In Portugal läuft der Countdown zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution vom 25. April 1974, mit der ein faschistisches Regime fiel. Feiert das Land das Jubiläum wohl mit einer Regierung, die von der xenophoben Partei Chega abhängig ist? Ihr winken starke Zugewinne bei der vorgezogenen Parlamentswahl am 10. März – nicht zuletzt dank des Verdrusses über Filz und Vetternwirtschaft der etablierten Parteien.
«Ich heisse Rui Cruz. Ich bin ein Mann, ich bin Familienvater, ich bin Grossvater, ich bin Faschist. Ich bin 65 Jahre alt und ein Portugiese, der nicht resigniert vor dem Zustand, in dem Portugal bezüglich des Mangels an Ethik angelangt ist.» Fast 50 Jahre nach der «Nelkenrevolution» vom 25. April 1974, bei der aufständisches Militär eine 48-jährige faschistische Diktatur stürzte, bekennt sich jemand als Faschist? Und das vor laufenden TV-Kameras? Genau das geschah Mitte Januar beim jüngsten Parteitag der rechtsextrem-xenophoben Partei Chega.
Ist der Rechtspopulismus jetzt sexy?
Der Redner war ein wenig bekanntes Mitglied der erst 2019 gegründeten Partei. Hat er sich verplappert? Als klar war, welche Wellen er geschlagen hatte, nahm ihn Parteichef André Ventura in Schutz. Es sei Ironie gewesen, versicherte dieser, obwohl der Redner im kritischen Moment keine Miene verzog, und warf den Medien boshafte Auslegungen vor. Über die Medien kann sich Ventura aber nicht wirklich beschweren, denn sie lassen ihn fast täglich zu Wort kommen. Ist der Rechtspopulismus plötzlich sexy?
Chega hofft auf kräftige Zugewinne bei der vorgezogenen Parlamentswahl am 10. März, bei der fast alles offen ist. Nicht einmal ein Sieger zeichnet sich klar ab. Als mögliche Gewinner erscheinen der Partido Socialista (PS), der seit 2015 regiert und in den letzten Umfragen die Nase vorn hatte, seit 2022 sogar mit einer absoluten Mehrheit der 230 Sitze im Parlament, und die «Aliança Democrática», eine Listenverbindung der etablierten Parteien des bürgerlichen und rechten Lagers, angeführt vom Partido Social Democrata (PSD), ohne Chega. Als die ganz grosse Unbekannte erscheint aber auch, wie Chega abschneidet – oder besser: wie sehr Chega wächst. Im Jahr 2019 hatte diese Partei zunächst einen einzigen Sitz im Parlament errungen. Seit 2022 hat ihre Fraktion 12 Mitglieder, und diese Zahl könnte sich nun verdreifachen. Und die Partei will nicht Mehrheitsbeschaffer für eine bürgerliche Minderheitsregierung sein. Nein, sie will an die Macht – so sehr der PSD beteuert, ohne Rechtspopulisten auskommen zu wollen.
Noch bis 2019 zählte Portugal zu den wenigen Ländern der EU, in denen keine Rechtspopulisten im Parlament sassen. Nicht zuletzt als Folge der langen Diktatur – geprägt von António Oliveira Salazar – sei das Land gegen solche Phänomene immun, war immer wieder zu hören. Chega («Es reicht») ist dabei nicht die erste xenophobe Partei, die in Portugal auf den Plan tritt. Und offenbar hat diese Partei aus Misserfolgen anderer rechtsextremer Gruppierungen gelernt.
Der Rassismus im Huckepack
Zu Beginn dieses Jahrhunderts gab es etwa den «Partido Nacional Renovador», der den Immigranten im Land auf Plakaten «gute Reise» wünschte – Heimreise, versteht sich. Aber diese Partei konnte nie einen Wahlerfolg feiern. Auch Venturas Chega ist klar xenophob. Der Parteichef klassifizierte Bewohner eines Afro-Viertels in einem Vorort von Lissabon einmal etwa als «Banditen». Als eine schwarze, in Guinea-Bissau geborene Parlamentarierin für die Rückgabe afrikanischer Kunstwerke an die Herkunftsländer plädierte, forderte Ventura die Rückgabe der Abgeordneten an das Land, in dem sie zur Welt gekommen war. Er schürt Hass auf Roma-Gemeinden und warnt nun vor islamistischen Gefahren.
In Venturas Diskurs nimmt das aber nicht den ersten Rang ein. Portugal ist gewiss nicht frei von Rassismus, aber der Fremdenhass sichert – anders als in manchen anderen Ländern – keine Wahlerfolge. Ventura gibt sich vor allem als Saubermann. Eine «Säuberung» fordert er auf grossen Plakaten mit rot durchkreuzten Gesichtern von bekannten Figuren aus Wirtschaft und Politik. Er wettert gegen Vetternwirtschaft und Korruption – und das kommt an. 50 Jahre nach dem demokratischen Neubeginn vergeht kaum ein Tag, an dem die Medien nicht irgendeine polizeiliche Durchsuchung oder neue Affäre um ein Mitglied der jetzigen oder einer früheren Regierung oder um irgendeine Gemeinde im Land aufgreifen.
Immer mehr Ausländer mit immer fremderer Herkunft
Hinzu kommt aber auch, dass die Zahl der Ausländer im Land stark ansteigt. Ihr Anteil an der Bevölkerung – inklusive Migranten mit noch anhängigen Verfahren – dürfte sich der Marke von 10 Prozent nähern. Und nicht nur ihre Zahl ist gestiegen, sie kommen zunehmend auch aus anderen Ländern. Nach wie vor stellen die Brasilianer die mit Abstand grösste Gruppe von Ausländern. Sie sprechen ebenso Portugiesisch wie der grösste Teil der Zuwanderer aus ehemaligen afrikanischen Kolonien, die schon wegen ihrer Hautfarbe auffallen. In den 1990er Jahren begann der Zustrom von Leuten aus Rumänien, der Ukraine und Russland, die meist recht schnell die Landessprache lernten.
Unübersehbar in manchen Stadtteilen von Lissabon sind neuerdings die Männer mit Turban und die Frauen mit orientalischen Gewändern. Auf den ersten und zweiten Blick ist nicht klar, woher sie jeweils kommen – aus Indien oder Pakistan, Nepal oder Bangladesch. Nicht wenige von ihnen betreiben kleine Krämerläden, Restaurants oder Elektronikgeschäfte, die etwa auch Mobiltelefone reparieren. Aber sie sind auch in ländlichen Gegenden anzutreffen, etwa im südportugiesischen Landkreis Odemira, wo sie in Gewächshäusern arbeiten und vielfach in überfüllten Quartieren hausen. Weil sie untereinander ihre eigenen, für die Einheimischen rätselhafte Sprachen sprechen, sind sie den Portugiesen noch fremder als die Afrikaner.
Die Panikmache trägt Früchte
«Wir erleben doch eine Invasion von Taliban», hört der Schreibende in seinem Quartier von einem gut 40-jährigen Mann, der erklärt, warum er Chega wählen will. Ob es sich bei den Migranten um Buddhisten, Muslime oder Hindus handelt, scheint ihn nicht zu interessieren. Er sagt Überfälle und Vergewaltigungen voraus. All die Delikte, die Afrikaner nicht in dem oft behaupteten Ausmass begangen haben, lastet er vorsorglich den neuen Zuwanderern an. In seiner Angstmache vor der Überfremdung übersieht er, dass mehr als eine Viertelmillion Portugiesen in der Schweiz leben und dass seine Landsleute im winzigen Luxemburg annähernd ein Fünftel der Bevölkerung stellen. In Portugal kann zudem von «Sozialtourismus» keine Rede sein, da ausländische Arbeitskräfte ein Vielfaches von dem, was sie an Sozialleistungen erhalten, in Form von Sozialabgaben abführen. Ganz nebenbei beklagt der Nachbar, dass sich seit Jahrzehnten immer dieselben Parteien an der Regierung abwechseln.
Bei seiner Werbung in Portugal lässt sich die schwedische Möbelhauskette Ikea von einer Polit-Affäre inspirieren. Ihr Regal, so verkündet das Plakat, ist gut für die Aufbewahrung von Büchern oder von 75’800 Euro. Warum dieser Betrag? Im Rahmen einer polizeilichen Durchsuchung im Amt des sozialistischen Ministerpräsidenten António Costa fanden die Ermittler am 7. November letzten Jahres im Büro von dessen Kabinettschef genau diese Summe, in Büchern versteckt. Costa trat damals zurück. Seine Landsleute schmunzeln über diese Werbung schmunzeln. Angesichts der Vielzahl von Affären ist ihnen aber das Lachen vergangen – und davon profitieren die Rechtspopulisten.
Im Supermarkt sucht der Schreibende das Gespräch mit einem freundlichen Polizisten, der dort ausserhalb der regulären Arbeitszeit in Uniform einen extra bezahlten Dienst als Aufpasser verrichtet. In Portugal melden sich Angehörige verschiedener Polizeikräfte mit medienwirksamen Protesten zu Wort. Sie fühlen sich schlecht bezahlt und klagen darüber, dass nur das Personal der Kriminalpolizei einen neuen Zuschlag bekomme, nicht aber die gemeinen Polizistinnen und Polizisten. Als das Gespräch auf die Wahl und auf Chega kommt, meint der Polizist: «Schlimmer kann es im Land ja nicht werden.» Ob er selbst wohl Chega wählen will? Immerhin mehren sich die Indizien dafür, dass diese Partei in den Reihen der Polizeikräfte an Sympathie gewinnt.
Ein Land im Schnellkochtopf-Modus
Während die Wirtschaft wächst, ist das Staatsdefizit unter Kontrolle. Aber der Druck im Land steigt, fast wie in einem Schnellkochtopf. Nicht nur die Polizisten protestieren, sondern etwa auch Lehrerinnen und Lehrer. Sie fordern die nachträgliche Anrechnung von Dienstjahren in der Zeit der Finanzmarktkrise, als ein Beförderungsstopp galt. Nach wie vor boomen derweil die Kaufpreise und Mieten für Immobilien so sehr, dass Wohnen zum Luxus geworden ist – teils wegen Käufen durch betuchte Ausländer, teils wegen des Andrangs von Touristen, der dem Wirtschaftswachstum eine toxische Komponente gibt.
Für Portugiesinnen und Portugiesen wird das Leben im eigenen Land zunehmend unerschwinglich. Zu Jahresbeginn stieg der Mindestlohn von vorher 760 auf jetzt gerade 820 Euro – ein mickriger Wert, verglichen mit dem spanischen Mindestlohn von neu 1’134 Euro, und das 38 Jahre nach dem Beitritt beider Länder zur heutigen EU im Jahr 1986.
Spitzenkandidaten mit Schwachstellen
Als Nachfolger von Ministerpräsident António Costa als Generalsekretär und Spitzenkandidat des Partido Socialista will der 46-jährige Pedro Nuno Santos, der zum linken Parteiflügel gehört, den Mindestlohn bis 2028 auf mindestens 1’000 Euro erhöhen – was absolut nicht ehrgeizig wirkt. Santos gehörte der Regierung bis vor einem Jahr als Minister für Infrastruktur und Wohnungswesen an, hat vor allem im Kampf gegen die Wohnungsnot aber wenig bewirkt. Ihm unterstand zudem die Fluggesellschaft TAP, und da stolperte er wiederholt über die eigenen Steine. Santos gilt jedoch als charismatisch.
Mit Charisma kann sein wichtigster Rivale bei der Wahl, der 50-jährige Spitzenkandidat der neuen bürgerlichen Allianz, Luís Montenegro, nicht aufwarten. Er macht eher grimmige Gesichter, und hatte er bisher eher Soundbytes produziert, so bemüht er sich jetzt darum, das Stimmvolk mit Ideen zu überzeugen. Aber das fällt ihm schwer, hatte sein PSD Partei doch in den bleiernen Jahren der Finanzmarktkrise der Jahre 2011 bis 2014 die Regierung geführt, dabei die öffentlichen Finanzen über alles gestellt und wenig soziale Sensibilität gezeigt.
Obendrein ist Montenegro nun wegen einer privaten Angelegenheit ins Zwielicht gerückt. Im Badeort Espinho, wenige Kilometer südlich von Porto, liess er einen Altbau durch eine fast luxuriöse neue Residenz ersetzen. Im Raum steht die Frage, ob dieses Projekt regelwidrig als Altbausanierung klassifiziert wurde und Montenegro rund 100’000 Euro weniger an Mehrwertsteuer zahlte, als eigentlich fällig gewesen wäre.
Die Rechtspopulisten freuen sich über Überläufer
Chega-Gründer Ventura war selbst einst Mitglied des PSD, das war nach 1974 die wichtigste Partei derer, die weder der Diktatur nachtrauerten noch ganz links standen. Noch heute ist dies ein Sammelbecken von Leuten mit konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Sympathien. Nicht nur ehemalige Mitglieder des PSD, sondern unter anderem auch aus dem Centro Democrático Social (CDS) – einst mit Hilfe der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung gegründet. Und da stellt sich die Frage, was sie zu Chega treibt. Ist es wirklich nur der Frust über eine fehlende Trennung zwischen öffentlichem und privatem Interesse? Oder sind unter denen, die das Lager wechseln, verkappte Rassisten oder gar Nostalgiker, die sich nach den klaren Verhältnissen wie in der Zeit der Diktatur sehnen? Wie vielen Parteifreunden hat der Chega-Mann, der sich angeblich nur ironisierend als Faschist bekannte, aus der Seele gesprochen?