Der Kunstbetrieb verwendet alle erzieherische Kraft darauf, unsere Sehgewohnheiten ändern zu wollen. Eine „neue“ Sehgewohnheit ist der „alten“ überlegen. Kaum eine Kunstkritik, die diese Behauptung nicht aufstellt. Es muss sich bei unserem gewohnten Sehen um eine schwere Augenkrankheit handeln, jedenfalls um einen schlimmen Defekt, den dringend zu beheben sich der Kunstbetrieb feuereifrig anschickt.
Täuschender Titel
Warum nur? Wir wissen es nicht, weil uns die Argumente genau so verschwiegen werden wie der Gewinn, wenn wir die Welt „anders“ betrachten. Die „neue“ Sehgewohnheit gilt offenbar als Axiom. „Anders“, wie auch immer, ist demnach einfach besser als „bisher“, selbst dann, wenn unser Blick seit je offen war, neugierig und untrüglich scharf.
Nun bietet eine Fotoausstellung im Kunstmuseum St. Gallen der pädagogisch beseelten Kunstkritik die unwiderstehliche Gelegenheit, uns ein weiteres Mal begründungslos zur Preisgabe des bisherigen Sehens aufzufordern und uns gleicherweise begründungslos zum Sehwechsel zu nötigen.
An dieser Erziehungsaktion ist der Ausstellungstitel ein bisschen selber schuld. Er heisst „Through the Looking Brain“, schauen mit dem Hirn oder mit dem Verstand. Das könnte das Gegenteil dessen sein, was Antoine de Saint-Exupéry mit dem Herzen meinte, das weiter sieht als das Auge.
Packendes Panorama
Begibt sich also, wer die Ausstellung besucht, unentrinnbar in eine kulturärztliche Augenbehandlung? Oder – wenn er die „alte“ Sehgewohnheit partout nicht aufgeben will – in eine Dunkelkammer? Weder noch. Er erlebt ein packendes Panorama der „konzeptuellen Fotografie“ von den siebziger Jahren bis heute.
Es handelt sich um eine nach dem Kunstmuseum Bonn erstmals in der Schweiz gezeigte Auswahl aus der Sammlung der Zellweger Luwa AG, begeistert und kenntnisreich zusammengetragen von Thomas Bechtler und seiner Frau Cristina, von Ruedi Bechtler und Bice Curiger. Die Kunstmuseen Bonn und St. Gallen mit den Kuratoren Stephan Berg und Konrad Bitterli haben hervorragend kooperiert und fotografische Schätze ans Licht gehoben.
Intensive Information
Wer in der konzeptuellen Fotografie Rang und Namen hat und zur Entwicklung einer eigenständigen Kunstform beitrug und noch beiträgt, ist in St. Gallen vertreten. Roman Signer und Fischli/Weiss behaupten sich im internationalen Kontext mit John Baldessari, Gabriel Orozco, Cindy Sherman, Thomas Ruff oder Sigmar Polke.
Die Einzelwerke summieren sich zu einem Gesamtüberblick von dichter und spannender Information. Die Fotografien sind wirkungsvoll gehängt. Der Rundgang ist ein Seherlebnis durch die Stile und die Zeit. Das Museum inszeniert sich als schöne Schule des Schauens.
Sinnliches Sehen
Lehrt sie uns, „anders“ sehen zu müssen, um die ausgestellten Arbeiten in ihrem Wesen und all ihren Bedeutungen erfassen zu können? Nein, um eine Lehrveranstaltung handelt es sich nicht. Die Kunstwerke sind keine Mittel zum Zweck. Sie stehen für sich selber und sind eine starke Einladung, die Augen zu öffnen - weit und noch weiter, damit sich die Bilder zu Bildergeschichten entfalten, die uns vermitteln, wie aufmerksam und entdeckungslustig die Künstlerinnen und Künstler geschaut haben. Gewissermassen mit allen Sinnen.
Kunstmuseum St. Gallen, bis 22. Januar 2012 www.kunstmuseum.sg.ch