Otfried Höffe nennt sein jüngstes Buch einen Essay. Das ist einigermassen untertrieben, denn das dahinterstehende Vorhaben ist überaus ambitiös. Er unternimmt es nämlich, die EU umfassend zu analysieren und zu bewerten sowie auf dieser Grundlage den Kurs einer in seinen Augen wünschbaren, sinnvollen und möglichen Entwicklung zu skizzieren. Bei diesem Vorhaben bleibt er nicht stehen bei einer «technischen» Evaluation von EU-Institutionen und deren Leistungen. Und Höffe spricht ausdrücklich nicht nur von der EU, sondern auch von Europa; dabei wird er nicht müde, die Gedankenlosigkeit derjenigen anzuprangern, die umstandslos beides gleichsetzen.
Der 76-jährige Otfried Höffe arbeitet an aktuellen Problemstellungen stets mit dem geistigen Instrumentarium der klassischen abendländischen Philosophie. Wichtigste Bezugsgrössen seines Denkens sind Aristoteles und Kant. Höffe hat lange in der Schweiz gelehrt und während sechs Jahren die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin präsidiert. Gegenwärtig leitet er als Emeritus das Institut für Politische Philosophie an der Universität Tübingen. Zum Europathema hat er im Verlauf von vier Jahren neun Symposien im Rahmen der Thyssen-Stiftung «Europa – politisches Projekt und kulturelle Tradition» veranstaltet. Die enge Vertrautheit mit der Schweiz ist in sein Europa-Buch eingeflossen und macht dieses – obschon nicht primär so adressiert – zu einem gerade für die schweizerische Leserschaft idealen Zugang zur Europathematik.
Grosse Flughöhe
Die Anlage des Werks ist, wie schon erwähnt, durchaus nicht essayistisch. Schon eher hat es den Charakter eines Lehr- oder Handbuchs: straff aufgebaut, stark gegliedert, um Knappheit und, soweit es der Umfang von unter 300 Seiten zulässt, um annähernde Vollständigkeit der Aspekte bemüht. Aus diesem Konzept ergibt sich zwingend eine grosse Flughöhe der Darstellung. Höffe will nicht Einzelheiten zeigen, sondern das ganze Bild. Das macht sein Buch sicherlich angreifbar, da sich wohl zu fast allen seinen bilanzierenden Befunden irgendwelche Gegenbeispiele und Kontra-Argumente finden liessen.
Das Thema ist so weitläufig und komplex, dass jede kompakte Übersicht zum intellektuellen Risiko wird. Gleichzeitig ist es aber mit seiner Vielzahl von sich laufend verschärfenden Problemlagen dermassen drängend, dass so etwas wie eine Gesamtbilanz des Ist-Zustands und eine Idee zur Weiterentwicklung Europas und der EU unbedingt zu wünschen sind.
Erfolgsmodell in der Tiefenkrise
Otfried Höffe hat sich dieser heiklen Aufgabe gestellt. Er arbeitet sie mit zwei unterschiedlichen, sich ergänzenden Ansätzen ab. Der erste widmet sich dem politischen Projekt EU und seinem Verhältnis zu Europa. Hier schildert Höffe die Europäische Union als Erfolgsmodell, das sich jedoch in einer Tiefenkrise befindet. Sie stösst also nicht bloss an ein paar Schwierigkeiten bei Einzelnem, sondern ist im Kern, in der Tiefe massiv herausgefordert.
Wichtigster Erfolg der EU ist ihr unbestrittener Beitrag zu 75 Jahren des Friedens in Europa. Hinsichtlich der Ausbreitung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand hat sie einiges, wenn auch noch nicht genug geleistet. Diesen kaum zu überschätzenden Pluspunkten stehen jedoch eine Reihe von Negativa gegenüber. Etliche davon, vor allem diejenigen von strukturellem Charakter, sind in der EU sicherlich nicht unbekannt, aber weitgehend tabuisiert. Höffe legt sie mit hartnäckiger Sachlichkeit, aber ohne jede triumphierende Häme dar.
So erweist sich die Stimmrechtsregelung in der EU immer mehr als gravierender Konstruktionsfehler. Da hat zum Beispiel in der Europäischen Zentralbank das winzige Malta das gleiche Gewicht wie Deutschland, das für mehr als ein Viertel der Risiken haften muss. Das gleiche Prinzip sorgt dafür, dass die Geberländer den Nehmern gegenüber stets in der Minderheit sind und sich somit von jenen die Ausgleichsmechanismen diktieren lassen müssen.
Von ähnlicher Tragweite ist die Konzeption der EU als Elitenprojekt statt als Bürgerprojekt. Nach dem Willen einer Gilde von EU-Repräsentanten war und ist das Mantra «mehr Europa» leitend: mehr Mitgliedländer, mehr Souveränitätsverzicht der Mitglieder, mehr wirtschaftliche Vergemeinschaftung. Skepsis gegenüber diesem Mantra wird vorschnell als Nationalismus oder Europafeindlichkeit gebrandmarkt, anstatt offen diskutiert und sachlich erörtert. Höffe hierzu: «Mittlerweile ist es jedenfalls unabdingbar, über Grenzen nachzudenken, sowohl über Grenzen der Leistungsfähigkeit der EU als auch über Grenzen ihrer Legitimität.»
Notorische Rechtsbrüche
Besonders zu kritisieren ist nach Höffe der «kreative» Umgang mit dem selbstgesetzten Recht der EU. So schafft etwa der Europäische Gerichtshof ohne Legitimation und formellen Auftrag permanent neues Recht in Richtung «mehr Europa», an welches die Mitgliedländer dann gebunden sind. Höffe beklagt «das rechtlich fragwürdige Überschreiten der von der Gewaltenteilung festgelegten Rolle, womit der Europäische Gerichtshof sich selbst, ohne von der Europäischen Legislative dazu autorisiert zu sein, zum Integrationsmotor ermächtigt hat.» Und weiter: «Bislang folgt der europäische Einigungsprozess dem Grundsatz, zunehmende Integration habe Vorrang vor der Demokratie, sie dürfe sogar unausgesprochen, aber faktisch zulasten der Demokratie stattfinden.»
Ebenso «kreativ» sind der elastische Umgang mit den Maastrichter Regeln zur Staatsverschuldung seitens diverser Länder und die notorische Verletzung der No-Bailout-Regel durch die Europäische Zentralbank, also das Verbot der Staatsfinanzierung zulasten der Gemeinschaft durch die EZB. Indem die EU und zahlreiche ihrer Mitglieder das geltende Gemeinschaftsrecht notorisch brechen, setzen sie nicht nur die Stabilität des Ganzen aufs Spiel, sondern unterhöhlen auch die Legitimität allen gemeinsamen Handelns und die Vertrauenswürdigkeit der gemeinsamen Institutionen.
Ganz Europa im Blick
Der bereits erwähnte Blick über die EU hinaus auf Gesamteuropa führt den Autor zu einer interessanten Unterscheidung zwischen «Pflichteuropa» und «Wahleuropa». Das Erste umfasst alle Staaten der geographischen Grösse Europa, das Zweite die aufgrund frei gewählter Mitgliedschaft gebildete EU. Mit dieser Sichtweise überwindet Höffe das paternalistische Bild, wonach es in Europa im Wesentlichen die EU gebe und daneben noch einen Rest von Nichtmitgliedern. Zu Pflichteuropa gehören alle, und zwar alle als Einzelstaaten. Für sie gelten ein paar Basics wie Verpflichtung auf Menschenrechte, auf gegenseitige Gewaltfreiheit und Frieden. Für Höffe gehört dazu auch das Verbot, einander mit Immissionen oder Risiken (z. B. grenznahe AKW) zu schaden oder zu bedrohen. Ein solcher – hier provisorisch Pflichteuropa genannter – Verbund ist bisher nicht formell etabliert, kann aber dem Sinn nach trotzdem gelten.
Bei der Musterung der die Identität der EU – also Wahleuropas – prägenden Werte legt Höffe besonderes Gewicht auf das Recht auf Differenz: «Nicht der ist ein ‘bekennender Europäer’, der für Brüssel immer mehr Kompetenzen und eine gleichmachende Homogenisierung fordert, sondern wer – aus Respekt vor der europäischen Vielfalt! – sich diesen Forderungen widersetzt.»
Suche nach europäischer Identität
Im zweiten Teil des Buches befasst sich Höffe des Näheren mit der kulturellen Identität Europas – nun primär mit Blick auf Pflichteuropa –, indem er den kulturellen Reichtum des Kontinents überblicksmässig darstellt. Beginnend mit «Sprache, Literatur und Philosophie» schreitet er weiter zu «Recht und Gerechtigkeit», «Wirtschaft und Finanzen», «Wissenschaft mit Technik und Medizin» und schliesslich weiter zu den üblichen Sparten der Kultur.
Nach den «harten» Kriterien des ersten Teils kommen hier die «weichen» Merkmale europäischer Identität in den Blick. Kein Wunder, verliert die Darstellung hier an Konturschärfe. So ist vieles, was man mit guten Gründen als historische Leistung Europas sehen kann, längst nicht mehr alleinige europäische Eigenart. Vieles müsste eher als «westlich» denn als «europäisch» etikettiert werden, und zudem hat die wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung längst eine internationale Moderne geschaffen, in welcher Europa nur noch ein Hub neben anderen ist.
Zwar lässt sich im kulturhistorischen Langzeitvergleich durchaus einiges an genuin Europäischem ausmachen, das sich im summarischen Überblick höchst eindrucksvoll ausnimmt. Höffes kompakte Darstellung ist jedenfalls ein interessanter Versuch, vor globalem Hintergrund kulturelle Differenzen zu markieren. Überraschend und überzeugend gelingt das etwa mit dem Kapitel «Musik». Zurückgreifend auf Max Weber hebt Höffe für sie das Moment der Rationalität hervor, das exemplarisch bei Bach und von diesem her in der gesamten europäischen Kunstmusik herrscht. Zustimmend zitiert er Richard von Weizsäcker: «In keiner anderen Kultur (…) hat – ich glaube, das dürfen wir ohne Anmassung der Europäer sagen – die Musik solche Höhen erreicht, ist in so tiefe Schichten vorgedrungen wie in Europa.»
Umsteuern zum Subsidiaritätsprinzip
Den Ertrag der beiden analytischen Hauptteile formuliert ein dritter Teil, überschrieben mit «Die Vision: ein Europa der Bürger». Das wichtigste Konstruktionsprinzip dieses anders gebauten und funktionierenden Europa ist das der Subsidiarität. Dieses wurzelt im Primat der Personalität: Den Staat mit seinen Schichten und Stufen von Institutionen und Regeln gibt es einzig um der Person willen. Die Idee einer Hierarchie ist von daher grundlegend falsch. Die jeweils «höheren» Instanzen ziehen ihre Legitimation einzig aus dem Nutzen für die Person. Die Metaphorik des Oben und Unten ist daher abzulehnen.
Das Subsidiaritätsprinzip besteht aus zwei Elementen: aus dem Zuständigkeitsrecht und dem Wegnahmeverbot. Die einzelne Person ist zuständig für alles, was sie selber leisten kann; niemand darf ihr dieses Recht wegnehmen. Die gleiche Regel gilt für Funktionsebenen, Organe, Institutionen. Somit bedeutet Subsidiarität aber auch die Pflicht zu Eigenverantwortung und Selbsthilfe.
Der Subsidiaritätsgedanke ist kein politisches Patentrezept, sondern ein regulatives Prinzip, anwendbar unter drei Klauseln. Erstens gilt die Erfordernis-Klausel: Nur wenn die grössere Einheit – hier die EU – zwingend gefordert ist, darf sie aktiv werden. Das zweite ist die Besser-Klausel: Nur wenn die EU das Problem besser lösen kann als die Einzelstaaten, darf sie es anpacken. Als dritte Klausel kommt das Gebot der Verhältnismässigkeit zur Anwendung: Der Aufwand muss gerechtfertigt sein. Nur bei Einhaltung aller drei Klauseln ist das Eingreifen der EU – und sinngemäss aller kleineren Einheiten – subsidiär und damit legitim.
Otfried Höffe zitiert den ehemaligen Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, mit der Aussage, jedes Problem, das in Europa auftauche, solle selbst dann von der Union gelöst werden, wenn weder die rechtlichen noch die administrativen Voraussetzungen gegeben seien. Juncker, der bekanntlich die Zuspitzung liebte, formulierte damit den Imperativ des «mehr Europa». Dieser widerspricht der angeblich von der EU so hochgehaltenen Subsidiarität, und zwar fundamental. Höffes Vision für Europa weist in die Gegenrichtung: kein prinzipieller Ausbau, sondern Überprüfung aller EU-Bereiche am Massstab der Subsidiarität.
Nach der Lektüre drängt sich selbstverständlich die Frage auf, ob der Supertanker EU eine solche Kurve überhaupt hinkriegen kann. Höffe stellt diese Frage nicht direkt, gibt aber zahlreiche Hinweise auf wachsende Problemberge sowie Legitimitäts- und Akzeptanzdefizite der EU. Der Druck, der eine Kursänderung herbeiführen könnte, dürfte jedenfalls zunehmen.
Otfried Höffe: Für ein Europa der Bürger! Klöpfer, Narr, 2020, 285 S.