Selbst im Krieg ist nicht alles erlaubt. Es gibt klare, von allen Ländern – auch von Russland – akzeptierte und ratifizierte Verhaltensregeln. Wer diese nicht einhält, begeht laut dem humanitären Völkerrecht Kriegsverbrechen. Präsident Biden nennt Putin einen «Kriegsverbrecher».
Artikel 35 des ersten Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen lautet: «In einem bewaffneten Konflikt haben die am Konflikt beteiligten Parteien kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und Mittel der Kriegführung.»
Die vier Genfer Konventionen sind von allen Ländern der Welt ratifiziert worden. Auch von Russland. Sie verpflichten alle 196 Unterzeichnerstaaten, das Abkommen «unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen». (4. Konvention, Artikel 1)
Die vier Genfer Konventionen und die zwei Zusatzprotokolle gelten als Rückgrat des humanitären Völkerrechts. Das überarbeitete und ergänzte Vertragswerk wurde 1949 verabschiedet. 1977 kamen zwei wichtige Zusatzprotokolle dazu. Hauptziel ist es, die Zivilbevölkerung im Kriegsfall zu schützen und «die durch Krieg verursachten Leiden zu mildern». (4. Konvention/Artikel13).
Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen
Die wichtigste Forderung der Genfer Konventionen ist: Die kriegführenden Parteien müssen unterscheiden zwischen zivilen und militärischen Zielen. Ohne dass es so explizit gesagt wird: Militärische Ziele können im Krieg angegriffen werden, zivile Ziele müssen unter allen Umständen geschont werden.
Also: Angriffe auf Militärflughäfen, Kasernen oder Panzer: Ja. Angriffe auf Zivilisten, die Bombardierung von Städten, Spitälern, Schulen und Wohnhäusern: Nein.
Dieser Grundgedanke zieht sich durch alle vier Konventionen und ihre Zusatzprotokolle.
Punkt 5 von Artikel 85 des ersten Zusatzprotokolls sagt: Schwere Verletzungen dieser Übereinkünfte gelten als «Kriegsverbrechen».
Artikel 75 Absatz 7a sagt: Personen, die beschuldigt werden, die Konventionen zu verletzen, «sollen in Übereinstimmung mit den anwendbaren Regeln des Völkerrechts verfolgt und vor Gericht gestellt werden.»
Bombardierte Städte
Die russische Armee bombardiert Kiew, Charkiw, Tschernihiw und viele andere Städte. Die Angriffe haben seit der festgefahrenen russischen Offensive zugenommen. Viele Quartiere und Ortschaften gleichen einem Trümmerfeld. In Tschernihiw starben zehn Menschen, als sie vor einer Bäckerei für Brot anstanden.
Artikel 51 des ersten Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen sagt: «Die Zivilbevölkerung und einzelne Zivilpersonen geniessen allgemeinen Schutz vor den von Kriegshandlungen ausgehenden Gefahren.» – «Weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen dürfen das Ziel von Angriffen sein.»
Angriff auf ein Theater
Russische Kampfflugzeuge haben am 16. März ein Theater im Zentrum der Stadt Mariupol angegriffen. In dem Gebäude und ihrem Bunker hatten sich laut letzten Meldungen 1300 Menschen aus Angst vor Raketen- und Artillerie-Angriffen verschanzt. Der russische Angriff erfolgte «gezielt und zynisch», sagte der Bürgermeister. Die Russen wussten, dass sich in dem Gebäude Menschen aufhalten.
Artikel 52 des Zusatzprotokolls bestimmt: «Zivile Objekte dürfen weder angegriffen noch zum Gegenstand von Repressalien gemacht werden. Zivile Objekte sind alle Objekte, die nicht militärische Ziele ... sind.» Und: «Angriffe sind streng auf militärische Ziele zu beschränken.»
Flächenbombardements
Auf mehrere Städte, wie Mariupol oder Charwik, wurden Dutzende Bomben abgeworfen. Die Genfer Konventionen verbieten Flächenbombardements. Der Bürgermeister von Mariupol erklärte, täglich würden über der Stadt bis zu hundert Bomben abgeworfen. Der stellvertretende Bürgermeister der Stadt erklärt am Dienstag gegenüber CNN, dass allein an einem Tag 22 Flugzeuge gezählt wurden, die Bomben abgeworfen haben.
Punkt 4 des Artikels 51 des Zusatzprotokolls fordert: Unterschiedslose Angriffe sind verboten, also «Angriffe, die nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel gerichtet werden.» Also: Angriffe, die «Zivilpersonen oder zivile Objekte unterschiedslos treffen können». Dazu gehört die Bombardierung von Städten und Dörfern oder Gebiete «in denen Zivilpersonen oder zivile Objekte ähnlich stark konzentriert sind».
Keine Hilfe für die Zivilbevölkerung
In Mariupol sind 300’000 bis 400’000 Menschen eingeschlossen. Es herrschen laut Hilfswerken «apokalyptische Zustände». Mariupol erlebe seit Beginn des Krieges «die Hölle», erklären Hilfsorganisationen. «Es gibt keinen Strom, kein Wasser und keine Lebensmittel. Die Bewohner schmelzen Schnee oder demontieren Heizungsanlagen, um einen Tropfen Wasser zu trinken», sagt der Berater des Bürgermeisters. Tote werden in Massengräber gelegt, da Friedhöfe immer wieder beschossen werden.
Hilfstransporte, die in die Stadt gelangen wollen, werden beschossen. Die meisten Zufahrtstrassen zur Stadt sind vermint.
Artikel 55 der 4. Konvention verlangt: «Die Besetzungsmacht hat die Pflicht, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungs‑ und Arzneimitteln mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln sicherzustellen; insbesondere hat sie Lebensmittel, medizinische Ausrüstungen und alle anderen notwendigen Artikel einzuführen, falls die Hilfsquellen des besetzten Gebietes nicht ausreichen.»
Artikel 14 des ersten Zusatzprotokolls: «Die Besetzungsmacht hat dafür zu sorgen, dass die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten gesichert bleibt.»
Artikel 54 des Zusatzprotolls sagt: «Das Aushungern von Zivilpersonen als Mittel der Kriegführung ist verboten.»
Humanitäre Korridore
«Humanitäre Korridore», die der Bevölkerung die Flucht aus belagerten und beschossenen Städten erlauben sollten, werden immer wieder unter Feuer genommen.
Artikel 51 des Zusatzprotokolls hält fest: «Die Zivilbevölkerung und einzelne Zivilpersonen geniessen allgemeinen Schutz vor den von Kriegshandlungen ausgehenden Gefahren.»
Angriffe auf Spitäler
Russische Soldaten griffen eine Entbindungsstation in Mariupol an. Mehrere Menschen kamen uns Leben. Später wurden in einem Krankenhaus Geiseln genommen. Menschen, die flüchten wollten, wurden beschossen.
«Zivilspitäler, die zur Pflege von Verwundeten, Kranken, Schwachen und Wöchnerinnen eingerichtet sind, dürfen unter keinen Umständen das Ziel von Angriffen bilden.» (Artikel 18 der 4. Konvention)
Auch das medizinische Personal und Ambulanzfahrzeuge müssen geschont und geschützt werden. (4. Konvention/Artikel 20/21)
Verbotene Waffen
Artikel 35 des ersten Zusatzprotokolls sagt: «Es ist verboten, Waffen, Geschosse und Material sowie Methoden der Kriegführung zu verwenden, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden zu verursachen.»
Artikel 36 verbietet indirekt den Gebrauch von Waffen, die besonderes Leid verursachen, wie zum Beispiel Splitterbomben.
1997 trat die Chemiewaffenkonvention in Kraft, die die Entwicklung, Herstellung, den Besitz und die Weitergabe und den Einsatz chemischer Waffen verbietet. Russland hat die Konvention ratifiziert.
Zudem gibt es mehrere völkerrechtlich verbindliche, internationale Übereinkommen, die explizit bestimmte Waffen verbieten, zum Beispiel Antipersonenminen, die Russland in Mariupol einsetzt, oder blindmachende Laserwaffen oder Streumunition.
Schutz der Schwachen
Artikel 16 der 4. Konvention sagt: «Die Verwundeten und Kranken wie auch die Gebrechlichen und die schwangeren Frauen sollen Gegenstand eines besonderen Schutzes und besonderer Rücksichtnahme sein.»
Wer ausser Gefecht gesetzt wurde und als solcher erkannt ist, darf nicht angegriffen werden. (Artikel 41, Zusatzprotokoll)
Atomanlagen, Staudämme
Russische Streitkräfte haben am 5. März ein Ausbildungszentrum neben dem grössten europäischen Atomkraftwerk beschossen. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj spricht von einem «gezielten Beschuss durch russische Panzer». Auch wenn das direkt danebenliegende Kraftwerk selbst nicht Schaden erlitt, musste man damit rechnen, dass es getroffen würde.
Artikel 56 des Zusatzprotokolls hält fest: «Anlagen oder Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten, nämlich Staudämme, Deiche und Kernkraftwerke, dürfen auch dann nicht angegriffen werden, wenn sie militärische Ziele darstellen, sofern ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann.»
Kriegsgefangene
Die dritte Genfer Konvention schützt Kriegsgefangene. Sie sind «jederzeit mit Menschlichkeit zu behandeln» (Artikel 13) und haben (Artikel 14) «unter allen Umständen Anspruch auf Achtung ihrer Person und ihrer Ehre». Sie dürfen nicht den Medien und der Öffentlichkeit vorgeführt werden.
Artikel 57 fasst zusammen
Wer einen Angriff plant oder beschliesst,
i) hat alles praktisch Mögliche zu tun, um sicherzugehen, dass die Angriffsziele weder Zivilpersonen noch zivile Objekte sind und nicht unter besonderem Schutz stehen, sondern militärische Ziele (...).
ii) hat bei der Wahl der Angriffsmittel und ‑methoden alle praktisch möglichen Vorsichtsmassnahmen zu treffen, um Verluste unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen und die Beschädigung ziviler Objekte, die dadurch mit verursacht werden könnten, zu vermeiden und in jedem Fall auf ein Mindestmass zu beschränken;
iii) hat von jedem Angriff Abstand zu nehmen, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen
Fest steht: Russland verletzt in diesem Krieg immer wieder die Genfer Konventionen. Neben Biden warf auch Aussenminister Antony Blinken Russland «Kriegsverbrechen» vor. Dies sei seine persönliche Meinung. «Ich persönlich stimme Biden zu. Das absichtliche Angreifen von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen.» Er fügte hinzu: «Unsere Experten sind dabei, mögliche Kriegsverbrechen, die in der Ukraine begangen werden, zu dokumentieren und zu bewerten.»
Offiziell hat die amerikanische Regierung die russischen Angriffe bisher nicht als Kriegsverbrechen eingestuft. Joe Biden, der Putin als «mörderischen Diktator» bezeichnet, habe «mit dem Herzen» gesprochen, sagte seine Sprecherin. Die New York Times schreibt, Biden wolle Putin «als wahllosen Mörder darstellen, der in Den Haag vor Gericht stehen sollte, anstatt eine verblichene Supermacht zu führen».
Der Wortlaut der vier Genfer Konventionen befindet sich auf dem Portal des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA.
Die vier Genfer Konventionen und ihre zwei Zusatzprotokolle
Die vierte Genfer Konvention
Das erste Zusatzprotokoll