Ende 2010 siegte die nationalkonervative Partei mit der Ausschaffungsinitiative klar. Sie hob einen Artikel 121 in die Bundesverfassung, der festhält, dass Ausländer aus der Schweiz ausgewiesen werden können, wenn sie „die Sicherheit des Landes gefährden“. Das soll der Fall ein, wenn Ausländer wegen Tötungs- und Gewaltdelikten oder aufgezählter anderer Rechtsverletzungen (darunter Drogen- und Sozialversicherungsmissbrauch) rechtskräftig verurteilt worden sind. „Der Gesetzgeber umschreibt die Tatbestände näher“, steht in der Verfassung.
Der SVP konnte es angesichts der Herbstwahlen 2015 nicht schnell genug gehen. Schon 2012, lange bevor das Parlament die ihm gesetzte Frist zur Umsetzung – fünf Jahre – aufgebraucht hatte, liess sie die „Durchsetzungsinitiative“ anlaufen. Frech behauptet sie: „Wir ahnten bald, dass Bundesrat und Parlament die Ausschaffungsinitiative nicht richtig umsetzen wollen“ (NZZ vom 28. 12. 2015). Die Durchsetzungsinitiative kommt im problematischen Kleid von „Übergangsbestimmungen“ daher und umfasst den unübersichtlichen Text von dreieinhalb Textseiten – ein Hohn auf jede Aesthetik des Grundgesetzes der Eidgenossenschaft, das verständlich und dauerhaft sein soll.
Schlimmer noch: Die „Durchsetzungsinitiative“ erweitert und verschärft den 2010 vom Volk angenommenen Verfassungstext. Es werden weitere Bagatelldelikte angehängt, die Ausweisung nach sich ziehen – und das als Bedrohung von bürokratie-skeptischen Expats (die Anmeldepflichten der AHV übersehen haben), vor allem aber von Secondos (die hier aufgewachsen, aber noch nicht eingebürgert sind). Wie viele ihrer schweizer pubertierenden Freunde haben sie mit unter 16jährigen Klassengenossinen geschlafen oder in der Villa eines Gastgebers ein paar Weinflaschen, im COOP einige Marsstangen mitlaufen lassen. Kommt Ähnliches auf einem weiten Deliktekatalog innert 10 Jahren ein zweites mal vor („rechtskräftige Verurteiluung zu einer Freiheits- oder Geldstrafe“), droht Secondos - nicht natürlich Schweizern – die Ausweisung. In ein Land, vielleicht im hintersten Südosteuropa, das sie nicht kennen, dessen Sprache sie nicht sprechen.
Die Gegner der Durchsetzungsinitiative warnen vor weiteren Spannungen mit der EU (Personenfreizügigkeitspraxis), mit dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (Praxis des Familienschutzes).
Was mich aber besonders frustriert: Unter Vorderbänklern der SVP ist man sich über die Tragweite der abstimmungsreifen Durchsetzungsinitiative überhaupt nicht einig.
In der NZZ vom 28. Dezember bestand Nationalrat Gregor Rutz, ehemaliger Parteisekretär und kämpferischer Jurist, dezidiert darauf, dass gewisse Delikte zwingend die Landesverweisung vorsehen. Richter sollen in bezug auf den Landesverweis „bewusst keinen Spielraum mehr haben“ – unabhängig vom Täter, seinem Vorleben. Und das Verhältnismässigkeitsprinzip der Verfassung? “Es gibt nicht wichtigere und weniger wichtige Verfassungsartikel. Vielmehr gehen in aller Regel jüngere, speziellere Vorschriften vor“. Was hier heissen würde: Die pauschale und brutale Durchsetzungsinitiative, falls sie Ende Februar durchkommt.
Welche Überraschung: In der „Schweiz am Sonntag“ dieses Wochenanfangs bezieht der Zürcher Privatrechtsprofessor und (erfolglose) Ständeratskandidat Hans-Ueli Vogt, den manche als das juristische Gewissen der SVP loben, eine diametral andere Position. Offenbar gab ihm der harsche Umgang mit den Secondos zu denken. Nach seiner Meinung muss die Durchsetzungsinitiative so ausgelegt werden, „dass es bei in der Schweiz geborenen Ausländern nicht zu einer Ausschaffung kommt“. Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz – jedenfalls die hier Geborenen - bildeten „nicht nur eine Bürgergemeinschaft, sondern eben auch eine Rechtsgemeinschaft“. Der Richter, der jetzt unvermittelt wieder hervorgeholt wird, müsse zwischen abstrakten Sicherheitsinteressen und konkretem, menschlichem Interesse eines oft jugendlichen Straftäters abwägen. Dann hätte man aber auch gerade die Härtefallklausel des Parlaments unterschreiben können, die die SVP so erbittert bekämpfte.
Was sagen wohl die Draufhauer Gregor Rutz, Toni Brunner und Christoph Blocher zur „ethischen“ (Vogt) Erfindung der zwei Gemeinschaften? Mir als eifrigem Leser juristischer Literatur ist sie jedenfalls noch nie begegnet.