Wolfgang Thierse hat sich in der FAZ mit seiner pazifistischen Neigung kritisch auseinandergesetzt. Er bejaht die «Zeitenwende» der deutschen Politik, stimmt aber nicht ein in prinzipielle Absagen an Dialog, Annäherung und Entspannung.
Was am 24. Februar passiert ist, könne man nur vergleichen mit Hitlers Überfall auf Polen im September 1939. Putin zerstöre mit der Ukraine auch den europäischen Frieden. Das ist für Wolfgang Thierse, den Politiker der SPD und ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestags, nicht nur eine Katastrophe, die einen verzweifeln macht, sondern auch ein bitteres Fazit für seine lange gehegten eigenen Überzeugungen: «Einen Krieg (wenigstens) in Europa zu verhindern, das war das Ziel, das Friedensbewegung und europäische Politik geeint hat. Es ist misslungen!»
Friedensethik nicht prinzipiell erledigt
In Friedensdemonstrationen heute Parolen wie «Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin» oder «Frieden schaffen ohne Waffen» zu zeigen, ist für Thierse mindestens gedankenlos, wenn nicht zynisch. Friedensethische Ansätze des Erkennens von Konfliktursachen und der Suche nach gewaltfreien Lösungen seien nicht prinzipiell erledigt. Doch angesichts des Kriegs um die Ukraine seien die Koordinaten der Friedenspolitik verschoben. Die Friedensbewegung könne nur glaubwürdig bleiben, wenn sie sich der Tatsache stelle, dass es die Schwäche und Uneinigkeit des Westens sowie die Schutzlosigkeit der Ukraine gewesen seien, die Putin als Ermunterung zu seiner Aggression habe verstehen können. Putin habe gewusst, dass die Nato nicht eingreifen würde. «Das Ergebnis ist ein blutiger Krieg, der eben nicht durch eine Aggressivität der Nato provoziert worden war, sondern ideologisch begründeter geopolitischer Aggressivität Putins geschuldet ist.»
Eine Gefahr sei der Westen für Putin nur insofern, als «Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand von lebensgefährlicher Attraktivität sind für Putins autoritär-diktatorisches Regime in der Tradition des Zarentums und Stalins.» Diese «Gefahr» sei durch die Orangene Revolution und den Maidan sowie die unterdrückte Demokratiebewegung in Belarus für Russland näher gerückt. Dies, und nicht die Nato, sei der wahre Grund für Putins Losschlagen gewesen.
Wehrhaftigkeit und Soft Power
An die Gegner der neuen deutschen Wehrhaftigkeit gerichtet, schreibt Thierse: «Wie gerne würde auch ich, wie so viele, den schönen Appell gegen die ‘Hochrüstung’ unterschreiben, aber mir fehlen die Gewissheiten. Mehr denn je ist mir die Ambivalenz des Pazifismus bewusst geworden. Mehr denn je zweifle ich, ob die eigene Friedfertigkeit ausreicht gegen die Aggressivität eines anderen, der bereits zur Tat geschritten ist.»
Gegen alle flotten «Realisten» hält Thierse jedoch daran fest, die Entspannungspolitik der sechziger bis achtziger Jahre sei eine Erfolgsgeschichte gewesen und habe die Wende von 1989/90 mit vorbereitet. Man müsse sich jedoch vor Augen halten, dass diese Phase zwei Voraussetzungen hatte: einerseits die Stärke des Westens mit dem Abschreckungspotenzial der USA, andererseits die Verhandlungs- und Kooperationsbereitschaft der Sowjetunion. Nur auf dieser Basis sei ein Prozess des «Wandels durch Annäherung» möglich gewesen, der schliesslich zur KSZE mit der Helsinki-Schlussakte geführt hatte, die wiederum eine Stärkung der Dissidenten im Ostblock bewirkte.
Es seien nicht Panzer und Bomben, sondern «Soft Power» und ökonomische Stärke im Westen sowie Bürgerbewegungen im Osten gewesen, die den Zusammenbruch des Ostblocks bewirkten. Endlich habe Gorbatschow die Konsequenzen aus der Schwäche des Sowjetsystems gezogen und die Idee des «gemeinsamen Hauses Europa» entwickelt und so den friedlichen Übergang ermöglicht.
Selbstkritischer Pazifismus
Dieses Kapitel europäischer Geschichte habe Putin abrupt beendet. Was heisst das im Rückblick? «War es naiv, blauäugig, weltfremd auf das Konzept gemeinsamer Sicherheit zu setzen? War es gutgläubig, mit Russland im Gespräch zu bleiben? Sind die Versuche falsch gewesen, weil sie jetzt gescheitert sind? Nein, sie waren der Mühe wert um des Friedens willen. Es waren Putins Lügen und Täuschungen, sein verbrecherischer Krieg, die aus unseren berechtigten europäischen Hoffnungen böse Illusionen gemacht haben: dass Europa ein dauerhaft friedlicher Kontinent werden und sein könnte.»
Thierse zieht daraus die unabweisbare Lektion, dass Ahnungslosigkeit und Wehrlosigkeit gegenüber einer aggressiven Macht politisch verboten seien. Zu solcher Ahnungslosigkeit zählt er die antiamerikanischen Ressentiments genauso wie die Arroganz gegenüber den existenziellen Ängsten ost-mitteleuropäischer Nachbarn vor einem übermächtigen, aggressiven Russland. «Ein selbstkritischer Pazifismus erkennt an, dass, für eine friedliche Welt, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte keine Luxusgüter sind, gerade weil sie global so angefochten sind. Ein historisch aufgeklärter Pazifismus erkennt an, dass es wirklichen Frieden nicht ohne Recht gibt, dass Frieden eine Funktion von Recht ist, dass also Frieden den Einsatz von Stärke gegen Unrechtsregime verlangen kann.»
Angesichts eines atomar bewaffneten Aggressors gilt es sich klarzumachen, dass es eine «schmerzliche Asymmetrie in der Gewaltbereitschaft» gibt. Die Ablehnung der von der Ukraine geforderten Flugverbotszone beruht auf der Anerkennung dieser Tatsache. Diese Haltung des Westens sei «durchaus pazifistisch» – eine unerträgliche Notwendigkeit. Wenigstens unterstütze der Westen die Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine und mithin das Recht dieses souveränen Staates.
Sicherheit ist mehr als militärischer Schutz
Eine Lösung präsentiert Thierse nicht, genauso wenig wie er eine Prognose wagt. Seine Überlegungen münden in einen längerfristigen Ausblick. Neue Blockbildungen seien einer friedlichen Welt nicht förderlich. Deshalb werde es irgendwann wieder «um das mühselige Geschäft von Abrüstungsanstrengungen gehen, um Transparenz- und Kontrollregeln, vor allem für Atomwaffen, für biologische und chemische Kampfstoffe, für Cyberwaffen». Angesichts der Gefahr eines angeheizten Wettrüstens müsse der Sinn dafür wachgehalten werden, dass Sicherheit mehr sei als militärischer Schutz. «Also wird es wieder um wirtschaftlichen Austausch, um Modernisierungskooperationen mit Russland gehen, um wissenschaftlichen, kulturellen und vor allem auch zivilgesellschaftlichen Austausch. Wir dürfen nicht alles der Logik der Konfrontation unterwerfen, sondern sollten begreifen, dass die innere Zivilität und Liberalität unserer Gesellschaften Teil der ‘Wehrhaftigkeit’ des demokratischen Westens sind.» (U.M.)
Quelle: «Frankfurter Allgemeine Zeitung», 2. April 2022