Der Papst hat in einem Flüchtlingslager auf Lesbos die europäische Flüchtlingspolitik äusserst hart angeprangert. Treffend markierte er einen Skandal der politischen Kultur.
Worte des Papstes zielen meist zu hoch, um im weltlichen Tagesgeschäft wirklich anzukommen. Und so wäre sein Besuch des Flüchtlingslagers auf Lesbos am Sonntag keiner besonderen Erwähnung wert und könnte unter der Rubrik der wohlklingenden Ermahnungen abgeheftet werden. Aber er hat die Flüchtlingspolitik der Europäer nicht nur scharf kritisiert, sondern von einem «Schiffbruch der Zivilisation» gesprochen. Das ist eine Diagnose, die über das Übliche weit hinausgeht. Sie ist von schmerzhafter Präzision.
Im politischen Sprachgebrauch hat es sich eingebürgert, von «gefährlichen Überfahrten» über das Mittelmeer – zunehmend auch über den Ärmelkanal – und von «unhaltbaren Zuständen» wie jetzt an der Grenze zwischen Belarus und Polen zu reden. Allerdings darf man annehmen, dass Europa logistisch und technisch sehr wohl in der Lage wäre, «gefährliche Überfahrten» ebenso durch sichere Reisewege zu ersetzen wie «unhaltbare Zustände» in Grenzregionen mit entsprechenden Transport- und Unterbringungsmassnahmen von jetzt auf gleich zu beenden. Allein es fehlt der Wille.
Davon spricht der Papst. In der politischen Kultur Europas gibt es ein klammheimliches Einverständnis damit, dass Migranten der Weg in die gewünschten Aufnahmeländer nicht zu leicht gemacht wird – um es zurückhaltend zu formulieren. Die rechten Nationalisten und Populisten sprechen es offen aus und machen damit Propaganda; die eher liberalen oder linken Kreise drucksen herum. Denn auch sie fürchten Probleme, die ihnen in kurzer Zeit ganz fürchterlich auf die Füsse fallen können. Die Abkehr der CDU von Angela Merkels Aufnahmebereitschaft von 2015 steht jedem als warnendes Beispiel vor Augen – von den Problemen anderer europäische Länder gar nicht zu reden.
Wenn Europa objektiv keine Möglichkeit hätte, menschenunwürdige Bedingungen und Verhältnisse abzustellen, könnte niemand, auch der Papst nicht, von einem zivilisatorischen Schiffbruch sprechen. Aber es gibt Transportmittel und Unterbringungsmöglichkeiten wie Notaufnahmelager, die eingesetzt oder errichtet werden könnten, wenn man denn wollte.
Wohlmeinende Politikerinnen und Politiker würden für sich in Anspruch nehmen, dass sie sehr wohl wollten, wenn sie denn könnten. Sie würden sich also sehr viel stärker für Migranten einsetzen, wenn ihnen dieses Engagement nicht unweigerlich den politischen Boden unter den Füssen wegziehen würde. Was nützt die beste Absicht, wenn sie auf das Ende des eigenen politischen Mandats hinausläuft?
Dieser Einwand aber mildert das Wort vom «Schiffbruch der Zivilisation» nicht ab, im Gegenteil. Denn unethisches Handeln bleibt auch dann unethisch, wenn «Sachzwänge» bessere Möglichkeiten verstellen. Niemand darf sich mit der Berufung auf Sachzwänge moralisch beruhigen. Albert Schweitzer hat einmal gesagt, dass das gute Gewissen eine Erfindung des Teufels sei. Entsprechend reicht es nicht aus, menschenunwürdige und unhaltbare Zustände nur deshalb hinzunehmen und sich politisch damit zu arrangieren, weil es überaus schwierig ist, Abhilfe zu schaffen. Das Wort des Papstes ist wie ein Pfahl in diesem Fleisch.