Das Wintermärchen Schweiz könnte zu Ende sein, schrieb Kulturredaktorin Daniele Muscionico vor kurzem in der Neuen Zürcher Zeitung. Doch das sei nicht weiter schlimm, denn die bauernschlauen Schweizer Bergler hätten das Märchen ja selbst erfunden: Ein naturgegebenes Gut, für den Eigenbedarf wertlos – Eis, Schnee und Kälte – hätten sie den Städtern und Unterländern mit einem kreativen Marketing als „alpines Gold“ für den Wintersport verkauft.
Im Urserental war vor drei Wochen nach langer Trockenzeit schon nicht mehr viel übrig von dem alpinen Gold. Der harte Schnee brach hörbar unter den Skiern. Man musste achtgeben, dass die Felle auf dem Eis überhaupt griffen. Die Morgensonne konnte der strengen Kälte nichts anhaben.
Das erste Stück der Tour führt von Hospental über die Schneereste der Gotthardpass-Strasse. Dann geht es rechts hinauf in einen Nordhang, und dieser Nordhang war einmal eine Skipiste. Die Stützen der Sesselbahn stehen noch.
Verlassene Skigebiete haben selbst bei blauem Himmel etwas Trauriges. Die Reste der Lifte stehen da als stumme Mahnmale eines unternehmerischen Scheiterns, aber auch als Ruinen einer eingleisigen Freizeitindustrie, die für viele Berggemeinden zum Problem geworden ist. Das Wintersportgeschäft ist unsicher, die Erderwärmung ist einer der Risikofaktoren, die den Bergbahnen zusetzen.
Wenn dann noch ein Virus auftaucht und das Frühlings- und Ostergeschäft zunichte macht, steht manchen Liftbetreibern bald einmal das Wasser bis zum Hals. Den kleineren Betrieben wird in der derzeitigen Notlage vielleicht ein zinsloser Bankkredit gewährt. Die Wurzel des Übels ist aber kein Virus und keine Epidemie. In Hospental stehen die Lifte auf der Nordseite des Winterhorns schon viele Jahre still. Sie wurden zum Kauf angeboten. Schliesslich hätte man sie sogar gratis haben können, aber niemand wollte sie.
Werner Bätzing, Alpenforscher und Kulturgeograph, bringt es auf den Punkt: „Wenn der Wintertourismus sich so weiterentwickelt wie in den letzten 20 Jahren, dann werden in weiteren 20 Jahren die Hälfte der Skigebiete verschwunden sein, nämlich die, die unter 2000 Metern Höhe liegen.“
Die Grossen bauen aus, die Kleinen bauen ab
Der Prozess der Konzentration ist frappierend. Ein paar wenige grosse Bergbahnen schreiben schwarze Zahlen und bauen weiter aus, viele kleine Bahnen melden Konkurs an und bauen ab. Quer durch die Schweiz werden immer mehr Sesselbahnen und Skilifte stillgelegt. Ich habe mir in den vergangenen Wintern einige angeschaut: vom bündnerischen San Bernardino über Lungern-Schönbühl in der Innerschweiz bis hin zu Liften am Col des Mosses in der Waadt (Les Moulins bei Château d’Oex: drei stillgelegte Lifte auf Monts Chevreuils).
In Lungern war die Betreiberfirma 2012 pleite. Die gesamte Anlage sollte abgerissen werden, aber es fand sich zur Freude von Gemeinde und Kanton ein Investor, der Obwaldner Unternehmer Theo Breisacher, der die Luftseilbahn Lungern-Turren übernahm und renovierte. Stillgelegt wurde jedoch das ganze Skigebiet im oberen Bereich um das Berghaus Schönbühl. Sesselbahn und Lifte wurden abgebaut und restlos entfernt. Heute setzt man am Brünig auf Sommerwanderer und sanften Wintertourismus, ohne grosse Rendite zu erwarten.
Die Liste des Scheiterns ist lang. Der Branchenverband Seilbahnen Schweiz führt keine entsprechende Statistik. Mediensprecher Andreas Keller nannte mir aber einige Fälle, die ihm persönlich bekannt sind: zum Beispiel die Sportbahnen Hungerberg im Obergoms, die Sesselbahn Ried-Lengenbrand im Oberen Simmental, das Skigebiet Girlen bei Ebnat Kappel im Toggenburg sowie die Schwybergbahn am Schwarzsee in den Freiburger Voralpen. Sie alle mussten aufgeben.
Die hässlichen Ruinen der vom Sturm Lothar zerstörten Anlage am Schwyberg sind mir gut in Erinnerung. Sie standen seit 1999 in der Landschaft, bis sie schliesslich 2017 von der Armee abgeräumt wurden. Oft gibt es keine Rücklagen für die Demontage, und die Betreiberfirma existiert nicht mehr.
Einige Unternehmen führen zwar die Luftseilbahn weiter, aber nur für Wanderer und Gäste der Bergrestaurants. Ob am Stockhorn im Simmental, am appenzellischen Kronberg oder an der Cimetta bei Locarno, stets findet sich die gleiche Bekanntmachung: „Wegen andauerndem Schneemangel sind Skilifte und Skifahrbetrieb eingestellt.“
Der Fall Hospental
Von Hospental hat man eine Stunde Aufstieg bis zur ehemaligen Mittelstation. Die Sessel wurden entfernt, aber Pfeiler, Drahtseile und Umlaufrad stehen da oben noch still in der Morgensonne, als warteten sie darauf, dass jeden Moment der Betrieb aufgenommen würde. Damit ist seit langem Schluss, und die Bauruinen sollten längst verschwunden sein. So jedenfalls sieht es eine Vereinbarung vor, die im Sommer 2013 zwischen dem Investor Samih Sawiris, dem Kanton Uri und den Umweltverbänden getroffen wurde.
Der ägyptische Tourismus-Tycoon erhielt von Bund, Kanton und Gemeinde die Erlaubnis, unter der Marke „Andermatt Swiss Alpine Destination“ ein Tourismusresort mit Hotels, Ferienhäusern, Restaurants, einem Sportzentrum und einem 18-Loch-Golfplatz aus dem Boden zu stampfen. Auch der damit verbundene Ausbau der Skilifte am Oberalppass und die Verbindung nach Sedrun wurden genehmigt, wenngleich Landschaftsschützer erhebliche Bedenken anmeldeten. Sawiris profitiert von Steuererleichterungen und Subventionen der öffentlichen Hand.
Teil der Abmachungen war auch, dass die Ruinen der Lifte bei Hospental abgebaut und das Gebiet in der Zonenplanänderung unter Landschaftsschutz gestellt würde. Bis heute ist aber nichts passiert. Auf meine schriftliche Frage bei der Gemeinde Hospental antwortet die Gemeindepräsidentin: „Zurzeit laufen noch einige Abklärungen. Bis diese abgeschlossen sind, wird die Anlage wohl noch stehen bleiben. Leider kann ich Ihnen keine genaueren zeitliche Angaben machen. Mit freundlichen Grüssen.“
Nur die ganz grossen, auf dem asiatischen Markt aktiven Bergbahnen, etwa Jungfraujoch Titlis oder Zermatt, machen noch gute Gewinne. Für die anderen ist die sogenannte Marktwirtschaft, ideologisches Steckenpferd des Kapitalismus, seit langem ausser Kraft gesetzt. Man hat umgestellt auf verschiedene Systeme wohltätiger Planwirtschaft, das heisst Subventionen, die als neue Regionalpolitik, Strukturerhaltung oder in anderen Wortverpackungen daherkommen.
Unverpackt heisst das: Die Bahnen und ihre Schneekanonen müssen mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler über Wasser gehalten werden. Das finanzielle Engagement des Kantons Glarus bei den Bahnen in Elm und Braunwald ist ein gutes Beispiel. Der Verband der Schweizer Seilbahnen schätzt, dass rund eine Million Franken anfallen, um einen Kilometer Piste zu beschneien.
Die Flucht in die Höhe
120 Millionen Touristen strömen jährlich in die Skigebiete der acht Alpenländer, doch die durchschnittliche Länge der Schneesaison hat sich seit 1960 um rund einen Monat verkürzt, und der Markt stagniert. Eine schleichende Katastrophe für den Skitourismus. Umdenken und Redimensionieren wären eine Option. Doch noch immer gibt es Tourismusmanager, die glauben, sie müssten die Expansion forcieren, um Hotelbetten und Kassen zu füllen.
Wenn es unten keinen Schnee mehr gibt, geht man weiter hoch und beginnt die letzten verbliebenen Gletscher mit Liften zu bebauen. Im benachbarten österreichischen Bundesland Tirol treibt der Gigantismus bizarre Blüten. Der Mittelberg Ferner, eines der letzten unverbauten Gletschergebiete der Ostalpen, soll erschlossen werden, um die Skigebiete Pitztaler Gletscher und Sölden zu einem Megarummelplatz zu verbinden: Seilbahnen, Pisten, Restaurants, das ganze Programm. „Wir leben in einem Markt von 500 Millionen Teilnehmern in Mitteleuropa“, sagt der Hotelier Günther Aloys in Ischgl. „Und mittendrin die Alpen. Das ist unser Unterhaltungspark, unser Entertainment-Park.“
Tirol hat bereits 140 Skigebiete, aber der Moloch Freizeitindustrie kennt keine Sättigung, er sucht sein Heil in der Expansion. Man hofft auf eine Zukunft mit Millionen chinesischer Skifahrer. Mit juristischen Taschenspielertricks werden aus illegalen „Neuerschliessungen“ flugs einmal legale „Zusammenschlüsse von Skigebieten“.
Johannes Kostenzer ist Environmental Ombudsman, also so etwas wie ein Anwalt der Umwelt. Er prüft für das Land Tirol jährlich mehr als tausend Baugesuche für Lifte auf ihre Umweltverträglichkeit. Er kämpft meist auf verlorenem Posten: „Denn der Wintersport ist in Tirol ein so starker Wirtschaftsfaktor geworden, dass daraus auch ein unmittelbares öffentliches Interesse abgeleitet wird, was in den Rechtsverfahren dazu führt, dass fast alles genehmigt wird.“
Die Schweiz steht nicht nach im Expansionsdrang. Vor der Eigernordwand wurde eine neue Kabinenbahn gebaut, die laut PR-Mitteilung 2800 Personen pro Stunde auf den Eigergletscher befördern kann. Zudem wurde die Fahrzeit aufs Jungfraujoch um 42 Minuten verkürzt. Die runde Million Besucherinnen und Besucher, die jedes Jahr dort oben abgefertigt werden müssen, reicht also nicht. Es sollen wohl ein paar Hunderttausend mehr sein.
Viele Gemeinden machen nicht mehr mit
Doch der Wind hat gedreht. Viele Randregionen haben erkannt, dass der Rüstungswettlauf der Freizeitindustrie ruinös ist. Gigantische Baustellen zerfressen die Kulturlandschaften, die einst zum Mythos der Alpen gehörten. Unterhaltungsindustrie und Animiergewerbe dominieren zunehmend den Wintersport. Das Ballermann-Syndrom produziert Gewinn für wenige und Frust für viele. All diese Faktoren haben dazu beigetragen, dass immer mehr Berggemeinden angefangen haben, sich neu zu orientieren. Mit der Devise „Nachhaltiger Tourismus“ verbinden die meisten nicht nur grüne Gefühle, sondern unerbittliche ökonomische Logik.
Auch der SAC und die Alpenvereine unserer Nachbarländer wenden sich entschieden gegen jede weitere Expansion von Skigebieten. Und nicht zuletzt haben die Medien ein Thema gefunden: „Ausverkauf der Alpen“ (SWR), „Alpen abgezockt“ (3sat) oder „Rummelplatz Alpen“ (ARTE) lauten die Titel der Dokumentarfilme. Sie stellen Konflikte dar, welche offensichtlich beim Publikum auf Interesse stossen.
Der Alpenforscher Dominik Siegrist ist 2017 mit Freunden zu Fuss von Wien nach Nizza gegangen und hat überall Leute getroffen, die sich die gleiche Frage stellen: Wie lässt sich verhindern, dass ausufernder Tourismus und Verkehr den Lebensraum Alpen zerstören? Das daraus entstandene Buch „Alpenwanderer“ (1) ist die Bestandesaufnahme eines neuen Umweltbewusstseins, das wie ein starker Föhn die gesamte Alpenregion erfasst hat.
Siegrist hat sich in vielen der 300 Gemeinden umgesehen, die sich dem Netzwerk „Allianz in den Alpen“ angeschlossen haben. Sie alle setzen sich ein für die Umsetzung der Alpeninitiative, die in der Schweiz 1994 von Volk und Ständen gutgeheissen wurde und seitdem Bestandteil der Bundesverfassung ist. Im März 2020 entschied der Nationalrat in erster Instanz mit der Zustimmung aller Parteien, die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene mit dreimal mehr Geld zu fördern, als der Bundesrat beantragt hatte. Die Schweiz ist mit der Politik der Verlagerung bedeutend weiter als Italien oder Österreich.
Small is beautiful: Hoffnung auf Nachhaltigkeit
Am Buchser Berg im Rheintal betreibt die Ortsgemeinde Buchs einen Skilift für die Kinder. Die bekommen dann zu ihrer Tageskarte noch einen Bon, mit dem sie im Berghaus Malbun ein Rivella, ein Glace oder ein Stück Kuchen gratis bekommen. Man sieht: Auch ein Skilift kann Service public sein.
Es gibt also nicht nur das allseits diagnostizierte Liftesterben, sondern auch eine Gegenbewegung, und die weckt die Hoffnung, dass das Wintermärchen für kleine Skigebiete noch nicht ganz ausgeträumt ist. Im Kanton Zürich nimmt laut einer Umfrage des Tagesanzeigers das Interesse an Skilagern wieder zu. Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder Skifahren lernen und bilden Fördervereine, um zu verhindern, dass Lifte geschlossen werden. Auf diese Art werden die Lifte Oberholz-Farner im Zürcher Oberland finanziert, aber auch zahlreiche andere kleine Lifte in der ganzen Schweiz. Einige kleine Bahnen überleben, weil ihnen die grossen Skistationen mit ausgedienten Pistenraupen und anderem Material aushelfen.
Kleinere Skigebiete können von Glück sagen, wenn ein Mäzen und Lokalpatriot sie vor der Pleite rettet. Legendär ist Kurth Mathis aus Wolfenschiessen, der zusammen mit seiner Frau ein Bergrestaurant und die Sesselbahn auf den Haldigrat bei Niederrickenbach betreibt. Sie haben die Anlage 2002 gekauft, nachdem sie fünf Jahre lang stillstand und abgerissen werden sollte. Ihre wenigen Sessel haben eine so geringe Förderkapazität, dass sie sogar von mancher müden Materialseilbahn übertroffen wird: 55 Personen pro Stunde!
„Wenn ich das wägm Gäld miäst mache, das gat gar nid“, hat Kurt Mathis einmal gesagt (2).
Am Haldigrat gibt es keine präparierten Pisten, die Hänge sind ein El Dorado für Tiefschnee-Fans. Aber nur für diejenigen, die viel Zeit und Geduld mitbringen. Man findet sie glücklicherweise mehr und mehr, die coolen Typen, denen es nicht auf Pistenkilometer ankommt, sondern auf jenes Gesamtkunstwerk aus Landschaft, Himmel, Kurven im Schnee und kalten Nasen: Wintersport eben.
(1) Dominik Siegrist: Alpenwanderer, Haupt Verlag 2019
(2) Helmut Scheben: Ein Preis für die Erinnerung ans langsame Leben, 2013, www.Journal21.ch