Die Reise beginnt im Südosten. In Dieulefit (Gott hat's gemacht), einem Kleinstädtchen, 30 Kilometer östlich des Rhônetals auf der Höhe der Nugat-Stadt Montélimar. Die Legende will, dass die Sarazenen, als sie im 8. Jahrhundert in die Gegenden vorgedrungen waren, angesichts der Schönheit des Ortes ausgerufen haben sollen: „Allah Ba“ - was so viel heisst wie „Gott hat gemacht“.
Liegt es an dieser Legende, dass Ende August einige Wirrköpfe, die sich auf al-Qaida beriefen, die Webseite der von Gott gemachten Stadt lahmgelegt und dort ein paar Fotos von Gotteskriegern platziert hatten? Oder hat ihnen nicht behagt, dass Dieulefit eine Stadt der Gerechten ist, während der deutschen Besatzung mehr als 2‘000 Verfolgte vor den Nazis beschützt, versteckt und gerettet hat, darunter viele Juden?
Ardèche
Wenn die Bewohner von Dieulefit heute per Auto nach Marseille oder nach Lyon oder gar nach Paris müssen, dann meiden sie eines wie die Pest: die Autobahn unten im Rhônetal, die A 7, die Nord-Süd-Achse, auf der sich halb Europa tummelt, um an die Sonne zu kommen und auf der Armadas von spanischen Schwerlastern rund ums Jahr Tomaten und früh gereiftes Obst nach Norden schaffen.
Trotz ihrer 6 Spuren ist die A 7 zwischen Orange und Valence fast ständig blockiert. Auf diese Art können abertausende Staugeschädigte zwischen Marcoule und Saint Albin zumindest in aller Ruhe gleich vier Atomanlagen der französischen Nuklearindustrie bewundern, deren Meiler wie Wachposten auf die Blechlawine, die Rhône, den Rhônekanal und die vorbei donnernden Hochgeschwindigkeitszüge herab schauen.
Also macht man es wie die Einheimischen, meidet das fürs Wochenende angekündigte Blechinferno auf dem mautpflichtigen Asphalt und wählt Bundes- und Landesstrassen, um in die Hauptstadt zu kommen.
Von Osten her über die Rhône in Richtung Zentralmassiv grüsst die Ardèche, seit Jahrzehnten Eldorado der holländischen Touristen, ein Landstrich mit extremer Streusiedlung, einer unglaublichen Fülle sich endlos windender Kleinstrassen und – bei genauerem Hinsehen - mit Terassen auf den Hängen, die seit fast hundert Jahren landwirtschaftlich nicht mehr genutzt werden. Früher wurden auf ihnen Seidenraupen gezüchtet und der Brotbaum, die Kastanie, gepflegt.
Aubenas ist der zentrale Ort der Ardèche, eine 10‘000 Einwohnerstadt, mit gewichtigem Schloss und der Altstadt oben auf dem Felsen. An seinem Fuss verstreuen sich die Neustadt und die Nachbarorte der Agglomeration in einer weiten Kuhle.
Hier, bei der Suche nach einer Tankstelle, passiert einem ein erstes Mal, was man auf den kommenden 700 Kilometern immer und immer wieder erleben wird: schreiende, grelle Werbeschilder und Aufschriften springen ins Auge, als man den Ortsrand erreicht. Wild hingeworfene Hangars, wie Würfel aus Wellblech in den wildesten Farben machen die Peripherie von Aubenas zu einem erschreckenden, unansehlichen Chaos. «Periurbane Metastasen» hat ein Stadtplaner dieses französische Phänomen genannt, das seit 30 Jahren die Physiognomie fast aller Klein- und Mittelstädte des Landes schleichend ramponiert hat.
Der Gegensatz könnte grösser kaum sein: die Landschaften entlang der Strecke durch das französische Zentralmassiv von Aubenas über Le Puy, Ambert bis hinunter nach Vichy sind von umwerfender Schönheit und beeindruckender Vielfalt – nicht umsonst kann sich Frankreich Jahr für Jahr damit brüsten, Tourismusweltmeister zu sein. In diese Schönheit hinein hat man aber seit drei Jahrzenten quer durchs Land gnadenlos Geschäftsviertel gesetzt, die aussehen, als stünden sie im Wilden Westen, als wäre überall Paris Texas – ob in der Provence, der Bretagne, im Elsass oder hier im Zentralmassiv darf sich der Kommerz in seiner billigsten Form tausendfach schamlos prostituieren. Auch was noch neu ist, erst vier oder fünf Jahre alt, sieht schon alt aus, zerbrechlich, verkommen, provisorisch. Geradezu haarsträubend ist dabei der Hintergrund, dass diese Entwicklung erst auf Grund des Dezentralisierungsgesetzes von 1982 unter François Mitterrand überhaupt möglich wurde.
Die für das hyperzentralistische Frankreich im Grunde so wichtige Reform der Dezentralisierung hatte die perverse Folge, dass plötzlich die Bürgermeister - und davon hat in Frankreich bekanntlich das kleinste Dorf einen, insgesamt sind es 36‘000 – die gesamte Macht über das Territorium ihrer Gemeinden bekamen und berechtigt wurden, sich um die Orts- und Stadtentwicklung zu kümmern. Und das hiess in erster Linie: sie durften Baugenehmigungen am laufenden Meter auszustellen.
Und die Bürgermeister taten es, liessen sich dabei besonders von den gigantischen Supermarktketten auch hin und wieder bestechen und sie tun es heute immer noch: bauen und bauen lassen, egal wie, gilt landläufig als Zeichen dafür, dass die Gemeinde dynamisch ist. In diesen so genannten «Zones d'Activité» an den Stadträndern herrscht ganz überwiegend der Kommerz, produziert wird hinter den Leichtmetallwänden dieser schnell hingeknallten Hallen so gut wie nichts.
Chaise Dieu
40 Kilometer nach Aubenas verläuft die Bundesstrasse bereits auf über 1‘200 Metern Höhe und man hat den Eindruck, den Süden, auch wenn die Ortsnamen immer noch danach klingen, endgültig verlassen zu haben. Rau ist es geworden, die Steine der Häuser sind dunkler, die Dachziegel deutlich winterfester, die Vegetation dichter und grüner, die Besiedlung immer dünner. Eine majestätische Landschaft , von der aus - wenn die Wolken aufreissen – der Blick über mehr als 100 Kilometer weit in alle Himmelsrichtungen reicht.
Ganz vorsichtig trottet einem plötzlich die Frage durch den Kopf: Wovon leben die Menschen hier eigentlich? Gewiss da stehen Kühe auf der Weide, Käse wird produziert – aber den Bauern steht das Wasser bis zum Hals, die Selbstmordrate in der Landwirtschaft ist mittlerweile überdimensional hoch.
Natürlich der Tourismus. Alle paar hundert Meter steht ein Hinweisschild für irgendein abgelegenes Gästezimmer oder für eine Ferienwohnung – doch davon haben die Menschen in diesen Regionen so viele hergerichtet, dass viele davon auch in den Sommermonaten nicht vermietet werden und man dieses Jahr in vielen Regionen mit den Preisen heruntergehen musste.
Le Puy-en-Velay und 30 Kilometer weiter nördlich das Städtchen La Chaise Dieu - wörtlich «Stuhl Gottes» - leben vor allem dank des Katholizismus, hier tummeln sich Fromme aus ganz Frankreich und darüber hinaus.
In Le Puy, mit 60‘000 Einwohnern die einzige grössere Stadt in mehr als 100 Kilometern Umkreis, wird die Muttergottes verehrt, an einem Pilgerort, der hoch oben auf einem Felsen liegt, welcher wie ein warnender Zeigefinger in der Hochebene dieser Mittelgebirgslandschaft steht.
La Chaise Dieu besitzt eine Benediktinerabtei im Stil des Papstpalastes von Avignon – kein Wunder: der in Avignon etablierte Papst Clemens VI. hatte den Bau im 14. Jahrhundert veranlasst. Seit Mitte der 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts sorgt ein mittlerweil international renommiertes Kirchenmusikfestival zumindest im Monat August für reges Leben, von dem das Städtchen den Rest des Jahres über zehren dürfte.
Vielleicht heisst der Ort ja «Stuhl Gottes» weil man hier oben, auf fast 1‘100 Metern regelrecht über dem sitzt, was nach Norden hin folgt - ein weites Hochtal in Richtung Ambert - sieben Kilometer lang führt die Bundesstrasse wie eine überdimensionale Schlittenbahn gemächlich dort hinunter.
Ambert
Auch Ambert, ein so genannter zentraler Ort in dieser verlassenen Gegend, mit noch 7‘000 Einwohnern – schon Ende des 19. Jahrhunderts waren es mehr gewesen - bietet am Ortsrand dasselbe, schon beschriebene Bild der kommerziellen Hässlichkeit. Ambert ist landesweit für seinen Schimmelkäse, die „Fourme d'Ambert“ bekannt und hat eine im Grunde malerische Altstadt – ein kurzer Gang durch sie hindurch ist jedoch ein Schock. Sie ist weitgehend tot, Geschäfte sind wie verbarrikadiert, Gasthäuser geschlossen, vieles steht zum Verkauf, es herrscht Winterschlaf im tiefsten Sommer. Nur das „Zentrum für Sozialhilfe und Solidarität“ ist neu herausgeputzt in der grauen, verfallenden Umgebung.
Was noch an Leben bleibt, scheint auch hier an den Rand gezogen, wo sich das gleiche Bild bietet, das man auf den nächsten hundert Kilometern Richtung Norden in Kleinstädten wie Montbrison, Boen oder Lapalisse genau so vorfinden sollte: wie Pilze aus dem Boden geschossene, weitgehend einheitlichen Neubausiedlungen, mit den beige oder rosa verputzten Einfamilienhäuser, den Plastikfenstern, den kargen, halbfertigen Gärten, den wackeligen, grellfarbenen Kinderschaukeln und unverputzten Gartenmauern aus grauem Backstein.
Es sind Häuser, die schon baufällig aussehen, kaum dass sie fertiggestellt sind und mit Gewissheit keine 50 Jahre lang halten werden. So manches steht auch schon wieder zum Verkauf und findet keinen Käufer. Der Traum vom Einfamilienhaus ist nicht nur für das Stadtbild unzähliger Orte Frankreichs zum Alptraum geworden, sondern auch für viele Eigentümer, über die die Krise und die Benzinpreiserhöhungen hereingebrochen sind. In diesen Vierteln gibt es bestenfalls eine Bäckerei, die einer Baracke gleicht und eine ebenso provisorisch wirkende Apotheke mit dem weithin leuchtenden grünen Kreuz – für den Rest der Einkäufe hat man ja die ebenso hässlichen Geschäftsviertel am anderen Rand des Ortes. 70% der Einkäufe werden in Frankreichs Städten mittlerweile in der Peripherie und nicht im Zentrum getätigt – im Nachbarland Deutschland ist das Verhältnis exakt umgekehrt.
Frankreich hat es fertiggebracht, sehr zur Freude der riesigen Supermarktketten und der Baukonzerne wie Bouygues, seit Beginn der 80-er Jahre innerhalb von 10 Jahren jeweils die Fläche von einem durchschnittlichen Departement zu betonieren und zu asphaltieren: mit Einfamilienhaussiedlungen, periphären Geschäftsvierteln und den dazu gehörenden Strassen - ganz zu schweigen von den inflationär und oft sinnlos aus dem Boden gestampften Kreisverkehren.
„Die Franzosen“, so sagte jüngst der grosse Fotograph und Dokumentarfilme Raymond Depardon, „müssten sich eigentlich glücklich schätzen, in wunderbaren Landschaften leben zu können. Doch sie richten sie seit 30 Jahren zu Grunde“.
Nationale 7
Irgendwann nach Nevers, wo sich Frankreichs ehemaliger Premierminister Bérégovoy an einem tristen 1. Mai des Jahres 1993 erschossen hat, verliert man im Kreisverkehrchaos die von Charles Trénet besungene Nationalstrasse 7, die legendäre Sonnenstrasse zum Mittelmeer, an der sich einst, als das Reisen mit dem Auto noch einen anderen Rhythmus hatte, spätestens vier Stunden nach Paris die Sternerestaurants zu reihen begannen. Der Fernverkehr wird heute unerbittlich in Richtung einer neu gebauten Autobahn gelenkt, im letzten Moment bleibt nur eine Departementstrasse entlang der Loire.
Dutzende Kilometer und nicht ein geöffnetes Bistrot für einen letzten Café am frühen Sonntagabend – selbst am kleinen Yachthafen am Loirekanal stehen bereits die Stühle auf den Tischen.
Ein letztes Mal erlebt man bei Montargis den periphären Horror einer Kleinstadt. Draussen, vor dem letzten Kreiverkehr am Ortsrand, leuchtet neben den üblichen Wellblechwürfeln der Möbel-, Garten- oder Bastlergeschäfte die Billigtankstelle eines Mega-Supermarktes. Dort, keine 20 Meter von den Zapfsäulen entfernt und vor hunderten leerer Parkplätze, hat sich ein kleiner Lieferwagen installiert. Zwei junge Liebespaare und ein paar Einsame kommen extra mit dem Auto ausgerechnet hier her, um sich eine Pizza und eine Dose Bier zu kaufen. Die Poesie eines Sonntagabends in den «periurbanen Metastasen» des tiefen Frankreichs.
Paris
Am Horizont dann Paris – im Nachthimmel kündigt ein orangefarbener Schimmer den Moloch schon aus 50 Kilometern Entfernung an.
Die Politiker sind schon seit dem 20. August zurück, die Wochenzeitungen haben bereits das grosse Hollande-Bashing eingeläutet, ein heftiger Titel jagt den anderen nach dem Motto: Was tut der neue Präsident eigentlich, wo bleiben die Reformen, schläft er oder sind in seiner Umgebung nur Amateure am Werk? Und im Autoradio fangen die Sender bereits damit an, sich auf das alljährliche grosse, wenn auch banale nationale Thema einzuschiessen: auf den landesweiten Schulbeginn.
Auch nach 30 Jahren Frankreich bleibt man angesichts dieses Phänomens fassungslos: die Tatsache, dass die Kinderchen zwischen 3 und 18 nach dem Sommer wieder zur Schule müssen, ist Jahr für Jahr ein absolutes Grossereignis, fast eine Woche lang Dauerthema in den Medien. Willkommen im nachsommerlichen, französischen Alltag! Nichts hat sich geändert. Von wegen: „Le changement, c'est maintenant!“