Der Speisewagen der ungarischen Staatsbahnen hat Geschichte. Gebaut wurde er nach 1945 für die hohen Führer der kommunistischen Welt. Der ungarische (stalinistische) Diktator Mátyás Rákosi, der Jugoslawe Broz Tito und auch Nikita Chruschtschow sollen in ihm gereist sein – das jedenfalls erzählt der ungarische Chef de Cuisine. Gechartert hat den Wagen samt einem Sitz- und einem Salonwagen die in Berlin ansässige “Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik.“ Unter dem Motto „Bezugspunkt EU“ hat die Gesellschaft eine zehntägige Reise in jenes Gebiet organisiert, das die EU neuerdings Westbalkan nennt: vom Start in Budapest nach Zagreb, Belgrad und Sarajewo, also nach Kroatien, Serbien und Bosnien/Herzegowina.
Nun fährt der Zug am Ufer des Plattensees entlang – historisch gesehen durch einen Teil der 1918 untergegangenen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Nach fast sieben Stunden erreicht man den Bahnhof in Zagreb, gleich am Hotel Esplanade. Diese Nobelherberge wurde 1925 als prunkvolle Unterkunft für Reisende des Orientexpress gebaut, der von Paris nach Istanbul fuhr.
Zweckoptimismus von offizieller Seite
Zagreb: die Innenstadt gleicht einem historischen Museum. Es scheint, als befinde man sich immer noch auf dem Gebiet der alten österreichisch-ungarischen Monarchie. Doch die Szenerie täuscht. Kroatien hat massive Probleme, mit und ohne EU. Die werden von offizieller Seite natürlich klein geredet – etwa von Professor Dejan Jovic, dem Berater von Präsident Ivo Josinovic. Mehr als zehn Jahre habe man auf den Beitritt warten müssen, klagt er, und er könne nicht verstehen, dass Länder wie Rumänien und Bulgarien vor Kroatien aufgenommen wurden. Ja, man habe finanzielle Probleme, aber der Tourismus, der im Sommer Hunderttausende an die Adriaküste schwemme, sei eine grosse Stütze des Budgets. Und natürlich sei man auch für den Beitritt Serbiens zur EU. Klar: Zwei schwache Mitglieder stützen einander im Staatenverbund der Mächtigen.
Die Realität im Lande sieht nicht so rosig aus, wie sie der redegewandte Professor, der seine Sache hervorragend verkauft, wahrhaben möchte. Der Tourismus wird Kroatien nicht retten. Zuviel Geld wurde in den letzten Jahren in den Konsum gesteckt, zu wenig in Investitionen. Im Weltbankranking rutschte Kroatien auf Platz 84 ab, hinter Rumänien, Bulgarien und auch Griechenland. Die Bürokratie gilt als schwerfällig, das Justizsystem als korrupt. Der im Jahre 1999 verstorbene Präsident Franjo Tudjman hat die Justiz mit seinen Anhängern durchsetzt. Auch vervielfachte Tudjman die Zahl der lokalen Verwaltungen in seinem kleinen Land – die neu geschaffenen Posten besetzte er mit loyalen Anhängern.
Genauso bedenklich stimmt die umfassende Wirtschaftskrise des Landes. Ende Mai, einen Monat vor dem schon fest beschlossenem Beitritt, veröffentlichte die Europäische Kommission einen Bericht, der Kroatien ein zurückgebliebenes Bildungssystem, schwache Innovationskraft, mangelnde Konkurrenzfähigkeit vieler Unternehmen, einen rigiden Arbeitsmarkt und eine Schattenwirtschaft von fast vierzig Prozent der Wirtschaftsleistung bescheinigt („Süddeutsche Zeitung“ vom 21.Juni).
An Korruption gewöhnt
Kroaten leiden nicht nur unter ihrer Justiz, sondern auch unter Korruption. In Zagreb wurde der langjährige Premier Ivo Sanader im November 2012 wegen Korruption zu zehn Jahren Haft verurteilt. Bei der Staatsanwaltschaft in Zagreb hat die Regierung speziell eine Abteilung für die Bekämpfung der Korruption eingerichtet. Dragan Novosel ist dort stellvertretender Generalstaatsanwalt und zuständig für die Bekämpfung der Korruption. Er erklärt, wie im kommunistischen Jugoslawien vieles „Veze i poznanstvo“ – durch gute Verbindungen und persönliche Bekanntschaften – zu regeln war. Er berichtet, wie durch den Bürgerkrieg und die Periode des Übergangs zu normalen Verhältnissen vieles aus dem Ruder gelaufen sei. Heute aber gelte „eine Nulltoleranz“ gegenüber Korruption. Die Europäische Union habe die Arbeit seiner Behörde genau beobachtet und für gut befunden. Aber, fügt er hinzu: „Hätte ich gewusst, was ich jetzt weiss, hätte ich das Amt nicht übernommen.“
Sicher darf Kroatien heute Erfolge im Kampf gegen die Korruption verzeichnen. Aber sind diese ausreichend? Selbst manche Kroaten zweifeln daran. Dass kroatische Politiker immer noch vielfach als korrupt gelten, hat sich sozusagen als Allgemeinwissen in vielen Köpfen festgesetzt. Und dieses Wissen gibt manchen Witz her – etwa jenen, den der Fremdenführer in der kroatischen Stadt Osijek anbietet. Seine Heimatstadt habe nicht nur eine Universität, parliert er, sondern auch eine Seifenfabrik. Deshalb seien die Bewohner hier besonders sauber. Aber, fügt er schmunzelnd hinzu: „Für Politiker gilt das leider nicht.“
Alle diese Probleme waren der EU in Brüssel bekannt, oder sie hätte sie kennen können. Doch die Kommission stellte sich taub. Man wollte Kroatien in der EU haben, koste es, was es wolle. Kenner der politischen Szene in Westeuropa sagen, dass es die konservativ-christlichen Parteien Westeuropas waren, die Kroatien unbedingt in der Europäischen Union sehen wollten.
Interessen der EU
Einen handfesten Vorteil verspricht sich die EU aber dennoch: Wenn Kroatien verpflichtet wird, seine über 1'700 Kilometer lange Küstenlinie (inklusive Inseln) zu überwachen, kommen vielleicht, so das Kalkül, weniger illegale Einwanderer in die Festung Europa. „Heimholung ins Reich“ haben politische Spötter die Inklusion Kroatiens genannt. Nun ist das Land in kürze Mitglied – mit allen seinen Schulden, seinen wirtschaftlichen Problemen und mit seiner nicht bewältigten Vergangenheit.
Und – irgendwie – ist die alte politische Spaltung auf dem Balkan wieder hergestellt. Das Osmanische Reich reichte einst bis nach Belgrad. Zemun, heute ein Stadtteil Belgrads, war Zollstation der habsburgischen Donaumonarchie zum Osmanischen Reich, zu dem Belgrad Jahrhunderte gehörte. Zwischen Belgrad und Zemun verlief die Grenze zwischen Katholizismus auf der einen sowie der serbischen (christlichen) Orthodoxie und dem Islam auf der anderen Seite. Ungarn und Kroatien sind in den westlichen Kulturkreis zurückgeholt worden. Serbien und Bosnien/Herzegowina dürfen allenfalls an die Tür zum Westen klopfen.
Unbewältigte Vergangenheit
Doch wie etwa in Ungarn und Serbien ist auch im neuen EU-Land Kroatien die Vergangenheit nicht bewältigt. Nachdem Kanzlerin Angela Merkel im Sommer 2011 in Zagreb geweilt und erstmals grünes Licht für den EU-Beitritt des Landes gegeben hatte, erklärte die damalige Premierministerin Jadranka Kosor ihre Sympathie mit den damals in Den Haag wegen Kriegsverbrechen an den Serben zu langen Haftstrafen verurteilten kroatischen Generälen Ante Gotovina und Mladen Markač. Es war Wahlkampf in Kroatien. Als beide Generäle im November 2012 in zweiter Instanz (in einem umstrittenen Urteil) freigesprochen wurden, zelebrierten Tausende in Zagreb die Ankunft der beiden Landsleute. In Serbien stiess diese Art Volksfest auf Empörung – weil zwei serbische Kriegsverbrecher, Radovan Karadzic und Ratko Mladic in Den Haag kaum mit einem Freispruch rechnen könnten, argumentiert man in Serbien.
Mitten in Zagreb, nicht weit von der katholischen Kathedrale und dem zentralen Ban Jelacic Platz entfernt, stand einst die Synagoge. Nachdem Hitler 1941 in Jugoslawien eingefallen war, gründete sich in Kroatien mit Unterstützung der katholischen Kirche der faschistische Staat der Ustacha (der übrigens auch Bosnien umfasste) unter dem „Führer“ Ante Pavelic. Der ließ die Synagoge abreissen und die Juden verfolgen. Damals lebten etwa 12'000 Juden in Kroatien; nach dem Krieg waren es nur noch etwa 3'000. Appelle, die Synagoge wieder aufzubauen oder eine Art Wiedergutmachung an die verbleibenden Juden zu zahlen, finden im heutigen Kroatien kein Gehör. Der Ustacha-Staat, argumentiert man, habe mit dem heutigen demokratischen Kroatien nichts zu tun. Auch die Zeit des Präsidenten Franjo Tudjman, eines ehemaligen Partisanengenerals unter Tito, der sich später, nachdem sich Kroatien aus Jugoslawien gelöst hatte, als bekennender Antisemit entpuppte, wird in Zagreb weitgehend ausgeblendet.
Und dann Jasenovac. Dort, südöstlich von Zagreb, verkehrstechnisch günstig an der Bahnlinie nach Belgrad gelegen, richtete der faschistische Ustachastaat ein KZ ein, in dem er Serben, Sinti und Roma sowie Juden ermordete. Gaskammern gab es keine, dafür wurden die Menschen mit Messern und Äxten ermordet. Auch wurde ein von einer deutschen Firma gelieferter sogenannter „Serbenschneider“ – eine Art Sichel mit langer gebogener Klinge – verwendet. Etwa 100'000 Menschen erlitten in dem „Schlachthaus“, wie manche Historiker Jasenovac nennen, einen bestialischen Tod.
Als Serbien einst in Jasenovac eine Gedenkstätte für seine ermordeten Landsleute einrichten wollte, scheiterte dies am Widerstand Kroatiens. Und für die Massaker entschuldigt hat sich weder das neue Kroatien noch die auch heute höchst einflussreiche katholische Kirche des Landes.
Neuer Nationalismus
Schliesslich Bleiburg – ein kleines Städtchen im österreichischen Bundesland Kärnten. Über Bleiburg flohen bei Kriegsende 1945 faschistische Ustachi und königstreue Tschetniks, deutsche und italienische Kriegsgefangene. Sie wollten sich nach Österreich retten, das von alliierten Truppen besetzt war. Verfolgt wurden sie von Titos Partisanenarmee. Zehntausende (genaue Zahlen liegen nicht vor) kamen um. Das war zweifellos ein Kriegsverbrechen. Titos Partisanen haben sich nie entschuldigt. Doch nationalistisch gesinnte Kroaten, die über Jasenovac kein Wort verlieren, pilgern oft nach Bleiburg, um der kroatischen Opfer zu gedenken.
Wie passt ein solches Totschweigen der eigenen Vergangenheit in ein Europa, das es sich zumindest zum Ziel gesetzt hat, die dunklen Seiten seiner Geschichte nicht zu vergessen? Und wie passt das Leugnen der Verbrechen von Jasenovac in den ethischen Code jener westeuropäischen christlichen Parteien, die Kroatien so sehr zurückwünschten in den westeuropäischen Schoss?
Nun, da Kroatien Mitglied der Union wird, hat das Land Verpflichtungen übernommen. Die EU betrachtet sich – zu Recht – auch als Wertegemeinschaft. Wird Kroatien der nächste wirtschaftliche Krisenfall in der Union? Wird Kroatien beginnen, seine jüngere Vergangenheit aufzuarbeiten? Die Beispiele Bulgarien und Rumänien zeigen, dass reine Mitgliedschaft in der Union weder ökonomische Krisen löst, noch grassierende Korruption entscheidend eindämmt. Der EU stehen schwierige Zeiten im alten Krisengebiet Balkan bevor. Neue Konflikte zu verhindern ist ihr oberstes Ziel. Dazu müssen das neue Mitglied Kroatien und ein Anwärter wie Serbien ihre Wirtschaftssysteme sanieren und den Nationalismus bekämpfen. Derzeit sind die Aussichten hierfür nicht rosig.
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