Das Ziel der Initiative ist klar: Statt - wie seit 2007 - im Rahmen des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU, soll in Zukunft mit Hilfe von Kontingenten die Einwanderung eigenständig durch die Schweiz reguliert werden. Dabei wird in Kauf genommen, dass die Bilateralen Verträge I mit der EU eventuell gekündigt würden. Ganz generell herrscht im Vorfeld der Abstimmung grosse Konfusion über die Auswirkungen einer Annahme dieser Initiative. Viele ehrliche Menschen müssen sich eingestehen: Wir wissen es ganz einfach nicht
"Masslosigkeit schadet"
Wie immer bei wichtigen Abstimmungen, die von der SVP lanciert werden, ist ihr propagandistische Aufhänger gut gewählt: „Masslosigkeit schadet!“ Niemand mag dem widersprechen. Schon sind die Schnellentschiedenen am Ausfüllen des Stimmzettels. Doch seit Daniel Kahneman, der Nobelpreisträger, in seinem Bestseller „THINKING, FAST + SLOW“ darauf hingewiesen hat, dass diese schnellen Entscheidungen sehr oft falsch wären, ist Vorsicht geboten.
Zur Erinnerung seine Rechenaufgabe:
Ein Baseballschläger und ein Baseball kosten einen Dollar 10 cents.
Der Schläger kostet einen Dollar mehr als der Ball.
Wieviel kostet der Ball? (Lösung am Schluss*).
Es lohnt sich, gründlich über die Argumente für oder gegen die Initiative nachzudenken. Denn zweifellos haben Befürworter und Gegner zum Teil gute Argumente, wenn sich auch nicht wenige dieser „Beweise“ nicht erhärten lassen. Zu oft werden offensichtliche oder vermutete Zusammenhänge (falsch) konstruiert, fusst die Ursache/Wirkungstheorie auf stark vereinfachten oder „gesteuerten“ Prämissen oder werden sie aus gutem Grund übersehen. Vorsicht ist zudem geboten bei den guten Ratschlägen der Staatsgläubigen, die mit neuen Vorschriften „Lösungen“ anpeilen.
Verursacher sind oft wir selber
Im Extrablatt der SVP, das anfangs Jahr gratis in alle Haushalte verteilt wurde (und das Millionen gekostet hat), stehen lesenswerte Frage- und Feststellungen: Wie viel Wachstum wollen wir? Und: Die Folgen der 80‘000 Personen, die jährlich in die Schweiz einwandern, sind, zum Beispiel: „zusätzliche 34‘500 Neubauwohnungen, 600 Krankenpflegende, 300 Schulklassen, 42‘000 Personenwagen. Pro Sekunde 1,1m2 Kulturlandverlust. Immer mehr Stau!“
Viele nachdenkliche Schweizerinnen und Schweizer sehen all das mit Besorgnis. Zu Recht. Flächendeckende Neubauprojekte (wie Glattpark Opfikon/Zürich, wo für 10‘000 Menschen auf einem Grundstück gebaut wird) lösen Kopfschütteln und Angst aus. Jährlich 4448 Fußballfelder neu überbaut. Ungebremster Kulturlandverlust.
Doch ehrlich gesagt: Überfüllte Züge, Staus auf Autobahnen, wuchernde Wohnsiedlungen, neue Schulklassen – als Beispiele -, nicht alles ist nur die Folge der Zuwanderung. Sehr vieles ist hausgemacht. Unser Mobilitätsdrang, gekoppelt mit nostalgischem Wohndrang im Grünen, eine unersättliche Bauindustrie, unser ständig steigender Wohnflächenanspruch, immer kleinere Schulklassen – Verursacher sind oft wir selbst, nicht die Zuwanderer. Nicht alles, was gedruckt wird, ist sachlich.
Kontraproduktiver Ratschlag
Dies gilt allerdings auch für die Gegner der Initiative. „Die Wirtschaft ist auf die Bilateralen I, auf einen freien Arbeitsmarkt angewiesen. Der Wirtschaftsstandort Schweiz würde geschwächt.“ Beide Argumente mögen stimmen, aus der Sicht der Unternehmer. Doch es gibt nicht nur diese Sicht. Der Rat des EU-Botschafters in der Schweiz, wonach die Bilateralen nach einem Ja zur Initiative gekündigt werden müsste, ist zudem kontraproduktiv. Erstens steht das nirgends geschrieben und zweitens sind solche Ratschläge von außen bei den Eidgenossen unbeliebt.
Und jetzt, wie weiter? Eine Gegenüberstellung der unterschiedlichen Argumente, eine gewichtete Auswertung oder die Überprüfung des Wahrheitsgehalts der Parolen scheint eine Herkulesarbeit. Der Antireflex gegen die führenden Kreise der Befürworter und Gegner ist gefährlich. Gegen den Bundesrat zu wettern, ist staatszersetzend. „Die Aussagen des Bundesrats waren unwahr. Die Regierung hat die Stimmbürger belogen“, diese schwarz auf weiß in der WELTWOCHE zu lesenden Sätze im Zusammenhang mit Zuwanderungsprognosen, die sich im Nachhinein als falsch erwiesen, sind für diese Art Journalismus bezeichnend. Der Millionenaufwand, der von beiden Seiten investiert wird, zeigt eines mit Deutlichkeit: Es geht um viel. Diesmal können wir uns wohl nicht nach der Devise Karl Poppers verhalten: Vielleicht habe ich recht, vielleicht hast du recht, vielleicht irren wir uns beide?
Gemeinde setzen falsche Zeichen
Die Abhängigkeit der Schweizer Wirtschaft von der Zuwanderung ist unbestritten. Die EU ist unser Hauptexportmarkt. Sie hat ihre Spielregeln (z.B. Personenfreizügigkeit) – take it or leave it! Unter dem Strich ist die Bilanz der Personenfreizügigkeit der letzten Jahre wohl positiv.
Die überbordende Zuwanderung ist auch die Folge falscher, helvetischer Anreize, für die wir selbst verantwortlich sind. Es liegt in unserer Kompetenz, dies zu ändern. Doch unsere Reformunfähigkeit, Strukturen, Gesetze und Anreizsysteme der modernen Zeit anzupassen, ist geradezu eklatant. Der Wildwuchs an kommunalen und kantonalen Regelungen und Interpretationen könnte gewaltig eingedämmt werden. Stellvertretende Beispiele: Sozialhilfe für stellenlose Zuwanderer, die in unserem Land noch gar nie gearbeitet haben, muss gar nicht ausbezahlt werden. Gemeinden setzten falsche Zeichen, die sich im Herkunftsland der so Begünstigten schnell herumsprechen. Zu hohe Taggelder in der Arbeitslosenkasse, zu großzügig bemessene Existenzminima in der Sozialhilfe – alles fördert die Zuwanderung. Ein bekannter Nationalrat meint dazu: „Nehmen wir die realen Probleme ernst, müssen wir zu Scheinlösungen Nein sagen und Probleme konkret angehen.“
Bauwut als Magnet für Zuwanderer
Die weiter oben erwähnte Bauwut in unserem Land wird getrieben von einer unersättlichen Bauindustrie, die grüne Wiesen mit flächendeckenden, teuren Gebäuden überzieht und dabei immer mehr Wohnraum auf Vorrat produziert. Diese Wohnungen sind ein wichtiger Grund, weshalb unser Land eine Sogwirkung auf qualifizierte ausländische Arbeitswillige entwickelt. Bereits die Zweitwohnungsinitiative wies auf den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Bautätigkeit und Anziehungskraft für Ausländer hin: diese kommen auch deshalb in die Schweiz, weil es das attraktive Investitionsangebot auf dem Immobilienmarkt gibt. Die Masseneinwanderungsinitiative schweigt dazu, da viele SVP-Sympathisanten selbst in diesem Sektor tätig sind.
Diese Gedanken mögen dazu verhelfen, eine persönliche Analyse vorzunehmen. Sie können als Entscheidungshilfe zu Rat gezogen werden. Denn erst die Gesamtsicht der Vor- und Nachteile, die Transparentwerdung der Zusammenhänge, lassen langfristige Ziele klarer werden.
Kurzfristige, lärmige Diffamierung Andersdenkender schafft ein Klima des Misstrauens und der Angst. Das schadet mindestens eben soviel wie Masslosigkeit. Und so beißt sich die Katze in den eigenen Schwanz: Masslosigkeit in der medialen Berichterstattung und bei der Politwerbung, beides ist kontraproduktiv. Darum darf die Initiative aus guten Gründen abgelehnt werden.
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*die versprochene Lösung: 5 cents!