Die deutsche Hauptstadt war zugepostert. «Der Politik Ziele setzen!», «Ja!», «Kinder würden Klima wählen», «Berlin 2030 Klimaneutral». In leuchtend roten Lettern auf neongrünem Grund riefen Plakate den Menschen an gefühlt jeder Strassenecke zu, wofür sie am 26. März bitteschön ihre Stimme abgeben sollten:
Per Gesetz müssten die Regierenden verpflichtet werden, Deutschlands grösste Metropole bis 2030 klimaneutral zu machen. Koste es, was es wolle. Innerhalb von nur sieben Jahren also, und nicht erst – wie bereits amtlich als Klimaziel anvisiert – bis 2045. Das Ansinnen scheiterte. Was die Niederlage für Deutschlands Grüne bedeutet, die sich mit unpopulären Klimavorhaben in ein Umfragetief manövriert haben, bleibt abzuwarten.
Enttäuschung und Aufatmen
Ihre Enttäuschung konnten manche der Initiatoren des Volksentscheids kaum verbergen. «Wir lassen uns nicht aufhalten von den Kritikern und Nörglern», wetterte die Aktivistin Luisa Neubauer am Sonntagabend bei der Wahlparty des Bündnisses «Klimaneustart». Das Ergebnis sei keine Niederlage für die Klimabewegung, sondern eine Niederlage für alle Menschen in Berlin.
Aufatmen hingegen bei CDU und SPD. Sie verhandeln gerade über die Bildung einer schwarz-roten Koalitionsregierung für Berlin. Eine Regierung, die gesetzlich verpflichtet worden wäre, mit allen Mitteln Klimaneutralität für die 3,7 Millionen Einwohner zählende Stadt bis 2030 anzustreben, wenn das Volk das denn so entschieden hätte.
Augenwischerei
Berlins CDU-Landeschef und demnächst Regierender Bürgermeister Kai Wegner hatte vor dem Urnengang gewarnt: «Die Ziele sind nicht realistisch erreichbar bis 2030.» Die (Noch-)Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey von der SPD sieht das ähnlich: Es sei schlicht und einfach nicht möglich, Berlin schon bis 2030 klimaneutral zu machen. «Und das muss man den Leuten auch klipp und klar erklären. Alles andere ist Augenwischerei.»
Trost finden Anhänger der Klima-Iniative nun darin, dass sie rein zahlentechnisch auf eine knappe Mehrheit kamen: Immerhin hätten doch 442’210 Menschen mit Ja gestimmt, gegenüber 423’410 Nein-Stimmen. Doch für einen Erfolg hätte eine Zustimmungsquote von mindestens 25 Prozent aller Wahlberechtigten erreicht werden müssen, also wenigstens 608’000 Ja-Stimmen. Das wurde klar verfehlt. Zudem scherten sich die weitaus meisten der 2,4 Millionen Berliner Wahlberechtigten nicht um das grüne Anliegen und verbrachten den Sonntag anderweitig. Die Beteiligung lag bei etwas mehr als 35 Prozent.
Profiteure
Wie die «schweigende Mehrheit» entschieden hätte, wenn sie denn hätte abstimmen müssen, bietet sicher Raum für Spekulationen. Bemerkenswert ist aber, dass die «Klimaneustart»-Aktivisten ihr Ziel trotz einer gewaltigen Mobilisierungskampagne verfehlten. Wie Kampagnen-Sprecherin Jessamine Davis dem öffentlich-rechtlichen Sender rbb sagte, standen dafür 1,2 Millionen Euro zur Verfügung – laut rbb mehr als bei jedem anderen Berliner Volksentscheid zuvor.
Die grössten Geldgeber waren demnach Investoren aus den USA und Deutschland. «Viele der Geldgeber haben enge Verbindungen in die Klima- und Erneuerbare-Energien-Branche», berichtete der rrb. Dass zumindest einige von ihnen von einer gesetzlichen Pflicht zur Klimaneutralität Berlins bis 2030 profitiert hätten, lässt sich vermuten.
Scharfe Einschnitte
Mit dem Geld wurden nicht nur grelle Poster an Tausenden von Laternen und Hunderte von Grossaufstellern finanziert, sondern auch Konzerte mit Stars, die besonders ein junges Publikum ansprechen sollten. «Nein»-Poster waren hingegen nirgendwo zu sehen. Gegner der 2030-Verpflichtung hielten sich weitgehend bedeckt und schienen wohl darauf zu setzen, dass die Vernunft der Berliner stärker sein wird als die Wirkung neongrüner Poster und toller Live-Musik.
Dabei konnten sich die Wähler nur ausmalen, was ein Erfolg der Initiative für die deutsche Hauptstadt bedeutet hätte. Denn wie Klimaneutralität in Berlin konkret innerhalb von sieben Jahren durchgesetzt werden sollte, hatten die Initiatoren wohlweislich nicht erklärt. Nach den Erfahrungen mit den Grünen in der – mittlerweile abgewählten – Stadtregierung von SPD, Grünen und Linken sowie den umstrittenen Vorhaben des grünen Wirtschafts- und Klimaministers Robert Habeck brauchte es allerdings wenig Phantasie, um sich scharfe Einschnitte in den öffentlichen und privaten Alltag der Berliner vorzustellen.
«Klimaschutz mit der Brechstange»
Klimaneutralität kann es nur geben, wenn keine Treibhausgase mehr über das Mass hinaus emittiert werden, das vollständig durch die Natur aufgenommen und neutralisiert werden kann. Dafür müssten die klimaschädlichen Emissionen von Autos und Flugzeugen, Industriebetrieben und Kraftwerken sowie auch der privaten Heizungen um rund 95 Prozent im Vergleich zu 1990 gesenkt werden. Das bis 2045 zu schaffen, ist schon eine gewaltige Herausforderung. Wie es in einer Stadt wie Berlin bis 2030 ohne Fahrverbote, Einschränkungen des Flugverkehrs am Hauptstadt-Airport und ohne einschneidende Vorgaben für die Wirtschaft und Privathaushalte bis 2030 zu schaffen sein soll, dürften sich viele gefragt haben, die Nein sagten oder gar nicht erst abstimmten.
Zudem hatte selbst der Senat aus SPD, Grünen und Linken in seinem ablehnenden Votum zur 2030-Initiative darauf hingewiesen, dass die Hauptstadt darauf angewiesen wäre, dauerhaft Wind- und Sonnenstrom aus anderen Bundesländern zu importieren und daher «der Zeitpunkt der Klimaneutralität Berlins massgeblich vom Ausbau erneuerbarer Energien bundesweit» abhänge. Wie schnell man dort vorankomme, könne Berlin aber nicht beeinflussen, Volksentscheid hin oder her.
Schwer einzuschätzen ist, inwieweit der derzeit verbreitete Unmut in Teilen der Bevölkerung mit dem grünen Part der Ampel-Regierung die Abstimmung in Berlin möglicherweise beeinflusst hat. Vizekanzler Habeck jedenfalls gehört längst nicht mehr zur Spitzengruppe der beliebtesten Politiker. Kritiker werfen ihm «Klimaschutz mit der Brechstange» vor, seit Überlegungen der Grünen bekannt wurden, bereits ab 2023 den Einbau neuer Gas- oder Ölheizungen zu verbieten und das Verbrenner-Aus für Kraftfahrzeuge zu forcieren.
Sinkende Umfragewerte
Die Grünen würden Projekte in Angriff nehmen, «die stark in die Lebens- und Vermögensplanung der Bevölkerung eingreifen», zitierte das «Handelsblatt» den Parteienforscher Thomas Poguntke. Das Haus oder die Wohnung sowie das Auto seien nun einmal wichtige Vermögensentscheidungen vieler Deutscher und beides wollten die Grünen verteuern. Sinkende Umfragewerte für die Grünen können wohl als Quittung dafür gedeutet werden.
Insofern waren die Grünen gut beraten, sich nicht offiziell hinter die Ziele der Berliner Volksentscheid-Initiatoren zu stellen. Allerdings hatte die Grünen-Landesvorsitzende und Noch-Umweltsenatorin, Bettina Jarasch, öffentlich verkündete, mit Ja zu stimmen. Das brachte ihr Kritik aus den eigenen Reihen ein. Wohl auch, weil Medienberichten zufolge so mancher ihrer Parteifreunde bei den in diesem Jahr noch anstehenden Landtagswahlen in Bremen, Hessen und Bayern eine Abrechnung an der Wahlurne befürchtet.