Hausdurchsuchungen von Redaktionen und Privathäusern Medienschaffender gehören in den USA zu den gravierendsten und seltensten Massnahmen der Justiz. Doch Im Fall einer Lokalzeitung in Kansas hat ein solches Vorgehen jüngst gar tödlich geendet. Angeblich wegen Verletzung der Privatsphäre.
Wenn in den USA in der Vergangenheit Justiz und Presse memorabel aufeinandergetroffen sind, dann auf höchster Ebene. Zum Beispiel 1971, als die «New York Times» und die «Washington Post» wider gravierende juristische Bedenken die Pentagon-Papiere publizierten. Das historische Dokument zeigte, wie vier amerikanische Regierungen von Eisenhower über Kennedy und Johnson bis Nixon die Nation jahrelang über den Verlauf des Krieges in Vietnam belogen hatten.
Der US-Supreme Court, damals noch ohne politische Schlagseite, bekräftigte in der Folge mit sechs zu drei Stimmen das Recht der beiden Blätter, über die von Whistleblower Daniel Ellsberg (1931–2023) geleakten Geheimunterlagen zu schreiben. Das Gremium unterstrich das Primat der Meinungsfreiheit, wie vom 1. Verfassungszusatz (first amendment) garantiert, gegenüber Versuchen der US-Regierung, das Erscheinen von Artikeln durch eine superprovisorische Verfügung (prior restraint) zu verbieten.
Über die Akteurinnen und Akteure von damals sind eindrückliche Spiel- und Dokumentarfilme gedreht worden, so etwa Steven Spielbergs «The Paper», der 1994 die verwitwete Verlegerin der «Washington Post», Kay Graham, und ihren mutigen Chefredaktor, Ben Bradlee, porträtierte. Oder der 2010 unter dem Titel «The Most Dangerous Man in America» erschienene Dokumentarfilm über Daniel Ellsberg. Dass das im jüngsten Fall eines spektakulären Aufeinandertreffens von US-Justiz und Presse auch der Fall sein wird, ist wenig wahrscheinlich.
Denn der Fall betrifft kein nationales Medium und keine höchste Instanz, sondern eine kleine Lokalzeitung im Staat Kansas und eine lokale Richterin. Was nicht heisst, dass er keine wahrscheinlich skandalöse Amtsanmassung und keine Verletzung der Pressefreiheit beinhaltet. Es ist auch ein Fall, der, würde er mehr öffentliche Aufmerksamkeit erregen, als weiteres Indiz dazu dienen könnte, warum in Amerika das Vertrauen in die Justiz im Sinken begriffen ist und nur noch ein Viertel der Bevölkerung dem Obersten Gericht in Washington DC traut.
Marion, ein Ort mit rund 1’900 Einwohnern, liegt gut 241 Kilometer nordöstlich von Wichita (Kansas). Der Ort beherbergt «The Marion County Record», eine über 150 Jahre alte Lokalzeitung im Besitz der Familie Meyer mit einer Auflage von 4’000 Exemplaren, die einen ganzen Bezirk abdeckt. Doch Ende vorletzter Woche war es mit der Ruhe im idyllischen Marion und auf der siebenköpfigen Redaktion des «Record» vorbei.
Fünf lokale Polizisten und zwei Hilfssheriffs durchsuchten mit Erlaubnis einer Richterin die Redaktion der Zeitung und beschlagnahmten Computer, Server, Handys und anderes Material. Sie durchsuchten auch das Haus der 98-jährigen Joan Meyer, der Mitbesitzerin des «Record», und ihres Sohnes Eric, des Chefredaktors der Zeitung, und beschlagnahmten auch dort alles, was sie mitnehmen konnten, so etwa die digitale Sprachassistentin Alexa oder den Computer der Seniorin, die während fast 60 Jahren als Reporterin, Redaktorin, Kolumnistin und Mitverlegerin für die Zeitung gearbeitet hatte. Einen Tag später starb Joan Meyer. Der ganze Stress war für sie laut ihrer Familie und dem Gerichtsmediziner wohl zu viel. «Warum sehen sie (die Polizisten) mich an, als wäre ich irgendeine Verbrecherin», sagte sie ihrem Sohn während der Hausdurchsuchung, die Stunden dauerte.
Der Grund für den massiven Polizeieinsatz? Kari Newell, eine lokale Restaurantbesitzerin und involviert in einen Scheidungsprozess, warf dem «Record» vor, illegal Informationen über ihre frühere Verurteilung wegen Trunkenheit am Steuer beschafft zu haben und zu beabsichtigen, sie zu publizieren und so ihre Privatsphäre zu verletzen. Richterin Laura Viar stellte einen Durchsuchungsbefehl aus, der es der Polizei erlaubte, alle Newell betreffenden Dokumente und Unterlagen sicherzustellen. Es lägen wohl Identitätsdiebstahl und «illegale Akte mit Computern» vor.
«Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen, nicht in Amerika», sagte Chefredaktor und Mitverleger Eric Meyer. «Das war eine atomare Fliegenklatsche.» In einem Artikel am Tag danach schrieb er von «Gestapo-Praktiken» und dementierte, illegal gehandelt zu haben. Zwar habe die Zeitung die Information über Newells Verurteilung besessen, sie aber gar nicht publizieren wollen. Zudem sei der Hinweis via soziale Medien von der Quelle gekommen und nach Einsicht in amtliche Dokumente bestätigt worden.
Ein weiteres mögliches Motiv für das Vorgehen der Polizei in Marion? «The Record» recherchierte gegen Polizeichef Gideon Cody, nachdem die Redaktion Hinweise erhalten hatte, Cody habe seinen früheren Job in Kansas City (Missouri) wegen möglicher Konsequenzen nach sexuellem Fehlverhalten verlassen müssen. Einen diesbezüglichen Artikel hatte die Zeitung aber nie publiziert. Doch auf den beschlagnahmten Computern der Redaktion befanden sich Informationen über die entsprechenden Recherchen und die Identität der Informanten.
Nach einer Woche heftiger Kritik und nationaler Aufmerksamkeit hat der zuständige Staatsanwalt des Bezirks den Durchsuchungsbefehlt zurückgezogen und angeordnet, der Zeitung die beschlagnahmten Materialien zurückzugeben – nicht zuletzt wohl auch aufgrund des Umstands, dass die Polizeiaktion in Marion mutmasslich sowohl Staats- als auch Bundesgesetze verletzt hat.
Auch schrieben «The Committe to Protect Journalists» und Dutzende Medienunternehmen – unter ihnen die «New York Times», die «Washington Post», die Nachrichtenagenturen AP und Reuters oder die Fernsehsender CBS und NBC – einen Brief an Polizeichef Cody, in dem sie ihre Bedenken formulierten: «Die Durchsuchung von Redaktionen und Beschlagnahmungen gehören zu den einschneidendsten Massnahmen, welche die Justiz im Hinblick auf die freie Presse ergreifen kann, und zu jenen Aktion, welche die Redefreiheit der Presse und der Öffentlichkeit möglicherweise am stärksten unterdrücken.»
Der unverhältnismässige Polizeieinsatz gegen den «Marion County Record» ist wohl vor dem Hintergrund zweier bedenklicher Entwicklungen zu sehen. Zum einen betraf er im Fall der Lokalzeitung die Vertreterin einer Spezies, die in Amerika vom Aussterben bedroht ist, deren Funktion als Wachhund der Demokratie aber nach wie vor unersetzlich ist.
Seit 2005 sind in den USA rund 2’500 Lokalzeitungen verschwunden und jede Woche werden es laut einer Studie der Northwestern University zwei mehr. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Lokaljournalistinnen und -Journalisten um 60 Prozent geschrumpft. Lokalzeitungen mutieren zunehmend zu «Geisterblättern», die häufig nur noch Vorgekautes publizieren, und einst mit Informationen gut versorgte Gegenden werden zu «news deserts», zu Nachrichtenwüsten.
Untersuchungen zeigen, dass in Gebieten der USA, in denen es keine Lokalzeitungen mehr gibt, das Interesse der Öffentlichkeit an lokalen Wahlen und anderen Aktivitäten der Zivilgesellschaft nachlässt, gleichzeitig aber Korruption und Inkompetenz vor Ort zunehmen. Was die Leute dazu verleitet, sich nur noch via soziale Medien und dort innerhalb stark ideologisierter Filterblasen zu informieren.
Zum andern erfolgten die Hausdurchsuchungen in Marion zu einer Zeit, da in Amerika das Misstrauen gegenüber den Medien wächst, nicht zuletzt aufgrund von Äusserungen Donald Trumps, der als Präsident Zeitungen, Radio und Fernsehen als «Volksfeinde» betitelt und deren Vertreterinnen und Vertreter «Abschaum» genannt hat – ausgenommen rechte Medien wie Fox News, die ihm im Weissen Haus unterwürfig ergeben waren und nach seiner Niederlage 2020 seine Behauptungen von Wahlbetrug willfährig nachbeteten.
Laut einer Gallup-Umfrage trauen den Medien lediglich noch 34 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner überwiegend bis mehrheitlich. 28 Prozent der Befragten antworten, sie würden den Medien nur bedingt trauen, während 38 Prozent nicht einmal das mehr tun. Dabei ist das Vertrauen je nach Parteizugehörigkeit unterschiedlich hoch: 70 Prozent demokratisch Wählender vertrauen den Medien unterschiedlich stark, während lediglich 14 Prozent republikanisch Wählender und 27 Prozent Unabhängiger das tun.
Da tragen Aktionen wie jene der Justiz in Marion gegen «The Record» wenig dazu bei, das Vertrauen in den Journalismus auf der einen und den Rechtsstaat auf der anderen Seite zu stärken. Umso wichtiger nun, dass die Verhältnismässigkeit des Durchsuchungsbefehls und des daraus resultierenden Polizeieinsatzes näher untersucht und alle Beteiligten zur Rechenschaft gezogen werden. Das Kansas Bureau of Investigation (KBI) hat angekündigt, es wolle ermitteln, dabei aber offengelassen, ob es sich auf das Verhalten der Zeitung oder jenes der lokalen Polizei konzentrieren will.
Für Seth Stern, den Direktor der «Freedom of the Press Foundation», ist der Fall klar: «Du kannst nicht sagen, ‘Ich darf eine Redaktion durchsuchen, weil ich wegen eines Verbrechens ermittle’, wenn es sich beim angeblichen Verbrechen um Journalismus handelt.» Bundesgesetze würden Hausdurchsuchungen nur zulassen, wenn ein ausreichender Anfangsverdacht besteht, dass eine Journalistin oder ein Journalist ein Verbrechen begangen hat, das nichts mit Journalismus zu tun hat.» Das gelte aber nicht für den Fall, wenn es zum angeblichen Verbrechen im Rahmen einer Recherche gekommen sei. Dann müsse eine Vorladung zugestellt werden, die sich vor Gericht anfechten lässt, bevor sie umgesetzt wird.
Auch für den «Marion County Record» gibt es keine Zweifel. Nach der Polizeiaktion meldete die Zeitung Joan Meyers Ableben unter der Schlagzeile: «Illegale Durchsuchungen tragen zum Tod der Mitbesitzerin der Zeitung bei». Eine weitere Konsequenz: Die Zeitung hat mehr als 2’000 Neuabonnenten gewonnen, unter ihnen ein Mann aus Phoenix (Arizona), der rund 2’879 Kilometer weit fuhr, um auf der Redaktion in Marion persönlich ein Abo zu bestellen. Die Verteidigung der Pressefreiheit war es ihm wert. Und die Schlagzeile auf der Frontseite der Druckausgabe? «Durchsucht, aber nicht zum Schweigen gebracht.»