Als in Tunesien der korrupte Machthaber Ben Ali am 15. Dezember 2010 gestürzt wurde, gab es dort weder echte Parteien noch ein echtes Parlament. Der Machthaber hatte nur eine Staatspartei zugelassen und am Rande zahme Vorzeigeparteien, die machtlos blieben. Sein "Parlament" sah entsprechend aus; es war in seiner überwiegenden Mehrheit aus Ja-Sagern zusammengesetzt.
Nach seinem Sturz sollte möglichst rasch eine Demokratie aufgebaut werden. Zu diesem Zweck sollten bald möglichst Wahlen durchgeführt werden.
Wahlen als Symbol der Demokratie
Wahlen sind das sichtbarste Zeichen der Demokratie, obwohl sie für sich allein noch keineswegs Demokratie sichern, sogar wenn sie ehrlich sind. Eine Voraussetzung für echte Wahlen sind – neben anderen - frei gebildete Parteien, weil sie allein den Wählern erlauben, eine sinnvolle Wahl zu treffen. In Tunesien - wie auch in Ägypten, das einen vergleichbaren Prozess durchläuft - erweist es sich als unumgänglich, Parteien zu bilden, bevor Wahlen durchgeführt werden können. Parteien entstehen aber nicht auf Kommando. Sie müssen sich herausbilden - um ein Programm und um glaubwürdige Führungspersonen herum.
Zeitdruck für baldige Wahlen
Die Wahlen in Tunesien sind dringlich, weil die politischen Aktivisten und all die Millionen, die mit ihnen auf die Strasse gezogen waren, Resultate des Machtumsturzes sehen wollen, den sie zustande gebracht haben. Wirtschaftliche Resultate sind sowieso nicht rasch zu erreichen. Umso dringender sind politische Resultate, die für alle sichtbar würden. Wahlen wären das naheliegendste und überzeugendste Zeichen eines neuen Regimes, eben weil sie als das Hauptmerkmal einer Demokratisierung erscheinen.
Rückkehr der Exilierten Politiker
Der Weg zu den Wahlen jedoch erweist sich als länger und schwieriger als erwartet. In Tunesien fehlt ein demokratisches Parteiensystem, und es lässt sich nicht auf einen festen Termin hin ins Leben rufen. Es gibt die alten Parteien, welche im Untergrund überlebt haben, wie die verbotene islamistische an-Nahda, deren Führer, Rachid Ghannoushi, aus dem Exil in London zurückkehrte. Zu den heimgekehrten Exilierten gehört auch der bekannte Arzt und Kämpfer für Menschenrechte, Moncef Marzouki, der sich daran gemacht hat, seine eigene, bisher verbotene Partei, Kongress für die Republik, neu ins Leben zu rufen. Diese Partei wird links von der Mittel stehen. Marzouki gilt auch als ein möglicher Präsidentschaftskandidat.
Es gab weiter sieben unter dem Diktatoren geduldete, wenngleich machtlose Kleinparteien, darunter die tunesische Kommunistische Partei. Sie sind wenigstens dem Namen nach vielen Tunesiern bekannt. Die Staatspartei Ben Alis wurde im März aufgelöst.
Kleinstgruppen als Träger der Revolution
Schwieriger als für diese Gruppierungen, die über Ansatzpunkte für ihren politischen Auftritt verfügen und im Lande einen gewissen Bekanntheitsgrad besitzen, ist die Lage für die eigentlichen Träger der Revolution, die Gruppen der arbeitslosen jungen Leute und Aktivisten. Sie hatten alle unter der gemeinsamen Formel zusammengearbeitet, die lautete: "Das Regime muss gehen!" Doch die Grundlagen für eine aufbauende Zusammenarbeit, wie es nun weitergehen soll, mussten sie erst nach dem Regimesturz legen.
Jede Gruppe und jedes Grüppchen gründete zuerst einmal seine eigene Partei. Es entstand eine grosse Zahl kleiner Gruppen, die zu klein waren, um politisch wirken zu können. Bis zum 9. März waren 31 Parteien zugelassen worden, Ende Juni waren es 94. Die Regierung hatte weiteren 118 Anwärtern eine Parteilizenz verweigert. Zusammenschlüsse, um grössere Einheiten zu bilden, werden in Zukunft notwendig sein. Doch bei Zusammenschlüssen rücken Führungsfragen und Programmunterschiede in den Vordergrund. Bisher kam es sogar statt zu Zusammenschlüssen zu weiteren Aufspaltungen der bisherigen Gruppen.
Es gibt mindestens acht Parteien der extremen Linken. Die Zahl der autorisierten "islamischen" Parteien ist sechs. Eine Koalition von acht bürgerlichen "Zentrumsparteien", die gemeinsame Wahllisten aufstellen wollen, ist kürzlich gemeldet worden. Vielleicht kann in der Zukunft eine einzige grössere Zentrumspartei daraus werden.
Für die eigentlichen Urheber der Revolution ist die Zeitfrage entscheidend wichtig. Sie brauchen Zeit, um sich überhaupt zusammenzuschliessen und sich dann weiter auf einer oder einigen grösseren Plattformen zusammenzufinden.
Drang nach Resultaten der Revolution
Andrerseits drängt die Zeit. Die provisorischen politischen Verantwortlichen streben zu Recht nach einer baldigen Festigung der politischen Macht auf demokratischer Basis. Dies kann nur durch Wahlen bewerkstelligt werden. Die Übergangsregierung hat darum den Termin für die Volkswahl einer Verfassungsversammlung auf den 24. Juli dieses Jahres angesetzt.
Die verschlungenen Pfade des Wahlgesetzes
Zu den notwenigen Vorbereitungen gehört ein neues, demokratischen Ansprüchen genügendes Wahlgesetz. Diese sollte in einer ersten Phase von einer Juristenkommission, die dazu berufen wurde, formuliert werden. Doch diese Kommission stiess auf heftigen Widerspruch der "revolutionären" politischen Kräfte. Die bereits bestehenden Parteien, die Gewerkschaftszentrale UGTT und die verschiedenen Sprecher der revolutionären Jugend weigerten sich am 17. März, den Gesetzesvorschlag der Juristenkommission zu diskutieren. Sie erklärten, sie wollten bei der Formulierung der Wahlgesetze mitreden und sich diese nicht auferlegen lassen.
Dies führte zur Verschmelzung der ursprünglichen Juristenkommission mit einer bereits bestehenden Gruppe, die sich Kommission zur Verteidigung der Republik nannte. Beide zusammen wurden ergänzt und vervollständigt durch Sprecher der verschiedenen Parteien und revolutionären Gruppierungen sowie der Gewerkschaftszentrale. So entstand die "Hohe Instanz für die Durchführung der Ziele der Revolution und der politischen Reform" unter dem Vorsitz des angesehenen Juristen Yadh Ben Achour. Nach drei langen Sitzungen der Kritik durch die neu Zugezogenen gelang es, die Diskussion auf die Frage des Gesetzesvorschlags zu konzentrieren, und ein Projekt für das Wahlgesetz wurde am 11. April von der gesamten "Hohen Reform-Instanz" gebilligt.
Sie wählte darauf eine neue Gruppe, die "Hohe Unabhängige Instanz für die Wahlen". Diese wurde mit der Organisation und Durchführung der Wahlen betraut. Die zuerst genannte „Hohe Instanz für Reformen“ schritt nach der Annahme ihres Wahlgesetzvorschlags weiter zu Beratungen über einen geplanten "Republikanischen Pakt zur Respektierung der Demokratie". Dieser soll eine gemeinsame Grundlage formulieren, die alle für ein demokratisches Regime eintretenden Gruppen billigen und auf diesem Weg die erhoffte Demokratie absichern. Doch der Pakt ist zur Zeit noch nicht unter Dach.
Ringen um den Wahltermin
Über den Termin der vorgesehenen Wahlen kam es ebenfalls zu Unstimmigkeiten zwischen der Übergangsregierung und den beiden "Hohen Instanzen", weil jene, welche die Wahlen vorzubereiten hatte, der Ansicht war, einwandfreie Wahlen könnten in dem vorgesehenen Zeitraum bis zum 24. Juli nicht durchgeführt werden. Sie gaben zahlreiche technische Gründe an, warum dies nicht möglich sei. Die "Hohe Instanz für Reformen" stützte sie. Ihr Vorsitzender, Ben Achour, erklärte, für die Erstellung der Wählerlisten brauche man 6000 Wahlbeamte und 500 Inskriptionszentren, für die Wahlen selbst 8000 Wahlbüros und 40 000 Wahlagenten.
Doch die Übergangsregierung wollte auf dem vorgesehenen Termin beharren, der vor Monaten versprochen und festgelegt worden war. Nach einem längeren Hin- und Her sah die Regierung ein, dass sie nachgeben musste. Die Sachzwänge sprachen dafür. Der neue Termin wurde auf den 23. Oktober festgelegt. Am 30. Juni veröffentlichte die Wahlinstanz einen Fahrplan, der festlegt, die Einschreibungen für die Wählerlisten würden am 11. Juli beginnen und am 23. August zu Ende gehen. Die Kandidatenlisten seien zwischen dem 1. und dem 7. September zu erstellen, und die Wahlkampagne werde vom 1. bis zum 21. Oktober dauern. Die Wahlen würden sodann am 23.Oktober durchgeführt.
Auswirkungen auf die Wahlaussichten
Doch der Streit über den Wahltermin wirkte sich auch auf die Haltung der Parteien und politischen Gruppen aus. Zwei von Ihnen, die islamistische an-Nahda und jene links von der Mitte, Moncef Marzoukis CPR (Congrès pour la République), verliessen die Hohe Instanz, weil sie sich gegen die Verschiebung auflehnten. Im Falle der islamistischen Partei liegt der Grund ihrer Haltung auf der Hand: an-Nahda und ihr Führer Rachid Ghannouchi besitzen einen hohen Bekanntheitsgrad und eine rasch wiederhergestellte Parteiorganisation, so dass sie bei baldigen Wahlen einen deutlichen Vorteil gegenüber anderen Formationen besässen, die weniger gut organisiert und den Tunesiern weniger bekannt sind als sie. Bei Marzouki dürfte die Sorge wirken, dass die "Revolution" abklingen und die "Reaktion", das heisst Anhänger des alten Regimes, Gelände gewinnen könnten, wenn die Wahlen zu lang auf sich warten liessen. Sprecher beider Parteien brachten ihre Befürchtung zum Ausdruck, die Verschiebung des Wahltermins könne dahin führen, dass die Wahlen überhaupt nicht mehr stattfänden.
Als die Entscheidung über den verlängerten Wahltermin gefallen war, verliessen beide Parteien die Hohe Instanz für Reformen, weil deren ursprüngliche Regel gewesen war, dass Beschlüsse nur einstimmig gefasst werden könnten. Damit ist der geplante "Pakt für die Republik" gefährdet. Doch gegenwärtig gibt es Bestreben, die Ausgeschiedenen zur Rückkehr in die Instanz zu bewegen.
Weitere Voraussetzungen für Demokratie
Dies sind die Auseinandersetzungen, die sich allein um die Wahlen drehen. Ein vergleichbares Ringen gibt es in den anderen Bereichen, die zu einer funktionierenden Demokratie gehören. Das Presse- und Medienwesen muss neu formiert werden, und die Gerichtsbarkeit ebenfalls. Beide Institutionen waren von Ben Ali und seinen Günstlingen mit dem Ziel ihrer Machterhaltung deformiert worden. Auch die Reform der Polizei, eines Hauptinstrumentes der Macht Ben Alis, ist unbedingt nötig, aber nicht leicht zu erreichen, weil sie einen Mentalitätswandel bei beinahe 250 000 Polizisten notwendig macht.
All diese notwendigen, aber zeitraubenden Schritte auf ein echtes demokratisches Regime hin stehen unter Zeitdruck. Je länger die Provisorien andauern, unter denen das Land seit der Flucht Ben Alis regiert wird, desto mehr wachsen die Gefahren von Hindernissen auf dem beabsichtigten Weg in die Demokratie. Sie sind primär durch die zunehmende Ungeduld und Unzufriedenheit der ursprünglichen Träger der Revolution und ihrer Sympathisanten gegeben. Wenn diese den Eindruck erhalten, ihre Revolution habe nichts wirklich verändert und alles sei letztlich beim alten geblieben, besteht die Gefahr von weiteren und schwereren Unruhen als sie zur Zeit noch vorkommen. Von solchen Unruhen würden wahrscheinlich am Ende jene Kräfte profitieren, die früher Ben Ali gestützt hatten. Erfolgreiche Wahlen dürften dagegen ein deutliches Zeichen setzen, dass der Weg in eine bessere Zukunft sich wirklich zu öffnen verspricht.