Trotzdem strebt das Gebilde in die Europäische Union. Die Hauptstadt Sarajewo, einst bewohnt von fast allen Nationalitäten des unter gegangenen Jugoslawiens, ist heute eine fast rein muslimische Stadt.
Reise mit dem Zug
Die Reise von Belgrad in das eigentlich nur etwa 200 Kilometer entfernte Sarajewo als ungewöhnlich zu bezeichnen, wäre eine durchaus starke Untertreibung. Man kann den Bus nehmen – aber der fährt meistens nicht bis zum Zentrum Sarajewos, sondern macht seinen letzten Halt in Lukavica, einem Teil der „Republika Srbska“ im Osten der Stadt. Dort muß man warten, bis ein paar Taxis aus Sarajewo selbst kommen und jene Fahrgäste weiterbringen, die wirklich nicht im serbischen Teil Bosniens bzw. in Ost-Sarajewo bleiben wollen, sondern sich unter die Muslime im Zentrum der historischen Stadt wagen.
Man kann aber auch den Zug nehmen – sofern man ein paar Sonderwagen chartert, was die in Berlin ansässige „Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik“ (DGAP) für ihre politische Erkundungsreise in den Westbalkan getan hat. Dann verläuft der Trip so:
Abfahrt in Belgrad (wo die serbische Lokomotive erst einmal Maschinenschaden hat) mit einem regulären Zug, an den die Sonderwagen der DGAP angekoppelt sind, bis Sid. Von dort zieht eine Lokomotive der Kroatischen Staatsbahn den Zug bis Strizivojna Vrpolje. Dann geht es weiter mit einer anderen Lok der Kroatischen Staatsbahn (der DGAP- Zug ist jetzt ein Sonderzug, reguläre Züge verkehren hier nicht) ) bis ins bosnische Samac. Dann kommt eine Lok der Eisenbahn der serbisch-bosnischen Teilrepublik (der „Republika Srbska“) und schleppt den Sonderzug nach Doboi. Schließlich wird eine Lok der „Staatsbahn der „Föderation Bosnien-Herzegowina“ angekoppelt und fährt – tatsächlich – durch bis Sarajewo. Der ganze Trip dauert dann – mindestens – zehn Stunden.
Alles verstanden ? Vielleicht eher nicht.
Vielleicht klappt es mit dem Verständnis, wenn man den Staatsaufbau Bosnien-Herzegowinas erläutert. Geschaffen wurde dieses Konglomerat auf der Konferenz im amerikanischen Dayton im Jahre 1995. Der Vertrag beendete den dreieinhalbjährigen Krieg in Bosnien und wurde von Slobodan Milosevic (Serbien), Franjo Tudjman (Kroatien) und Alia Izetbegovic (Bosnien-Herzegowina) unterzeichnet.
Es gibt zwei Teilstaaten: die „Föderation von Bosnien und Herzegowina“ (in der Kroaten und Bosniaken wohnen - als ob sich katholische Kroaten und Muslime so gut verstünden) mit Sitz in Sarajewo. Diese Föderation ist aufgeteilt in zehn Kantone mit jeweils eigenem Parlament und eigener Regierung. Der zweite Teilstaat Ist die „Republika Srbska“ (also die „Serbische Republik“) mit Sitz in Banja Luka. Achtung aber: diese serbisch-bosnische Teilrepublik ist nicht zu verwechseln mit der „Republik Serbien“ ( „Republika Srbija“, Hauptstadt Belgrad). Über den beiden bosnischen Teilrepubliken steht die Regierung des Gesamtstaates Bosnien und Herzegowina , welche dieses Konglomerat regiert – oder doch regieren soll. Welche Politiker aus welchen Teilrepubliken wann an der Spitze Bosniens stehen sollen, ist wohl noch komplizierter zu erklären als die Bahnfahrt von Belgrad nach Sarajewo.
Ungelöste Probleme
Damit aber nicht genug der Komplexität. Die UN sind in Sarajewo mit ihrem „Hohen Repräsentanten“ vertreten. Dieser hat ein Veto über alle politischen Entscheidungen, die in Bosnien-Herzegowina gefällt werden. Derzeit amtiert der Österreicher Valentin Inzko. Vorher gab es sechs dieser „Hohen Repräsentanten“ – unter anderen den Schweden Carl Bildt, den Briten Paddy Ashdown und den deutschen Christian Schwarz-Schilling.
Eigentlich wollen viele Mitgliedsstaaten dieses Amt abschaffen. Und auch die Menschen in Bosnien sehen den Sinn dieser Institution nicht mehr ein. Aber die USA und die Türkei wehren sich. Die USA wollen, wohl zu Recht, verhindern, daß in Bosnien wieder Verhältnisse ausbrechen, die zum Krieg führen. Und die Türkei, so darf man vermuten, will Schutzherr der früher von den Serben verfolgten Muslime sein.
Daß in Bosnien-Herzegowina so gut wie nichts gelöst ist, zeigt die Tatsache, daß nur Serben, Kroaten und Bosniaken für öffentliche Ämter kandidieren dürfen. „Die Anderen“, wie sie genannt werden, also Juden, Sinti, Roma und weitere Minoritäten sind ausgeschlossen. Dagegen wurde vor dem „Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“ geklagt.
Unregierbarkeit
Und, kein Wunder, das Gericht gab in dem nach den Klägern – einem Roma und einem Juden - benannten „Seidic-Finci-Urteil“ klar zu verstehen, daß die bosnische Verfassung mit den allgemeinen Menschenrechten nicht vereinbar ist. Seitdem, nämlich seit Dezember 2009, stagnieren die Verhandlungen mit der EU über ein Assoziierungsabkommen. Denn die Politiker von Serben, (muslimischen) Bosniaken und Kroaten haben sich bis heute nicht auf eine Verfassungsreform einigen können. Und die EU fordert, zu Recht, erst eine mit den Menschenrechten zu vereinbarende Verfassung ehe über Kooperationsabkommen gesprochen werden könne.
Viele halten Bosnien und Herzegowina in seiner derzeitigen Struktur für unregierbar. In einer Studie der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung vom April 2013 werden die ethnischen Quoten beklagt, die angewendet werden, wenn öffentliche ‚Ämter zu besetzen sind. Wann darf ein Bosniake, wann ein Serbe, wann ein Kroate ein wichtiges Amt übernehmen ? Diese Quota, schreibt die Stiftung, „verfestigen die nationalen Konfliktlinien im politischen Entscheidungsprozeß“. Sie seien „ein zentrales Kriterium bei der Verteilung von Posten in den staatlichen Institutionen“. Dadurch werde Patronage und Korruption gefördert. Auf dem Korruptionsindex von „Transparency International“ stehe Bosnien-Herzegowina auf Platz 72 von insgesamt 197 Ländern. Die gesamte Regierungsstruktur führe zu Ethnokratie, Nepotismus und Klientelismus. Und, vor allem: mit einer solchen komplizierten, letztlich undemokratischen Architektonik sei das Land nicht in der Lage, am Prozeß der Annäherung an die EU, geschweige denn am Prozeß der Integration in die EU wirklich teilzunehmen.
Die König Fahd Moschee
Freilich, auf den ersten Blick ist – etwa in der Hauptstadt Sarajewo – von diesen Komplikationen kaum etwas zu merken. Junge Frauen in Miniröcken und ihre männlichen Begleiter bevölkern die Bars und Restaurants bis in die tiefe Nacht, Manche Gassen sind kaum passierbar, weil die Menschen in diesen Sommertagen in den offenen Restaurants sitzen und feiern. Nur selten, besonders tagsüber, merkt man, daß sich die ethnische Struktur der Stadt seit dem Krieg verändert hat. Frauen, wenn auch lange noch nicht in der Mehrzahl, beginnen, Kopftücher zu tragen. Vor dem Krieg machten (muslimische) Bosniaken gut die Hälfte der Bevölkerung aus, gefolgt von Serben mit einem Viertel, Kroaten stellten knapp sieben Prozent der Menschen, dreizehn Prozent hatten sich damals als „Jugoslawen“ bezeichnet.
Heute sind mehr als drei Viertel aller Bewohner der Stadt Bosniaken, Serben stellen zwölf Prozent, Kroaten siebeneinhalb Prozent, die „Anderen“ stellen gut drei Prozent. Die in Den Haag einsitzenden serbischen Kriegsführer Ratko Mladic und Radovan Karadzic wollten Sarajewo zu einer serbischen Stadt machen, das Gegenteil ist eingetroffen. Heute versuchen Anhänger des politischen Islam, Sarajewo als Sprungbrett für ihr Vordringen auf dem Balkan zu benutzen, Saudi Arabien hat – kein Wunder – mit der König Fahd Moschee das größte muslimische Gotteshaus auf dem Balkan finanziert. Von hier aus wird die strenggläubige Variante des Islam, der Wahhabismus, gepredigt.
Treffpunkt vieler Religionen
Andererseits ist der eigenständig bosnische Islam – einmalig in der muslimischen Welt – wie eine Kirche organisiert. Als 1878 Österreich-Ungarn in Bosnien-Herzegowina die Macht von osmanischen Sultan übernahm, wollten die neuen christlichen Machthaber den Einfluß des Sultan auf die Muslime beschränken und schufen eine einheitlich muslimische „Kirche“, auf welche die weltlichen Machthaber im Zweifelsfall eher Einfluß nehmen konnten als auf einzelne, unabhängige Imame. Welche Form des Islam sich letztlich in Bosnien durchsetzt, ist offen. (Siehe auch Charlotte Wiedemann: „Modell Sarajewo“. In „Die Zeit“ vom 16.November 2012)
Hussein Kavazovic, 2012 ganz demokratisch gewählter Großmufti der bosnischen Muslime, sieht den Einfluß der Prediger aus der König-Fahd Moschee als eher unbedeutend. Und er zeichnet ein friedliches Bild vom zukünftigen Zusammenleben der Menschen in seinem Land, denn: in Bosnien hätten immer drei Völker – Muslime, Serben, Kroaten – zusammengelebt. Und es habe viele Religionen gegeben – den Islam, katholisches und orthodoxes Christentum, Judentum und die Bogumilen (eine aus Bulgarien stammende, als häretisch bezeichnete Variante des Christentums). Freilich: heute sei der Dialog schwieriger geworden. Einer Einladung an die Serbisch-Orthodoxe Kirche in Belgrad zur Beilegung von Differenzen habe man in Serbien leider nicht angenommen.
Zweitrangige Diplomaten
Und der Großmufti hat noch andere Klagen: ja, Bosnien-Herzegowina müsse sich der EU anschließen. „Wir sind europäische Muslime“, sagt er. Der Vertrag von Dayton sei gut gewesen, weil er den Krieg beendet habe, aber die in Dayton ausgearbeitete Staatstruktur sei heute für das Land hinderlich; leider aber leiste Europa kaum einen Beitrag zur Überwindung aller Schwierigkeiten, denn Brüssel schicke stets nur „zweitrangige“ Diplomaten. Wen er damit genau meint, läßt er offen. Aber viele sehen nicht recht ein, daß der „Hohe Repräsentant der UN“ immerhin 20 000 Euro monatlich netto seinem Konto hinzufügen kann.
Klagen gibt es noch andere im Land. Etwa von Tija Memisevic. Die resolute Frau ist Direktorin des „European Research Centers“ in Sarajewo, eine Art Denkfabrik, die sich mit dem europäischen Integrationsprozeß beschäftigt. Die meisten Gelder, die vom Ausland, auch von der EU in Bosnien-Herzegowina investiert würden, seien Fehlinvestitionen. Frau Memisevic wird richtig wütend, wenn sie an die Verschwendung denkt – an die Verschwendung von Geld und an die Verschwendung von Zeit. „Es ist Ihr Geld“, sagt sie zu den Besuchern aus Deutschland, „aber ich habe schon zehn Jahre meines Lebens verloren.“
Die Wichtigkeit der EU
Wie also umgehen mit einem „Staat“, in dem sich eine Teilrepublik, nämlich die „Republika Srbska“ in ihrer Verfassung so definiert: die serbische Teilrepublik erfülle ihre „verfassungsmäßigen, legislativen, exekutiven und rechtlichen“ Funktionen in voller Unabhängigkeit. Viele mögen in der Hauptstadt Banja Luka immer noch von einer Vereinigung mit Serbien träumen, doch die Regierung in Belgrad hat, offiziell wenigstens, jede Idee von einer Eingemeindung der serbisch-bosnischen Teilrepublik abgelehnt. Aber: Belgrad stattet Serben aus Bosnien oft ebenso freizügig mit Pässen der „Republik Serbien“ aus, wie Kroatien Landsleute, die in Bosnien wohnen, mit kroatischen Pässen versorgt.
Bosnien braucht die EU – schon um der Gefahr zu entgehen, daß die alten Streitereien wieder zu neuen Gewalttaten führen. Die EU ist also – schon im eigenen Interesse – gefordert, darauf zu achten, daß es in Bosnien friedlich bleibt. Ob dies mit ihrem bisherigen, von vielen Menschen kritisierten schwachen Engagement auf Dauer erreicht wird, bleibt abzuwarten.
Gefährliche Grenzstreitigkeiten
Blickt man über Bosnien hinaus auf den gesamten westlichen Balkan, so gibt es noch weitere Risiken. Der „große weiße Elefant“, wie sich ein Kenner ausdrückt, sind die Albaner. Sechs Millionen von ihnen leben, hauptsächlich, in drei Staaten – in Albanien, in Makedonien und im Kosovo. Gelegentlich ertönt aus Tirana der Ruf nach einem „Großalbanien“, in welchem alle Albaner vereint leben könnten. Die damit verbundenen Grenzstreitigkeiten würden die gesamte labile Struktur der balkanischen Staatenwelt erschüttern – eine Horrorvision für Europa, aber auch für die USA. Auch hier kann wohl auf Dauer nur eine Institution dafür sorgen, daß die latenten Spannungen nicht zum Ausbruch von Gewalt führen – das ist die EU.
Wer alle diese Probleme literarisch vertiefen und in einen größeren Zusammenhang stellen will, dem sei die wunderschöne Fahrt durch die bosnische Bergwelt und dann entlang der türkisblauen Drina nach Visegrad empfohlen. Hier, auf der von den Osmanen in den Jahren 1571-78 gebauten Brücke kann man in dem Roman des jugoslawischen Nobelpreisträgers Ivo Andric „Die Brücke über die Drina“ über das Schicksal des Balkan nachlesen. Die Brücke ist ein Symbol für die sich über Hunderte von Jahren hinziehenden menschlichen Turbulenzen.
Tiefpunkte der Menschlichkeit
Die Zeit kurz nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand am 28,Juni 1914 etwa beschreibt Andric so: „Wie oft in der menschlichen Geschichte waren Gewalt und Raub, ja auch Mord, stillschweigend zugelassen, unter der Bedingung, daß sie im Namen höherer Interessen, unter fest gesetzten Losungen und gegen eine begrenzte Zahl von Menschen eines bestimmten Namens und einer bestimmten Überzeugung verübt wurden.“
In seiner langen, oft von Gewalt geprägten Geschichte hat der Balkan solch menschliche Tiefen vielfach erlebt, in jüngerer Vergangenheit im ersten und im zweiten Weltkrieg und - vor nur zwanzig Jahren - im jugoslawischen Bürgerkrieg.