Alle Menschen lieben es, Geschichten erzählt zu bekommen, Geschichten allen möglichen Inhalts und in jeder denkbaren Form. Nichts haftet so verlässlich im Gedächtnis wie das Erzählte. Auf diese humane Konstante setzen Kulturen und Religionen genauso wie nationale Identifikationen und familiäre Bande. Geschichten stabilisieren menschliche Zusammenschlüsse von der Gewerkschaft bis zum Golfclub, sie statten Organisationen, Marken und Produkte mit unverwechselbaren Eigenschaften aus.
Kein Wunder, ist auch im Marketing das Storytelling (hier braucht es selbstverständlich einen englischen Namen) längst entdeckt worden. Werbung wirkt, wenn sie etwas zu erzählen hat. Public Relations versuchen bestimmte Angelegenheiten in eine den Interessen der Auftraggeber dienliche Geschichte zu packen. Es braucht wenig, damit eine Information als Story funktioniert. Oft genügen schon narrative Elementarteile, wie zum Beispiel: Unternehmen X bekennt sich zum Standort Schweiz, Organisation Y hilft kranken Kindern. Stärker aber ist der Effekt, wenn eine wirkliche Geschichte mit handelnden Personen und klassischen Dramen-Strukturen – Problem, Konflikt, Auflösung – geboten wird, auch wenn es in einem kurzen Werbespot ist.
Auftragskommunikation ist nur eines von vielen neuen Feldern, auf denen Geschichten gefragt sind. Seit jeher aber gehören sie zum Erziehen und Bilden, angefangen von den Gutenachtgeschichten für die Kleinen bis zu Romanen, Filmen und Computergames für Kinder und Jugendliche. Und selbstverständlich wird auch im Journalismus erzählt, seit es ihn gibt. Nicht umsonst nennt man den aufbereiteten Stoff im Branchenjargon eine „Geschichte“. Damit Informationen ankommen, müssen sie zum Leben der Adressaten einen Bezug haben – und das ist genau, was eine erzählte Geschichte ausmacht.
In jüngster Zeit wird der Terminus „Storytelling“ im Journalismus nun aber ausgerechnet für eine Darbietungsform in Anspruch genommen, die mit dem Kommunikationsvorgang des Erzählens kaum zu tun hat. Gemeint ist nämlich ein Datenjournalismus, der aufzähl- und strukturierbare Informationspartikel in grafischer und womöglich interaktiver Form aufbereitet: Tabellen, Karten, Diagramme – bei manchen Sachverhalten zweifellos nützliche Formen. Der Nutzer bekommt aber die darin enthaltene Geschichte nicht erzählt; er muss sie sich aktiv erschliessen.
Nichts dagegen! Das Verfahren macht bei vielen Dingen Sinn. Doch weshalb heisst es Storytelling, wenn es doch das Erzählen gerade meidet? Soll die Bezeichnung etwa andeuten, dass wir uns auf eine neue Kulturstufe hinbewegen, auf der das Sich-Erzählenlassen abgelöst wird durch selbsttätiges Aggregieren von Inhalt und Sinn? – Bevor man dies als Fortschritt des digitalen Zeitalters deklariert, wäre nochmals genauer zu überlegen, was beim Erzählen von Geschichten geschieht und ob eine Ersetzung solcher Vorgänge zu wünschen sei.