Gewählt wird eine Verfassungsversammlung von 217 Personen, die nur ein Jahr im Amt bleiben soll, bis zur Verabschiedung durch Plebiszit der neuen demokratischen Verfassung, die sie zu entwerfen hat. Diese Verfassungsversammlung wird auch die neue Regierung ernennen, die das Land im kommenden Jahr zu verwalten hat. Darüber, ob sie auch Gesetze wird verabschieden können, wird sie selbst, wenn sie einmal gewählt st, entscheiden. Die Vorwahlperiode hat gezeigt, dass es für diese Wahlen zwei Pole gibt, zwischen denen das Kraftfeld der tunesischen Politik sich bewegt. Es sind dies der islamische und der laizistische Meinungspol.
Zwei Meinungspole, vielfältig unterteilt
Beide Meinungszentren sind jedoch nicht einheitlich sondern in sich gespalten. Das auf der laizistischen Seite kann man unterteilen in ein breites Spektrum vieler Parteien: von jenen der wohlhabenden und konservativen Träger und Profiteure des abgesetzten Ben Ali Regimes auf dem rechten Flügel, über zahlreiche Parteien eines Zentrums von liberalen Demokraten zu ebenfalls vielen auf dem linken Flügel: Sozialdemokraten, Sozialisten, Gewerkschafter, verschiedene kommunistische, maoistische und anarchisierende Gruppen etc.
Doch dies ist nur der eine Pol. Der andere ist durch alle jene gegeben, für die - auch im politischen Raum - der Islam eine entscheidende Referenz bildet. Grob unterteilt in an-Nahda (Renaissance) und in das vielfältige und schwer übersehbare Spektrum zahlreicher radikaleren Islamisten Gruppierungen, die man gesamthaft unter den Begriff "Salafisten" zusammenfasst.
Werden die einfachen Leute auch stimmen?
Zahlenmässig sind wahrscheinlich die Leute, für die der Islam überragende Bedeutung besitzt, die grosse Mehrheit. Doch ein sehr bedeutender Teil dieser Mehrheit sind einfache Leute. Wieviele von ihnen stimmen gehen werden, ist ungewiss. Es gibt Viele, die so enttäuscht und verbittert darüber sind, dass bis heute die tunesische Revolution, für die sie gestritten haben, keinerlei wirtschaftliche Früchte gebracht hat, die ihr überaus hartes Leben erleichtert hätten - eher im Gegenteil... dass nicht gewiss ist, ob und wieviele von ihnen die Mühe auf sich nehmen werden, unter den vorliegenden 1300 Wahllisten, mit unendlich vielen Kandidaten, die sie weder kennen noch klar situieren können, eine auszuwählen. "Was die Revolution nicht gebracht hat, werden diese Wahlen schon gar nicht bringen, die doch wieder nur den Politikern zur Macht verhelfen", dürfte sich mancher von ihnen sagen.
Das Wahlpublikum am islamischen Meinungspol
Doch genug werden stimmen gehen, so wird erwartet, um diesem Pol, dem islamischen, möglicherweise ein Übergewicht in der Versammlung oder mindestens die relative Mehrheit der grössten Einzelpartei zu verschaffen. An-Nahda (Renaissance) des von Ben Ali verfolgten Theologen und Politikers, Rachid Ghannouchi, der nach der Revolution aus dem Exil nach hause zurückgekehrt ist, gilt als die best organisierte und aussichtsreichste aller Parteien.
Ghannouchi und seine Mitstreiter sind sehr bemüht, sich als demokratische und islamische Kraft darzustellen. Sie berufen sich ausdrücklich auf das Vorbild und Beispiel der türkischen Regierungspartei unter Erdogan, die seit 2002 die Kombination Islam und Demokratie erfolgreich vorlebt.
Gewalt aus Glaubensgründen
Die Vorwahlperiode hat eine Aufsehen erregende Episode hervorgebracht, die an-Nahda veranlasst hat, nicht nur in der Theorie ihres Wahlprogramms sondern auch in ihrer politischen Praxis ihre Demokratiefähigkeit und - Willigkeit unter Beweis zu stellen. Am Freitag, dem 7. Oktober versuchten mehrere Hundert Islamisten in das private Fernsehen, Nessma TV, einzudringen. Die Polizei vertrieb sie mit Tränengas. Sie soll gegen hundert Personen vorübergehend festgenommen haben. Doch eine Woche später, am 14. Oktober, haben bewaffnete Fanatiker und Aktivisten der "salafistischen" islamistischen Radikalen nach dem Freitagsgebet das Wohnhaus des Besitzers der Fernsehstation, Nabil Karoui, in Tunis erstürmt und teilweise zerstört. Die Familie Karoui konnte gerettet werden. Die Haushälterin des Fernsehbesitzers wurde verletzt. Die Polizei griff mit Tränengas ein und nahm fünf Verhaftungen vor.
Empörung über die Abbildung Gottes
Der Grund beider Angriffe war, dass die Fernsehstation den Film "Persepolis" von Marjane Satrapi (der auch in der Schweiz gezeigt worden war) vorführte. Dort findet man Gott Vater als einen alten Mann in einer Wolke gezeichnet. Nichts Anstössiges für Christen. Jedoch für Muslime empörend. "Er" kann nicht dargestellt werden. In den Freitagspredigten dürfte dies von den "salafistischen" Predigern hochgespielt worden sein. Salafistisch, in diesem Sinne gebraucht, bedeutet, Muslime, die sich so genau wie nur möglich an den Lebenswandel des Propheten als Vorbild halten und nach ihm ausrichten wollen. Es ist die in Saudi Arabien vorherrschende Religionsrichtung.
Politisch gesehen bestehen "die Salafisten" in Tuneisen aus verschiedenen Gruppen von Anhängern mehrerer, manchmal rivalisierender, Prediger und Gottesgelehrten dieser Richtung. Einige von ihnen sind durch das Fernsehen als Fernsehprediger berühmt geworden. In ganz Tunesien soll es gegen 200 solcher Prediger geben, und die Zahl ihrer politisch aktiven Anhänger soll 7000 nicht übersteigen - glauben die politischen Beobachter.
Eine der salafistischen Parteien, "Hizb ut-Tahrir", die auch aus der internationalen Islamisten Szene bekannt ist, versuchte sich als Partei anzumelden. Doch sie wurde nicht zugelassen, weil sie als allzu stark religiös orientiert eingestuft wurde. "Religiöse Parteien" sind in Tunesien verboten. Doch es gibt die Möglichkeit, als Unabhängiger zu kandidieren, und etwa die Hälfte der 1300 konkurrierenden Listen sind Listen von Parteilosen, viele von ihnen islamistischer Färbung. Da alle Listen staatliche Gelder erhalten, um ihre Propaganda zu finanzieren, bestand ein zusätzlicher Anreiz, zu kandidieren. Allerdings müssen Listen, die weniger als drei Prozent der Stimmen auf sich vereinen, die Hälfte dieser Gelder nach den Wahlen dem Staat zurückerstatten. - Falls es diesem wirklich gelingt, die Gelder zurückzuerhalten.
An-Nahda gegen jede Gewalt
"An-Nahda" hat sofort und energisch gegen den Angriff auf das Haus Karouis Stellung genommen. Ihre Sprecher unterstrichen, dass ihre Partei gegen jede Gewaltanwendung sei. Sie äusserten sich bei dieser Gelegenheit nicht über die Frage der Gottesabbildung. Sie verteidigten diese nicht, aber griffen sie auch nicht an. Ohne Zweifel jedoch findet sie nicht ihre Billigung. In vielen Zeitungen, auch in solchen nicht ausgesprochen islamischer Ausrichtung, wurde das Nessma Fernsehen kritisiert, weil es in der ohnehin überhitzten Vorwahlperiode die Muslime herausgefordert habe.
Der Fernsehmagnat, Nabil Karoui, hat sich seinerseits in einem Interview mit der Presseagentur AP bei der tunesischen Bevölkerung dafür entschuldigt, dass er die religiösen Gefühle der Muslime verletzt habe.
In der Vorwahlperiode war politische Propaganda verboten. Umso mehr muss die Aktion der Salafisten als Propagandaschlag zu ihren Gunsten gewirkt haben. Interessanter Weise stufen die Beobachter die Wirkung dieser Propaganda nicht nur als nützlich für die salafistischen Wahlkandidaten ein, die sich durch sie bekannt machen konnten, sondern auch als schädlich für an-Nahda.
Mässigung wenig rentabel ?
Sie sagen: einerseits läuft an-Nahda Gefahr, dadurch Anhänger seines radikaleren Flügels an die Salafisten zu verlieren, aber andrerseits werden die laizistischen Formationen sich nicht überzeugen lassen, dass die Distanzierung Ghannouchis von den Gewaltaktionen der Islamisten ehrlich sei. Im Gegenteil, sagen sie, die Gewalt der Salafisten wird in den Augen der Laizisten auch auf an-Nahda abfärben. Sie zitieren Meinungen "von der Strasse", nach denen die Kritiker der islamischen Ausrichtung sagen: "Ghannouchi tut nur gemässigt, um Stimmen zu fangen.
In Wirklichkeit will er das gleiche erreichen, was den Salafisten vorschwebt !" Oder gar: "Unter der Hand ermutigt er diese zur Gewalt !" Das Argument der Laizisten, das ihren islamischen Widersachern Falschheit unterstellt, ist auch aus der Türkei bekannt. Es ist ein Argument, das man weder beweisen noch widerlegen kann. Das heisst eines, das von denen akzeptiert wird, die es glauben wollen, und umgekehrt.
Es gibt einen unüberwindlichen Graben
Facit aus diesem politischen Erfahrungen der Vorwahlperiode: An-Nahda steht unter doppeltem Konkurrenzdruck sowohl von der radikal-islamistischen Seite wie auch von der laizistischen. Der Graben zwischen den Laizisten und den pro-Islam Politikern ist so tief, dass er das Wahlgeschehen dominiert. Auch das gemässigte und demokratische Auftreten von Ghannouchi und seinen Anhängern kann ihn schwerlich überbrücken.
Die Wahlen werden zwischen den beiden Meinungspolen entscheiden. Das Geschick der Demokratie in Tunesien wird dann davon abhängen, ob die beiden Hauptgegner, wenn sie einmal in die Verfassungsversammlung einziehen, diesen Graben zu überbrücken vermögen. Sie sollten zusammen arbeiten, um eine Verfassung zu formulieren, die beiden Seiten und ihrem Hauptanliegen - laizistisch oder islamisch - soweit gerecht werden kann, dass eine konstruktive politische Zusammenarbeit beider Grundtendenzen zum Wohle des Ganzen endlich beginnt.