64,5% - Frankreichs Kommentatoren nannten das umgehend mittelmässig, enttäuschend oder gar einen Rückschlag für Nicolas Sarkozy und alles andere als das erhoffte Plebiszit. In der Tat galt vor Wochen noch die Zahl von 80% als selbstverständlich, zuletzt hiess es, mehr als 70% für den ehemaligen Staatspräsidenten seien auch noch in Ordnung und jetzt das! Ein klares Signal an den von sich selbst so unendlich eingenommenen überzeugten Politprofi: er ist nicht mehr die unumstrittene Führungspersönlichkeit der französischen Konservativen, wie vor zehn Jahren, als er das erste Mal für drei Jahre zum Parteivorsitzenden gewählt worden war und 85% der Stimmen erhalten hatte.
Ein Drittel der Mitglieder der konservativen Partei sagt ihm in aller Deutlichkeit, dass er nicht der Mann ist, der diese am Boden liegende, heillos zerstrittene, von Skandalen und Finanzproblemen gebeutelte Formation wieder zusammenführen und einen kann.
Ein Drittel der Parteimitglieder hat nicht übersehen, dass Nicolas Sarkozy sein ganzes politisches Leben lang in erster Linie einer war, der gespalten und polarisiert hat und nach der Logik eines Clan-Chefs funktioniert: wer nicht mit mir ist, ist gegen mich und von daher mein Feind. Nicht unbedingt Eigenschaften, die dazu angetan wären, eine Partei mit verschiedensten Sensibilitäten wieder zusammen zu führen und zu mobilisieren.
Peinlicher Wahlkampf
Einem Drittel der Parteimitglieder, wie Millionen Menschen im ganzen Land, ist auch nicht verborgen geblieben, dass Sarkozys Wahlkampf für den Parteivorsitz einfach schlecht, improvisiert und ohne jede Konsistenz war. Der Rückkehrer in die Politik schien seine 20 Auftritte in zwei Monaten mit der linken Hand absolvieren zu wollen, wirkte launisch, sagte hier das eine und dort das Gegenteil, übertrieb und log wie gedruckt und erklärte Inhalte und Programmatisches von vorneherein als überflüssig, nach dem Motto: ich selbst bin das Programm. Am Ende des zweimonatigen, parteiinternen Wahlkampfs war allen klar: Sarkozy hat nicht die Spur einer neuen Idee zu bieten. Auch wenn er bei jedem Auftritt betonte, er habe in den letzten zwei Jahren viel nachgedacht – herausgekommen ist dabei offensichtlich so gut wie nichts.
Erneuerung
Als Vorsitzender, hatte er angekündigt, werde er die angeschlagene Partei umkrempeln, daraus eine "moderne Bewegung" machen und ihr auch einen neuen Namen geben. In den letzten zwei Monaten hat er aber mit keinem einzigen Wort gesagt, was das genau heissen soll und wie er das anstellen will.
Ein Drittel der Parteimitglieder hat ihm auf jeden Fall signalisiert: wir glauben nicht, dass einer, der schon 30 Jahre im Geschäft ist und sämtliche politischen Ämter bekleidet hat, für die Erneuerung der Partei stehen kann. Fast ein Drittel der Parteimitglieder hat nämlich einem Mann seine Stimmen gegeben, der in ihren Augen für eine echte Erneuerung der konservativen Partei steht, und zwar dem erst 45-jährigen ehemaligen Landwirtschaftsminister Bruno Le Maire. Er wurde von Sarkozy abschätzig als "Bac + 18" bezeichnet - was so viel heisst wie: er ist einer, der lange studiert, auch ein halbes Dutzend Bücher - darunter zwei sehr beachtete - geschrieben hat, fliessend Deutsch spricht und das Image eines Intellektuellen hat.
Le Maire hat während seines Wahlkampfs drei ganz simple Dinge immer wieder betont: die Partei, die seit Jahren keinerlei Ideen mehr produziert hat, muss sich ab morgen endlich an die inhaltlich-programmatische Arbeit machen und sich unbedingt wieder direkt an die Franzosen wenden, anstatt sich ständig um sich selbst zu kümmern und noch Monate damit zu verlieren, an neuen Statuten zu arbeiten und einen neuen Namen zu suchen. Zweitens: sie muss vollständig transparent werden, damit Finanzaffären wie in den letzten Jahren ein für allemal ausgeschlossen bleiben. Und sie muss sich von Grund auf erneuern. 29% der Parteimitglieder hat das überzeugt - auch weil Le Maire immer betont hat, er selbst werde sich nur um die Partei kümmern und habe für 2017 keinerlei Präsidentschaftsambitionen.
Merkwürdige Glückwünsche
Eines ist sicher: Nicolas Sarkozy hätte sich nie träumen lassen, dass sein Weg zurück in die Politik sich so steinig gestalten könnte, wie dies schon in den ersten zwei Monaten der Fall war. Und dabei war diese Wahl zum Parteivorsitzenden ja nur die erste, kleine, für ihn eigentlich nur lästige Etappe. Schliesslich geht es um Sarkozys Revanche gegen Hollande und den Wiedereinzug in den Elyséepalast im Mai 2017. Doch für dieses Vorhaben hat er im konservativen Lager jetzt, zweieinhalb Jahre vor der Wahl, schon drei Konkurrenten.
Deren Reaktionen am Wochenende auf Sarkozys mässiges Wahlergebnis sprechen Bände. Sein ernsthaftester Konkurrent, Ex-Premierminister Juppé - ein gemässigter, intelligenter Konservativer mit gaullistischen Wurzeln, der gerade einen zweiten politischen Frühling erlebt - konnte vor den Kameras seine Freude über das dürftige Ergebnis für Sarkozy kaum verbergen, ironisierte mit den Worten "Habemus Papam" und stellte klar, es sei nun am neuen Parteivorsitzenden, Initiativen zu ergreifen, um die Partei zu befrieden und wieder zusammenzuführen und zu einen.
Der andere Mitkonkurrent, noch ein ehemaliger Premierminister, François Fillon, twitterte eine Höflichkeitsformel, um dann hinzuzufügen, Einheit heisse nicht Unterwerfung, andere Meinungen müssten respektiert werden. Was mehr nach Kriegserklärung, als nach Glückwünschen klingt.
Und der dritte, bereits erklärte Kontrahent um die Präsidentschaftskandidatur, Ex-Arbeitsminister Bertrand, entsandte überhaupt keine Glückwunsche, sondern gratulierte Bruno Le Maire zu seinem guten Ergebnis von fast 30%. Eine Stimmung der gezückten Messer für den Neuanfang einer Partei, in der das Wort Misstrauen ganz gross geschrieben wird. Man kann getrost behaupten: der Krieg zwischen den Chefs der konservativen UMP-Partei beginnt jetzt erst richtig. Dass es Nicolas Sarkzoy gelingt - selbst wenn er es wollte, was nicht der Fall ist - die Partei wirklich zu einen, glaubt ohnehin niemand. Der Wunsch des eigentlich Siegers dieser Wahl für den Parteivorsitz, des Zweitplatzierten Bruno Le Maire, wonach sich die Partei nun wirklich an die inhaltliche Arbeit machen sollte, wird mit ziemlicher Sicherheit nicht in Erfüllung gehen.
Warum die Rückkehr an die Parteispitze?
Offiziell heisst es, Nicolas Sarkozy habe, um 2017 den Elysée erobern zu können, keine andere Wahl gehabt, als erneut in die Untiefen der Parteipolitik hinabzusteigen, damit ihm die Partei nicht entgleitet und er sie, wie das schon seit Chiracs Zeiten immer wieder der Fall war, als Präsidentenwahlmaschine benutzen kann. Etwas wirklich anderes waren die UMP und die vormalige RPR de facto ohnehin nur selten. Allerdings: es wird 2016, in welcher Form auch immer, offene Urwahlen für die Präsidentschaftskandidatur der Konservativen geben. Sarkozy, der davon nichts wissen wollte, wird jetzt nur schwer darum herumkommen. Seine drei Kontrahenten werden ihm täglich auf die Finger schauen und darüber wachen, dass er diese Wahlen nicht sabotiert - so enorm ist das Vertrauen unter Parteifreunden der UMP.
Doch hinter Sarkozys Flucht an die Parteispitze könnte auch noch eine ganz andere Überlegung stecken. Der Gedanke nämlich, dass es ihm als Parteichef leichter fallen könnte, als wenn er nur ein einfacher Privatmann wäre, sich aus dem Morast der unzähligen Justizaffären zu retten, in die er mehr oder weniger tief verwickelt ist, sich in der einen oder anderen Affäre zumindest über die Zeit bis nach 2017 zu retten, wo er bei einer Wiederwahl als Präsident erneut politische Immunität geniessen würde.
Interessenskonflikte ohne Ende
Besonders skurril, ja haarsträubend dabei ist allerdings, dass es zwei Affären gibt, in denen gegen Nicolas Sarkozy direkt ermittelt wird oder ermittelt werden könnte, bei denen es um die nicht korrekte Finanzierung von Wahlkämpfen und um doppelte Buchführung der UMP-Partei geht, deren Vorsitzender Nicolas Sarkozy nun seit Samstag ist. In beiden Affären tritt die Partei als Nebenkläger auf.
Die eine ist die so genannte Bygmalion-Affäre, nach dem Namen der Dienstleistertfirma, die an die UMP-Partei 2012 falsche Rechnungen in Höhe von 18 Millionen Euro gestellt hat, für Leistungen während Nicolas Sarkozys Wahlkampf 2012, die die erlaubte Höhe der Wahlkampfkosten von 23 Millionen in ungeheurem Ausmass überschritten hatten. Sarkozy, sein Umfeld oder die Partei verlangten von der Dienstleisterfirma, falsche Rechnungen in zweistelliger Millionenhöhe auszustellen, für Seminare, Konferenzen und Weiterbildungen, die nie stattgefunden hatten. Es war Sarkzoys Wahlkampf und es ist unvorstellbar, dass er in dieser Angelegenheit nicht irgendwann zu den Untersuchungsrichtern zitiert wird – dann als Chef der Partei, die die Firma Bygmalion zum Ausstellen der falschen Rechnungen gezwungen hatte, damit die für ihre Leistungen, die sie während Sarkozys Wahlkampf erbracht hatte, bezahlt werden konnte.
Bei der anderen Affäre geht es um 360‘000 Euro Strafe, die der Kandidat Nicolas Sarkozy persönlich hätte bezahlen müssen, die er aber von der UMP-Partei begleichen liess - weil selbst die offiziell erklärten Wahlkampfkosten von 23 Millionen Euro 2012 vom französischen Verfassungsgericht nicht akzeptiert worden waren. Die Folge: ein Teil von rund 10 Millionen wurde der Partei nicht rückerstattet und der Kandidat selbst hatte die oben genannte Strafe zu zahlen. Gegen Sarkozy wird in dieser Angelegenheit bereits ermittelt, weil er von der Veruntreuung von Firmengeldern profitiert haben könnte. Künftig muss Sarkozy, der Parteichef, in dieser Angelegenheit die Interessen der Partei vertreten, gegen Sarkozy, den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten. Eine wohl einmalige Konstellation.