip. Die Familie Princip, bosnische Serben orthodoxen Glaubens, stammt aus dem kleinen Ort Grabovo in Bosnien. Ihre Lebensweise war die wie der meisten in Bosnien. Man lebte in einer Zadruga, einer Grossfamilie. Die jahrhundertelange Herrschaft der Osmanen lastete schwer auf den Menschen.
Habsburgs Herrschaft brachte keine Freiheit
In den 1870-er Jahren hatten sich die Menschen in verschiedenen Aufständen gegen die Türken erhoben. Diese balkanischen Unruhen veranlassten den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck 1878, einen Kongress nach Berlin einzuberufen. Dort wurde unter anderem vereinbart, Bosnien und Herzegovina unter der formalen Oberherrschaft des türkischen Sultans an das Habsburgerreich anzugliedern.
Für die Menschen des Landes brachte das keine Freiheit, es wechselte nur die Oberherrschaft. Und der Widerstand richtete sich jetzt nicht mehr gegen Istanbul, sondern gegen Wien. Die Habsburger gaben dem Land zwar eine neue Infrastruktur, aber das Feudalsystem schafften sie nicht ab. Die Menschen dieser Gebirgswelt, zusammengefasst in den Grossfamilien, leisteten weiter Widerstand. Es waren meistens Bauern, des Lesens und Schreibens nicht mächtig, die sich gegen die Fremdherrschaft erhoben. Und es waren nicht nur bosnische Serben, welche Attentate gegen die Besatzer planten. Am 8.Juni 1912 versuchte ein Kroate aus Bosnien, Lika Jukic, den Gouverneur von Kroatien und königlichen Gesandten, Slavko Cuvaj, zu ermorden.
Vladimir Dedijer spricht von einem dinarischen Menschentyp (abgeleitet von den dinarischen Alpen, die sich durch das ehemalige Jugoslawien ziehen), den die Habsburger nie richtig verstanden hätten. Es war dieser Menschentyp, geprägt vom harten Leben in den Bergen, über Jahrhunderte unterdrückt, der schliesslich auch gegen Habsburg rebellierte. Gavrilo Princip erklärte während seines Prozesses, sein Vorbild sei der Italiener Giuseppe Mazzini gewesen, der die Einigung Italiens vorangetrieben habe. Genauso hätten er, Princip und seine Mitverschwörer, alle Südslawen in einem Staat, in einem neuen Jugoslawien vereinigen wollen.
Idealisierter Widerstand gegen Tyrannei
Ihre Motivation erhielten die Widerstandskämpfer auch aus dem Kosovo-Mythos, aus jener sagenumwobenen Schlacht auf dem Amselfeld vom 28. Juni 1389, in der ihr alter Staat untergegangen war. Schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sei, schreibt Vladimir Dedijer, die heroische Überlieferung der Kosovoschlacht in mündlicher Form unter den Bauern Bosniens verbreitet worden. Im 19. Jahrhundert formulierte dann der Fürstbischof von Montenegro, Njegos, in seinen lyrischern Werken das Recht auf Widerstand gegen die Tyrannei. Dieser Widerstand sei nicht nur göttliches Recht, sondern ein Naturrecht.
Ebenfalls im 19. Jahrhudnert fasste der serbische Autor Vuk Karadzic viele dieser heroischen Werke in einer Art Anthologie zusammen. Goethe, der mit Vuk Karadzic in Verbindung stand, lobte diese heroische jugoslawische Volksdichtung, Lord Byron schätzte die heroische bosnische Dichtung, Sir Walter Scott übersetzte sie, wie Dedijer schreibt, ins Englische, Alexander Puschkin ins Russische und Adam Mickiewicz, polnischer Nationaldichter, ins Polnische.
Serbischer Staat nach 1918 verwirklicht
Das Ende des ersten Weltkrieges brachte für die Südslawen, also auch für die Serben, die Erfüllung ihres Traumes: die Gründung eines gemeinsamen Staates. Herrschende Dynastie wurde das serbische Königshaus der Karadjordjevic. Es dauerte nicht lange, bis diese einen zentralistischen Staat, eine Königsdiktatur, errichtete und die anderen südslawischen Völker unterdrückte. Als deutsche Truppen 1941 in dieses Jugoslawien einmarschierten, brach der Staat der Südslawen auch deshalb auseinander, weil sich kaum einer mehr mit diesem Staat identifizieren wollte.
Josip Broz Tito, ein Kroate, machte einen neuen Anfang, indem er allen Nationalitäten gleiche Rechte versprach. Diesmal wurde das Versprechen – trotz aller Schwächen des neuen Jugoslawien – eingehalten. Doch es regten sich die Nationalitäten, Kroaten und Serben fühlten sich vernachlässigt. Einer der serbischen Nationalisten war Dobrica Cosic. Statt die Völker des südslawischen Staates zusammenzuhalten, predigte er serbischen Nationalismus – obwohl die Ziele Gavrilo Pricips und der Vereinigung Mlada Bosna – die Zusammenführung der Südslawen in einem Staat – erreicht war.
Das Scheitern des Traums
Das Ergebnis: Heute leben die Serben wieder getrennt – in der Republik Serbien, in Bosnien und Herzegowina, im Kosovo, in Montenegro, einige in Kroatien. Und all diese ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken sind heute selbständige Staaten. Das Gegenteil von dem, was Mlada Bosna und die Attentäter um Princip einst anstrebten, und das Gegenteil von dem, was Dobrica Cosic einst wollte, ist traurige Realität.
Im Bosnienkrieg der 1990-er Jahre und in der Belagerung Sarajevos, die länger dauerte als jene von Leningrad durch Hitlers Truppen im Zweiten Weltkrieg, hat der serbische Nationalismus endgültig jene Berechtigung verloren, die er vor einem Jahrhundert im Rahmen der südslawischen Unabhängigkeitsbestrebungen durchaus hatte.
Trotzdem lebt ein pervertierter serbischer Nationalismus weiter fort. Aleksandar Vucic, Serbiens Premier, war früher Anhänger von Slobodan Milosevic, heute gilt er als pro-europäisch, äusserlich. Milorad Dodik, Präsident der serbisch-bosnischen Teilrepublik im Gesamtstaat Bosnien-Herzegovina, bleibt Bannerträger des überholten serbischen Nationalismus auf dem Territorium des alten Jugoslawiens.
Dobrica Cosic, der „Vater der serbischen Nation“ verstarb im Frühjahr 2014. Resignierend musste er feststellen, wie einhundert Jahre nach Ausbruch des ersten Weltkrieges sein Traum von einem südslawischen Staat unter serbischer Dominanz scheiterte – für immer.