Stéphane Hessel, der sanfte und empörte 94-jährige Erfolgsautor und ehemalige Widerstandskämpfer, hatte es, aus seinen strahlend optimistischen Augen diskret lächelnd, vor drei Wochen bei einem Gespräch so auf den Punkt gebracht: "Was mich in der Amtszeit von Nicolas Sarkozy besonders gestört hat, war der Mangel an Kultur - und die Vulgarität." - "Sagt man das so auf Deutsch?" hatte der dreisprachige, in Berlin geborene Veteran sofort nachgefragt, um es dann noch einmal, einfacher zu sagen: "Es war doch sehr vulgär."
Man kann Stéphane Hessel nur wünschen, dass er sich von seinem Schwächeanfall wenige Tage nach dem Gespräch gut erholt und möglichst selten die letzten Zuckungen des Wahlkampfs von Nicolas Sarkozy verfolgt. Denn was der amtierende französische Staatspräsident seit den Ergebnissen des 1. Durchgangs der Präsidentschaftswahlen am vergangenen Sonntag an Verleumderischem, Halbwahrheiten und Niederträchtigkeiten von sich gegeben hat, ist einmalig in den französischen Wahlkämpfen der letzten 25 Jahre und eben an Vulgarität kaum zu überbieten.
Ringen um Le Pens Stimmen
6,4 Millionen Franzosen haben am vergangenen Sonntag für die Kandidatin der rechtsextremen Nationalen Front, Marine Le Pen, gestimmt. Das sind über zwei Millionen mehr als im Jahr 2007. Und der amtierende Präsident weiss, dass er für seine Wiederwahl am kommenden Sonntag von diesen Stimmen so viele wie möglich braucht, um überhaupt noch eine Chance zu haben, seinen sozialistischen Herausforderer Hollande zu schlagen. Seine Strategie, schon vor dem 1. Wahlgang durch einen kräftigen Rechtsruck Marine Le Pen so viele Stimmen wie möglich abzujagen, ist am vergangenen Sonntag kläglich gescheitert, ja hatte gar das Gegenteil zur Folge: Sarkozy hat im Lauf der letzten Wochen Marine Le Pen legitimiert.
Seit den Ergebnissen des 1. Wahlgangs und den 17,9 % für Marine Le Pen legt sich der amtierende Präsident unter dem Einfluss von zwei Beratern, die direkt von der Nationalen Front kommen, noch mehr ins Zeug, um es Marine Le Pen möglichst gleichzutun: Sarkozys Äusserungen zu Ausländern, Islam oder den Eliten des Landes sind mittlerweile deckungsgleich mit denen von Marine Le Pen. Böse Zungen haben ihm jüngst sogar geraten, er solle sich doch auch noch eine blonde Perücke zulegen. In der Tat gibt es fast keine These der Nationalen Front mehr, die sich Sarkozy in den letzten Tagen nicht zu eigen gemacht hätte. Es ist, als wäre ein Damm gebrochen in Frankreich zwischen der klassischen, republikanischen Rechten und der Nationalen Front. Den Sicherheitscordon, den Vorgänger Jacques Chirac über ein Jahrzehnt lang zwischen sich und Le Pen straff gespannt hielt, hat der wahlkämpfende Präsident Sarkozy einfach über Bord geworfen.
Bei jeder Wahlveranstaltung wuchert er dieser Tage mit Themen und Thesen, die bisher der extremen Rechten vorbehalten schienen. Er verteufelt die Eliten des Landes, die ihm angeblich feindlich gesonnene Presse, die Ausländer, den Islam, die illegalen Einwanderer oder die Sozialschmarotzer, legt sich offen mit den Gewerkschaften an und organisiert, wie Philippe Pétain 1941, am 1. Mai ein Fest der echten Arbeit – auf der Esplanade des Troccadero im noblen 16. Arrondissement, ein Platz der normalerweise der Thematik der Menschenrechte vorbehalten ist.
Und Sarkozy nimmt sogar das Front-National-Thema par excellence, das der nationalen Präferenz beim Zugang zu Arbeitsplätzen, Sozialleistungen oder zur Krankenversorgung auf oder ruft den Wählern von Marine Le Pen Worte zu wie: „Wenn Sie nicht wählen gehen oder nicht für mich stimmen, dann werden sie das Wahlrecht für Ausländer in Frankreich bekommen. Ist es das, was sie wollen oder wollen sie das nicht? Irgendwann muss man zu seiner Verantwortung stehen. Sie wollen doch ihren Lebensstil beibehalten, finden doch auch, dass es nicht genügend Grenzen gibt, dass man nicht genügend über die Nation spricht und dass unsere Werte wichtig sind?“
Noch nie hat in Frankreich ein führender konservativer Politiker der Nationalen Front so eindeutig einen Persilschein ausgestellt, wie Nicolas Sarkozy dies jetzt getan hat, etwa indem er sagte: „Wenn es eine Kandidatin des Front National gibt, so hatte sie das Recht, Kandidatin zu sein. Wenn sie das Recht hat, bei einer Wahl zu kandidieren, ist sie mit der Republik kompatibel, oder nicht?"
Wir werden nicht nur die Wahl verlieren, sondern auch unsere Ehre
Selbst aus seinen eigenen Reihen kommt inzwischen Kritik an diesem ultrarechten Kurs. Am Montag äusserte sogar Premierminister Fillon, man solle sich mit der Beschimpfung der Gewerkschaften zurückhalten. Ex-Premierminister Raffarin meinte, man werde nach dem 6. Mai über die Strategie des konservativen Kandidaten zu diskutieren haben, andere gemässigte Konservative klagten mit Worten wie "Wir werden nicht nur die Wahl verlieren , sondern obendrein auch noch unsere Ehre".
Der Zentrumspolitiker François Bayrou, der im 1. Durchgang 9,1 % der Stimmen bekommen hatte, klagte Nicolas Sarkozy offen an, die Thesen der Nationalen Front zu adeln und bezeichnete "das Nachlaufen mit heraushängender Zunge hinter diesen These" als erniedrigend.
Der grüne Abgeordnete, Noël Mamère, nannte Sarkozys Verhalten gegenüber der Nationalen Front schlicht obszön. Und die Tageszeitung Le Monde liess mit einem Leitartikel von ungewöhnlicher Schärfe aufhorchen, unter der Überschrift: "Der Zweck heiligt nicht alle Mittel." Das Verhalten Sarkozys sei ein politischer und moralischer Fehler und das Eingeständnis seiner Schwäche – er zeige nicht mehr nur Verständnis für die Wähler der Nationalen Front, sondern kompromittiere sich mit den Ideen der rechtsextremen Partei.
Und tatsächlich nahm Nicolas Sarkozy letzte Woche noch eine weitere alte Forderung der Nationalen Front auf: Für Polizisten, die auf einen Verdächtigen geschossen haben, müsse generell die Annahme gelten, sie hätten in Notwehr gehandelt. Sein eigener Innenminister hatte diesen Vorschlag vor wenigen Monaten noch als «Erlaubnis zum Töten» abgelehnt – den Wahlkämpfer Sarkozy stört das nicht weiter. Marine Le Pen tönte postwendend, sie habe ganz offensichtlich einen ideologischen Sieg errungen.
Angst vor der Justiz
Die Heftigkeit, ja Brutalität, vermischt mit schierer Verzweiflung, die Nicolas Sarkozy im Kampf um seine Wiederwahl in der vergangenen Woche an den Tag gelegt hat, - so sagt man sich – hat seinen wahren Grund vielleicht noch wo ganz anders. Nämlich in der schlichten Angst vor der französischen Justiz, deren Unabhängigkeit er in den letzten fünf Jahren im übrigen mit Füssen getreten hat, wie keiner vor ihm.
Denn so lange Nicolas Sarkozy Hausherr im Elyséepalast ist, geniesst er wasserdichte Immunität, wie kein anderer Staats- oder Regierungschef in den westlichen Demokratien. Sollte er am kommenden Sonntag gegen François Hollande aber verlieren, muss er die Justiz gleich in vier verschiedenen Affären fürchten, wovon drei das Zeug dazu haben, Staatsaffären genannt zu werden: Karachi, Bettencourt und seit Samstag wohl endgültig auch die Affäre um die mögliche Finanzierung seines Wahlkampfs 2007 durch keinen geringeren als Muammar Ghadhafi.
Das Internetportal «Mediapart» veröffentlichte ein vom ehemaligen Geheimdienstchef Ghadhafis unterzeichnetes Dokument. Darin ist die Rede davon, dass man Ende 2006 übereingekommen sei, den Wahlkampf von Nicolas Sarkozy mit 50 Millionen Euro zu unterstützen. Das Dokument ist adressiert an Ghadhafis damalige rechte Hand, Saleh Béchir, eine Art Generalintendant des Revolutionsführers und Chef eines 40 Milliarden Euro schweren libyschen Investitionsfonds.
Selbiger Saleh Béchir lebt heute, auf wundersame Weise mit einem Diplomatenpass des Niger ausgestattet, unter Polizeischutz in Paris, seine Frau bewohnt eine 600-Quadratmeter-Villa keine zwei Kilometer Luftlinie vom Genfer Flughafen entfernt – auf der französischen Seite der Grenze. Das französische Innenministerium hat dem ehemaligen Ghadhafi-Intimus eine befristete Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt, mit der offiziellen Begründung der Familienzusammenführung. Saleh Béchir hat am Wochenende bestritten, das nun veröffentlichte Dokument je erhalten zu haben, geschweige denn Geld gezahlt zu haben. Und der ehemalige Geheimdienstchef Ghadhafis, der das Dokument unterzeichnet haben soll, stritt dies aus Doha in Katar ab, wohin er gegen Ende letzten Jahres mit französischer Hilfe gelangt war.
Eine Niederträchtigkeit
Nicolas Sarkozy stritt das Ganze als infame Verleumdung ab. Es sei unglaublich, dass man einem Dokument des damaligen libyschen Geheimdienstes auch nur einen Hauch von Glaubwürdigkeit zugestehe, empörte er sich im Studio eines französischen Fernsehsenders. Das Problem ist nur: Derselbe Nicolas Sarkozy wollte im Jahr 2007 diesen so wenig glaubwürdigen Individuen sogar französische Atomtechnologie verkaufen - und noch 2010 wurde mit Libyen über diesen möglichen Verkauf verhandelt. Wie das zusammen passt? Diese Frage konnte ihm die Moderatorin einfach nicht mehr stellen, so empört war der Präsident, der jede Bodenhaftung verloren zu haben scheint und noch hinzufügte, es sei eine Schande, dass man es überhaupt wage, ihm eine derartige Frage zu stellen, nämlich ob sein Wahlkampf mit 50 Millionen Euro aus Libyen finanziert worden sei. „Warum nicht 100 Millionen?“ polterte der amtierende Präsident, mühsam an sich haltend. Inzwischen hat er angekündigt, das Internetportal "Mediapart" - gegründet von einer Reihe erfahrener Investigationsjournalisten, darunter ein ehemaliger Chefredakteur von Le Monde - zu verklagen.
"Mediapart", das in dieser Angelegenheit seit zehn Monaten recherchiert, hält seine Behauptungen aufrecht und erinnert daran, dass man vor eineinhalb Jahren aus der Umgebung Nicolas Sarkozys mit denselben Schimpfworten belegt worden war, als «Mediapart» die ersten Informationen über die Bettencourt-Affäre veröffentlichte - heute sind nicht weniger als vier Personen aus dem engsten Umfeld Nicolas Sarkozys angeklagt, und der ehemalige Vermögensverwalter von Liliane Bettencourt sitzt seit Wochen sogar im Gefängnis .
Ein Kunstwerk gegen Sarkozy
François Pinault, der Eigentümer des Luxusgüterkonzerns PPR, unter den Top-Ten der reichsten Franzosen, einer der wichtigsten privaten Kunstsammler und seit Jahrzehnten ein enger Vertrauter von Ex- Präsident Jacques Chirac hat dieser Tage fast bewundernswert unter Beweis gestellt, dass man sehr wohl reich, konservativ und ein international anerkannter Top-Unternehmer sein kann und trotzdem das Verhalten eines Nicolas Sarkozy, besonders im Laufe der letzten Woche, zutiefst verurteilt. Ganz offensichtlich ist nicht nur für einen Stéphane Hessel die derzeit an höchster Stelle des Staates herrschende Vulgarität unerträglich geworden.
François Pinault hat vor einiger Zeit für zwei Millionen Dollar ein Werk des in Algerien geborenen französischen Künstlers Adel Abdessemed erworben, das den unverfänglichen Titel "Décor" trägt. Es handelt sich um vier aus Stacheldraht aus Guantanamo geformte Christusfiguren – zum 500. Geburtstag des Isenheimer Altars in Colmar wird dieses Werk bis zum 16. September dem Werk Grünewalds gegenübergestellt.
Die Vernissage dieser Konfrontation zweier Kunstwerke verwandelte der Mäzen und Kunstsammler François Pinault vergangene Woche, vier Tage nach den Ergebnissen des 1. Wahlgang, mit einigen knappen, gezielten Sätzen in eine Anti-Sarkozy-Demonstration. Den geladenen Gästen verschlug es fast die Sprache.
Das Werk von Abdessemed, das das Leiden der Menschen verkörpert und einen Schrei ausdrückt, ein Meisterwerk des 21. Jahrhunderts, das die Gegenüberstellung mit Grünewald aushalte, gerade jetzt in Colmar, im Elsass auszustellen, wo die rechtsextreme Marine Le Pen über 22 % der Stimmen errungen hat, sei für ihn – so Pinault – kein Zufall, sondern im gegenwärtigen Kontext wichtig und eine Art, sich dagegen aufzulehnen, dass die Menschen nicht wissen, für wen sie da stimmen. Und es folgte eine Salve gegen den konservativen Präsidentschaftskandidaten und dessen hemmungslose Anbiederung an die extreme Rechte: "Was soll das, die Unschuldsvermutung für Polizisten, in Notwehr gehandelt zu haben, wenn sie auf Verdächtige geschossen haben? Das ist wie im Wilden Westen. Man muss als erster ziehen. Sarkozy kommt völlig aus dem Tritt. Die, die ihm nahe stehen, glauben immer noch, er könnte gewinnen. Er ist aber erledigt. Das ist wie damals im Bunker 1945."
François Pinault, einer der bekanntesten Grossunternehmer Frankreichs , hat an diesem 26. April 2012 in Colmar im Museum Unterlinden - wie Le Monde titelte – Nicolas Sarkozy gekreuzigt.