Der Zug vom kroatischen Zagreb ins serbische Belgrad tuckelt und rumpelt eher gemächlich dahin, für die etwa 400 Kilometer braucht er mehr als sechs Stunden. Zudem wird bei Vinkovci, der letzten größeren Stadt auf kroatischem Boden, die Lokomotive gewechselt. Kroatische Loks fahren nicht auf serbischem Territorium. Umgekehrt gilt dasselbe.
Serbokroatisch ist passé
Doch bedeutender als der Wechsel der Zugmaschine ist der Wechsel von einem Kulturkreis in den anderen. In Kroatien wird die serbokroatische Sprache in lateinischen Buchstaben, in Serbien dagegen in kyrillischen geschrieben. Denn kurz vor Belgrad liegt die Grenze zwischen katholischem und orthodoxem Kulturkreis. Doch noch in Titos Jugoslawien sprach man – durchaus verbindend – von der „serbokroatischen“ Sprache. Im Post-Tito-Jugoslawien aber soll die Sprache die neuen Trennungen stärken.
„Serbokroatisch“ ist passé. Der Begriff stammt ursprünglich von Jacob Grimm, der ihn erstmals 1824 im Vorwort der „Kleinen Serbischen Grammatik“ des serbischen Sprachreformers Vuk Stefanovic Karadzic verwendete.
Das von Jacob Grimm kreierte „Serbokroatisch“ hatte einen, wenn man will, völkerverbindenden Charakter. Heute benutzen Nationalisten aller Couleur die Sprache für ihre engstirnigen politischen Ziele: für das schöne Serbokroatische haben sie - je nach dem, in welchen neuen Ministaat sie wohnen - neue Bezeichnungen erfunden: Kroatisch, Serbisch, Bosniakisch, Montenegrinisch. Diese Zersplitterung ist wissenschaftlicher Unsinn, denn es handelt sich um ein und dieselbe Sprache, die sich in den einzelnen, neu geschaffenen Staaten nur geringfügig von der Dachsprache unterscheidet.
Zerstörungen in Belgrad
Doch Menschen lassen sich nur bis zu einem gewissen Grade manipulieren. Dafür ist die frühere jugoslawische, heute serbische Hauptstadt ein gutes Beispiel. Wer auf dem heute fast verlassenen und vor allem heruntergekommenen Bahnhof ankommt, möchte der Stadt eigentlich gleich wieder den Rücken kehren. Zum Verkehrschaos auf dem Vorplatz gesellt sich ein architektonisches Chaos. Der „Balkan“, wie man sich diesen vorstellt, hat den Reisenden empfangen.
Dazu muss man allerdings wissen, dass Belgrad im Verlaufe seiner vielen hundert Jahre langen Geschichte mindestens dreissig Mal zerstört wurde. Die letzten Wunden, die der Stadt geschlagen wurden, sind noch kaum verheilt. Es war Hitlers Luftwaffe, die im April 1941 tagelang Tonnen von Bomben warf. Tausende Häuser wurden zerstört, darunter die „Serbische Nationalbibliothek“. Hunderttausende alter Bücher und mittelalterlicher Manuskripte verbrannten. Und: 3000 bis 4000, vielleicht viel mehr Menschen starben im Bombenhagel der Deutschen.
Titos Jugoslawien baute vieles wieder auf – aber im wirklichen Sinne schön ist die Stadt nicht geworden.
Und dann kam, 1999, die NATO. Sie wollte Slobodan Milosevic für seine Politik im Kosovo bestrafen. Sie bombardierte das Land wochenlang. In Belgrad traf sie das alte Parteigebäude jenseits der Save und, im Zentrum der Stadt, die Gebäude des Verteidigungsministeriums und des Generalstabes. Eine der Ruinen wollen die Belgrader nicht wieder aufbauen – sie dient als Erinnerung an die NATO-Bomben. Viele Serben wünschen sich zwar einen Beitritt zur EU, aber den damit oft verbundenen Zugang zur NATO lehnen die meisten strikt ab.
Belgrad hat auch Charme
Trotz der vielen Zerstörungen: Belgrad hat Charme. Denn nur wenige hundert Meter weiter vom Bahnhof entfernt, auf der Hauptstrasse Terazije am historischen Hotel Moskva, bietet sich ein gänzlich anderes Bild, Hier gleicht die Stadt, besonders in der Fußgängerzone der Kneza Mihailova, der Strasse des Fürsten Mihailo, einem einzigen Strassencafé. Anders als in Zagreb wähnt man sich nicht umgeben von einer leeren historischen Kulisse, sondern von einem fast sorglos erscheinenden Leben. Belgrad zählt inzwischen Hunderte von Restaurants, Clubs und Nachtclubs, von denen viele bis in den frühen Morgen geöffnet sind.
Menschen aus Bosnien/Herzegowina, Slowenien, Kroatien kommen nach Belgrad, um sich in einer großstädtischen Atmosphäre ein paar Tage zu amüsieren. Und die Menschen kommen hierher, weil sie, anders als es die neuen Sprachschöpfer beabsichtigen, keinerlei Sprachschwierigkeiten haben. Das alte Jugoslawien scheint hier seine Wiederauferstehung zu feiern, denn, tröstlich zu sehen: Belgrad ist geblieben, was es immer war: eine, nicht nur im jugoslawischen Kontext gesehen, kosmopolitische, offene Stadt.
Ominöses serbisches Memorandum
Das zeigt auch die Gästeliste des Hotels Moskva - von 1906 bis 1908 im Sezessionsstil erbaut und vom serbischen König Petar Karadjordjevic persönlich eröffnet. Albert Einstein weilte hier, die Schachgrößen Anatoly Karpov und Gary Kasparov nächtigten im Moskva, dazu Carl Lewis, Robert de Niro, Kirk Douglas, Yasser Arafat, Indira Gandhi, Muammar al-Gaddafi, Richard Nixon, Orson Wells, Rebecca West, Jean Paul Sartre.
Freilich, auch der engstirnige serbische Nationalismus ist in Belgrad noch zu Hause. Geht man in die Fussgängerzone der Straße des Fürsten Mihailov, findet man bald links das 1922 errichtete prächtige Gebäude der „Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste“. Die Akademie, einst Prachtstück des serbischen Geisteslebens, kam in Verruf, als sie in den Jahren 1982 bis 1986 ein „Memorandum“ ausarbeitete, in dem sie eine „Diskriminierung“ der Serben im jugoslawischen Staatsverband ausmachte. Serben seien, mehr als andere Völker Jugoslawiens, auf mehrere Republiken verteilt; durch die Verfassungsreform von 1974 hätten darüber hinaus die zu Serbien gehörenden Provinzen Kosovo und Vojvodina so viele Rechte erhalten, dass von einer Oberhoheit Serbiens kaum noch die Rede sein könne. Serben seien zudem im Kosovo einem „Völkermord“ ausgesetzt.
Der Weg nach Srebrenica
In der sich aufheizenden nationalen Stimmung der Nach-Tito-Jahre war dieses Memorandum praktisch eine politische Kriegserklärung an den gesamtjugoslawischen Staat. Als Hauptautor gilt bis heute der Schriftsteller Dobrica Cosic, der etwa in seinem bekannten Roman „Zeit des Sterbens“ die Leiden der Serben im ersten Weltkrieg geschildert hat. Von Cosic stammt auch der verhängnisvolle Satz, wonach die Serben alle ihre Kriege gewonnen, den Frieden aber stets verloren hätten. Aus der Distanz betrachtet muss man feststellen, dass die Autoren des Memorandums der Serbischen Akademie mit zu den intellektuellen Brandstiftern des jugoslawischen Bürgerkrieges gehören.
Dieser Krieg führte schließlich auch – was die Autoren des Memorandums in keiner Weise gewollt hatten – zum Massaker von Srebrenica – dem schwersten Kriegsverbrechen in Europa nach dem 2. Weltkrieg. Im Juli 1995 wurden in der UN-Schutzzone Srebrenica in Bosnien/Herzegowina etwa 8000 bosnische Muslime - Jungen ab 12 Jahren und Männer bis 77 Jahren – getötet. Für das Massaker muß sich General Ratko Mladic verantworten, damals Befehlshaber der Armee der „Republika Srbska“, der serbischen Armee innerhalb Bosniens. Diese Armee wurde unterstützt von Polizeieinheiten und serbischen Freischärlern.
Milosevic-Zeit noch nicht überwunden
Heute, fast zwei Jahrzehnte später, strebt Serbien in die Europäische Union. Aber: viele alte Emotionen schlummern immer noch im serbischen Volk – das Wehklagen über den Verlust des Kosovo etwa und die Meinung, die Dobrica Cosic einst äußerte, wonach Serbien im Frieden stets benachteiligt worden sei. Das alte nationale Herzeleid wühlt bis heute die Seelen vieler Serben auf. Auch die Milosevic-Zeit ist noch nicht überwunden. Die Enttäuschung über den ausgebliebenen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung hat die alte Garde aus der Milosevic-Zeit wieder nach oben gespült.
Der heutige Präsident, Tomislav Nikolic, sowie Premier Ivica Dacic und sein Stellvertreter Aleksander Vucic stammen alle aus dem politischen Dunstkreis des – verstorbenen – Präsidenten Slobodan Milosevic beziehungsweise des in Den Haag unter der Anklage, im Bosnienkrieg Kriegsverbrechen begangen zu haben, einsitzenden Vojislav Seselj. Wie verträgt sich eine solche emotionale Gemengelage mit den Ideen der Europäischen Union?
Griechische Verhältnisse in Serbien?
Die europäische Union besteht darauf, dass Serbien sein Verhältnis zum Kosovo in Ordnung bringt und dass sich das Land für das Massaker in Srebrenica entschuldigt. Über den Kosovo haben EU, Serbien und der Kosovo eine Übereinkunft getroffen, die langsam eine Art Normalisierung auf den Weg bringen soll. Für Srebrenica hat sich Präsident Nikolic inzwischen entschuldigt, wobei er, soweit bekannt, das Wort Genozid allerdings vermieden hat.
Doch selbst wenn dieses schwierige Ziel erreicht werden sollte – es bleiben vor allem wirtschaftliche Hürden. Vladimir Ateljević vom serbischen Außenministerium zählt zwar die Verdienste auf, die Serbien, seiner Meinung nach, bereits erworben hat, um sich für einen EU-Beitritt zu qualifizieren. 3000 Migranten habe man abgewiesen, die illegal über Serbien in die EU ein reisen wollten, die Zahl der Bewerber sei durch diese abschreckenden Massnahmen von 2600 auf 250 gesunken. Die Wirtschaftskrise habe man ohne Anleihen bei der EU überwunden.
Schöne Worte, aber mit der wirtschaftlichen Realität haben sie nichts zu tun. Gerade haben der IWF und - unabhängig vom Währungsfonds - auch Serbiens Finanzrat eine Analyse der serbischen Wirtschaft vorgelegt. Das erschreckende Ergebnis: die Finanzen des EU-Kandidaten seien in einem desaströsen Zustand. Ohne einschneidendes Sparen und tiefgreifende Reformen sei eine Schuldenkrise wahrscheinlich, die Zahlungsunfähigkeit möglich. Florian Hassel, Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Belgrad, schreibt am 21.Juni: „Davon wäre der gesamte westliche Balkan betroffen – Serbien ist die mit Abstand größte Volkswirtschaft“; zudem sei das Land der „grösste Handelspartner der Region“, der Internationale Währungsfonds sage Serbien sogar „griechische Verhältnisse“ voraus.
Fördert die EU eine neue „Jugosphäre“?
Die Europäische Union steht vor einem Dilemma. Gerade hat sie, zum 1.Juli 2013, Kroatien aufgenommen – obwohl alle Probleme des neuen Mitglieds bekannt waren. Ende Mai nun, einen Monat vor dem schon fest beschlossenem Beitritt, veröffentlichte die Europäische Kommission einen Bericht, der Kroatien ein zurückgebliebenes Bildungssystem, schwache Innovationskraft, mangelnde Konkurrenzfähigkeit vieler Unternehmen, einen rigiden Arbeitsmarkt und eine Schattenwirtschaft von fast 40 Prozent der Wirtschaftsleistung bescheinigt (SZ vom 21.Juni, siehe auch den ersten Bericht dieser Serie über Kroatien). Die Wirtschaftskrise in Serbien, zusammen mit den Problemen in Kroatien, können die Region in eine tiefe wirtschaftliche Rezession stürzen.
Obwohl der EU alle kroatischen Missstände vorab bekannt waren, hat man das Land aufgenommen. Die Frage ist nun: mit welchen Argumenten will man Serbien demnächst einen Beitritt verweigern - wo selbst Montenegro seit 2010 ein Beitrittskandidat ist, von dem bekannt ist, dass es von einer durch und durch korrupten Politikerclique regiert wird? Die Europäische Union steht im alten Krisengebiet des Balkans vor einer Herkulesaufgabe. Die politischen Führer der Region haben bis jetzt wenig getan, ihre neuen Länder für einen Beitritt zu qualifizieren. Und die Völker verharren oft in ihren alten Nationalismen.
Immerhin: Kroatien und vielleicht in ein paar Jahren auch Serbien müssen sich an die Werte der EU gewöhnen, Nationalisten wird es vermutlich schwerer, ihren alten Träumen nachzuhängen. Und: überall wächst eine neue Generation heran, die womöglich von den alten Querelen nichts mehr hören will. Eine neue "Jugosphäre" hat man diese Entwicklung schon genannt. Hier liegt eine, wenn auch ferne Chance.
Nächste Folge: Bosnien/Herzegowina
Der erste Teil handelte von Kroatien