Ausgerechnet Flamanville. Dort wird der EPR, der Atomreaktor der nächsten Generation gebaut und stehen zwei der 58 Atomreaktoren Frankreichs genau vor der Haustür, und doch kam zwei Tage lang kein Strom aus der Steckdose. Alltag im High-Tech-Land Frankreich, das immer noch betont, die fünftgrösste Wirtschaftsmacht der Welt zu sein, wo aber zusehends die selbstverständlichsten Dinge nicht mehr selbstverständlich sind und wo es in den letzten Jahren vielerorts in der Verwaltung und den Dienstleistungsbetrieben immer lauter knirscht und kracht.
Die Justiz - ein Schrbenhaufen
Ein Bürger, der in Frankreich sein Recht bekommen will, braucht Ausdauer und eine gehörige Portion Geduld. Einer, der z.B. von seinem Arbeitgeber zu Unrecht entlassen wurde und das Arbeitsgericht anruft, muss wissen, dass unter drei Jahren nichts geht - und selbst da muss er Glück haben.
Kümmern sich Gerichte um einen politischen Skandal, kann man sicher sein, dass die Öffentlichkeit sich schon längst nicht mehr erinnern wird, worum es da ging, wenn es dann, oft über ein Jahrzehnt später, endlich zum Prozess kommt.
Seit Ewigkeiten hört man Klagelieder über die unzureichende materielle und personelle Ausstattung der französischen Gerichte - doch es wird nur noch schlimmer. 2010 wurden weitere 200 Richterstellen gestrichen. Dabei verfügt Frankreich im Vergleich zum Nachbarland Deutschland auch so schon pro Kopf der Bevölkerung gerade mal über ein Drittel an Richtern und Staatsanwälten. Und nicht nur das: das völlig überlastete Justizpersonal arbeitet unter haarsträubenden Bedingungen.
Die Gewerkschaft der Richter und Staatsanwälte, USM, hat gerade ein Weissbuch herausgegeben, dessen Inhalt einen ins 19. Jahrhundert zurückversetzt. In Aix en Provence z.B. hat man das Gericht 1970 provisorisch in einem ehemaligen und verlassenen Krankenhaus untergebracht – das Provisorium dauert an, und weil es ein Provisorium ist, wurde seit 40 Jahren nicht die kleinste Instandhaltungsarbeit ausgeführt. In Caen ist die Hälfte des Gerichtsgebäudes wegen Einsturzgefahr gesperrt, in Toulouse fiel eine Decke herunter – zum Glück am Wochenende, und in Reims klatscht schon mal Taubendreck auf den Tisch, an dem die Geschworenen Platz nehmen, wenn sie sich zur Urteilsfindung zurückziehen.
In Paris teilen sich vier Richter ein Büro, in dem nur zwei Schreibtische stehen, in Senlis gab es sechs Monate lang keinen Gerichtsschreiber, in Toulouse dauert die schriftliche Ausfertigung eines Urteils manchmal 9 Monate. Im Gericht in Dunkerque ist es verboten, Nägel in die Wände zu schlagen, weil die voller Asbest sind, in Tarascon reichte das Geld zum Ausmalen eines Büros nur für zwei von vier Wänden. Wer am Gericht in Rennes einen neuen Bleistift will, muss den alten abgeben – und wer von den Gerichten Geld zu erwarten hat, kann warten: in Saint Quentin schuldet man den Gerichtsmedizinern seit einem Jahr noch 40 000 Euros, dem Verband der Notärzte gar 80 000 – schlimmer noch: Geschworene, oft mit sehr geringem Einkommen, warten auf die Entschädigung für ihren Verdienstausfall teilweise länger als drei Monate .
Auf dem Land kein Arzt mehr
Man hat es seit Jahren kommen sehen, getan hat man nichts. Inzwischen werden die Meldungen immer alarmierender: ganze Landstriche in Frankreich glichen mittlerweile einer Wüste, was die ärztliche Versorgung angeht, heisst es. Sowohl hinsichtlich praktischer Ärzte, ganz besonders aber was Fachärzte angeht – 6 Monate Wartezeit für einen Termin beim Augenarzt sind auf dem flachen Land keine Seltenheit. Die Region Midi-Pyrenées rund um Toulouse hat innerhalb der letzten zwei Jahre 25 Prozent ihrer praktischen Ärzte verloren. Die meisten niedergelassenen Ärzte, die in den nächsten Jahren in Rente gehen - und das sind viele, der Babyboom lässt grüssen - wissen heute schon, dass sie für ihre Praxen keinen Nachfolger finden werden. Frankreichs Medizinstudenten optieren am Ende ihrer Ausbildung zu fast 90 Prozent für ein Angestelltenverhältnis in Krankenhäusern und Kliniken. Wenn nichts geschehe, so eine ehemalige Gesundheitsministerin, die Präsident Sarkozy jüngst eine Enquete vorgelegt hat, werden in fünf bis acht Jahren nicht nur Kleinstädte , sondern ganze Kantone ohne Ärzte dastehen. In den 80-er Jahren noch hätten die Ärzte nach Patienten gesucht, inzwischen suchten immer mehr Patienten nach Ärzten.
Bürgermeister kleinerer Gemeinden in der Bretagne, in der Gegend von Le Mans oder in Nordfrankreich werden inzwischen selbst aktiv, um die medizinische Versorgung ihrer Bürger zu sichern. Dabei begeben sie sich sogar auf die Suche im Ausland, manchmal mit Hilfe von geschäftstüchtigen Agenturen, die sich darauf spezialisiert haben, vor allem rumänische Ärzte nach Frankreich zu vermitteln.
Misere in öffentlichen Krankenhäusern
In den letzten Jahren hat man aber ausserdem in der französischen Provinz auch noch reihenweise kleinere Krankenhäuser, oft mit Entbindungsstationen, geschlossen. 50, 60 Kilometer bis zum nächsten Spital, das ist für viele Franzosen heute der Alltag. Immer mehr Babys kommen im Auto zur Welt. Und die Krankenhäuser, die weiter bestehen, rutschen fast monatlich tiefer in die Krise. Weinende Krankenschwestern, wütende, gewalttätige Patienten gehören zum Alltag, die Notaufnahmen gleichen in manchen Nächten Auffanglagern. Im Pariser Tenon-Krankenhaus zum Beispiel hat angesichts der Zustände ein Viertel der Beschäftigten aus Verzweiflung sieben Wochen lang gestreikt, die Arbeitsmediziner attestierten dem Personal kollektive Erschöpfung.
Die Tagesklinik für Krebspatienten musste vorübergehend geschlossen werden, weil sich sämtliche Krankenschwestern krank gemeldet hatten, an einem anderen Tag wurden 20 Dialysepatienten auf andere Krankenhäuser verteilt, weil auch in dieser Abteilung keine einzige Krankenschwester mehr zur Verfügung stand.
Arbeitsamt - oh weh
Reform hat man das stolz genannt! Reform im Dienste der Betroffenen, hiess es , als die neue Regierung vor drei Jahren die Verwaltungen der Arbeitslosenkasse und des Arbeitsamtes zusammengelegt hat. Alles sollte effizienter werden, die persönliche Betreuung der Arbeitssuchenden besser funktionieren – das Gegenteil ist der Fall, die Warteschleifen am Telefon sind endlos, der Arbeitslose, der keinen Internetanschluss hat, ist ein Niemand. Das Personal der neuen Arbeitslosenbehörde ,„ Pole Emploi“, streikt regelmässig alle zwei, bis drei Wochen, weil viele nicht mehr ertragen können , die Arbeitssuchenden wie Vieh behandeln zu müssen. Sogar die Selbstmordrate unter den Mitarbeitern von „ Pôle Emploi“ ist angestiegen.
Misere der Schulen
Und dann wären noch die Schulen, die viel Beklagten, besonders das einheitliche „Collège“, das seit langem im Zentrum aller Kritik steht, jährlich 150 000 Jugendliche ohne Abschluss und Ausbildung in den Dschungel der Gesellschaft entlässt. Und auch die, die weiterkommen, haben offensichtlich nicht mehr das Minimum an Kenntnissen. Wer in Frankreich Abitur macht, hat im letzten Jahr Philosophieunterricht. Mittlerweile klagen die Philosophielehrer, sie könnten im Grunde keinen Unterricht mehr machen, weil immer mehr Schüler nicht mehr über das nötige Vokabular verfügten!
Auch an den Schulen hat man es, wie bei den Arbeitsämtern, doch tatsächlich gewagt, Reform zu nennen, was ein schlichter Skandal ist. Die Regierung hat im September erstmals junge Lehrer, insgesamt immerhin 16 000, frisch von der Uni, ohne jede pädagogische Ausbildung und oft auch ohne einen, im Prinzip vorgesehenen Mentor auf die Schüler losgelassen. Drei Monate später sind diese Neuankömmlinge jetzt massenweise krank geschrieben, manche in Depressionen verfallen, andere haben den Lehrerberuf bereits wieder hingeschmissen. Das Bildungsministerium erklärt nur zynisch: es handle sich dabei höchstens um 1 Prozent der Neulehrer, das sei zu verkraften, manche hätten wohl den Beruf verfehlt. Als hätten alle anderen, die noch durchhalten, die Fähigkeit, Wissen zu vermitteln, mit der Muttermilch geschluckt.
Dieses Bildungsministerium hat es auch fertig gebracht, den Lehrplan für die drittletzte Klasse im Gymnasium landesweit grundlegend zu ändern , gleichzeitig aber nicht in der Lage zu sein, zehntausenden Schülern die entsprechenden Lehrbücher zu liefern. Die ersten drei Monate des Schuljahrs musste sich diese Klassenstufe in ganz Frankreich anderweitig behelfen.
Geballte Hilflosigkeit
Und schliesslich, wie schon eingangs bemerkt, war dieser Tage Winter in Frankreich, und der hat die Anfälligkeit und die Unzulänglichkeiten der öffentlichen Dienstleistungen des Landes in ganz besonders krudem Licht gezeigt. 10 Zentimeter Schnee im Grossraum Paris reichten aus, damit Tausende die Nacht in ihren Autos oder Notaufnahmelagern verbringen mussten. Der Innenminister machte sich zum Gespött des Landes, als er zu einer Stunde, als Hunderttausende sich schon über nicht gestreute Strassen quälten, behauptete, es herrsche kein allgemeines Chaos rund um Paris. Und als wäre dies noch nicht genug der Peinlichkeit gewesen, legte der Premierminister persönlich tags darauf noch nach. Er behauptete, gegen jedes bessere Wissen und ausgerechnet auch noch aus dem fernen und kalten Moskau, die staatlichen Stellen hätten nicht genügend Vorsorge treffen können, weil das französische Wetteramt sie unzureichend informiert habe. Dies war schlicht eine unverschämte, hilflose Lüge. Die Schneewarnung für den Grossraum Paris hatte es schon seit 24 Stunden gegeben, als die ersten Flocken fielen. Was der Premierminister nicht sagte: auch die Strassendienste haben Personal abgebaut und für die Grossregion „Ile de France“ rund um Paris mit ihren 12 Millionen Einwohnern gibt es …. 80 Räum- und Streufahrzeuge!