Journal 21 stellt in dieser Rubrik ausgewählten Personen aus Politik, Wissenschaft und Kultur «die Gretchenfrage» zu einem hintergründig aktuellen Problem. In der zweiten Runde geht es um die Frage; Sollen ältere Leute nicht mehr in den Genuss aller medizinischen Leistungen kommen? Wäre das ein Mittel zu einer Kostenreduktion im Gesundheitswesen?
Die Schweiz hat eines der besten, wenn nicht das beste Gesundheitssystem der Welt. Es erbringt echten Mehrwert. Seit 1980 hat die Lebenserwartung der Schweizerinnen und Schweizer um acht Jahre zugenommen. Auch die Lebensqualität hat sich verbessert. Wer hierzulande eine neue Hüfte braucht, bekommt diese innert nützlicher Frist. Im Vereinigten Königreich muss der Patient mit schweren Schmerzen darauf zwei Jahre warten.
Qualität hat ihren Preis. Unsere Gesundheitskosten sind die zweithöchsten der Welt – die für eine Taxifahrt in Zürich wahrscheinlich die höchsten. Erstere beschäftigen im Falle der Ermangelung anderer Themen regelmässig Gesundheitspolitiker, Ökonomen und Journalisten, die fragen, ob wir uns das noch leisten können.
Zufrieden mit dem Gesundheitswesen
Die Bevölkerung hingegen will sich das leisten, sie ist damit zufrieden und hat noch jeden Versuch, die Kosten zu senken, überdeutlich abgelehnt. Allerdings klagt man über die hohen Prämien der Krankenversicherung und möchte bei den jeweils anderen sparen. Gesundheitskosten sind seit Bismarck im Gegensatz zum Recht auf Gerechtigkeit entprivatisiert: Der Staat hat für die Gesundheit zu sorgen. So könnte er die Gesundheitsleistungen bei den naturgemäss mehr konsumierenden Seniorinnen und Senioren limitieren oder rationieren; schliesslich sind die letzten sechs Lebensmonate die teuersten.
Allerdings sind nicht alle so edelmütig wie der «tapfere This Jenny», der unlängst im Sonntagsblick mitteilte, dass er auf die letzten vier Wochen seines Lebens verzichten werde. Ich habe im Gegenteil auch Hundertjährige erlebt, die bei klarem Verstand auf einer Operation des Herzens oder Darms bestanden. Ein Lebensjahr im hohen Alter kann so schön und wertvoll sein wie in den Irrungen der Pubertät. Und wann die letzten sechs Monate oder die letzten vier Wochen beginnen, ist letzten Endes nur retrospektiv feststellbar.
Teure Medizin im reichen Land
Unser teures Gesundheitswesen beschäftigt zwölf Prozent der Schweizer Bevölkerung und zeigt weiterhin solide Wachstumsraten. Damit liegt es wie die Preise für Wohnungen in Zürich, der Kaviarburger in St. Moritz, die Bratwurst am Bellevue oder das Edelfutter für Feinschmecker unter Katzen im landesweiten Trend. Die Basis für diesen verschwenderischen Reichtum haben die heute Alten und ihre Vorfahren erbracht. Auch sie mussten, wie manche Junge heute, für ihren Lebensunterhalt ernsthaft arbeiten, konnten aber das Ersparte noch nicht für Smartphones, HM-Schrott oder Australien-Reisen ausgeben.
Den jetzt Verblühten sollen also gemäss Gretchenfrage medizinische Leistungen verweigert werden. Eine Antwort auf diese rhetorische Frage der auch nicht mehr juvenilen Redaktion erübrigt sich, solange die Betroffenen einigermassen sinnvolle Leistungen auch wirklich wünschen. Was sinnvoll ist, hat der mündige Patient zusammen mit seinem beratenden Arzt zu entscheiden, worin natürlich ein Grundsatzproblem liegt. Denn auch für den einfühlsamsten und vernünftigsten Arzt ist der Tod eines Patienten das definitive Ende auch einer Geschäftsbeziehung.
Höhere Selbstbeteiligung im Alter?
Falls die Mittel tatsächlich einmal zu knapp würden, könnte eine höhere Selbstbeteiligung der Seniorinnen und Senioren erwogen werden – zumindest jener, die ihr Erspartes sowieso nur vererben wollen. Soweit ist es aber noch lange nicht. Wir haben in diesem Land Geld für SUVs zum bequemen Einkauf im Globus, Mittel für die Bürozeiten-Luftabwehr sowie für Adoleszentenreisen nach Hawaii und Kathmandu. Solange wir auf solch höchstem Niveau Ressourcen-Allokation betreiben, bleibt genug Geld für stürzende Alte, verwirrte Alkoholiker und Patienten mit zusammenbrechender Wirbelsäule. Wofür wollen wir denn Geld ausgeben, wenn nicht für Lebensspanne und Lebensqualität? Mit Schmerzen und Atemnot machen nämlich auch das neue Designerkostüm und der Strand von Bali keine Freude mehr.
Schliesslich halten die Alten, die echter Hilfe bedürfen, auch einen unserer wichtigsten Wirtschaftszweige am prallvollen Leben. Noch selbstbewussteres Auftreten wäre darum den Vertretern der Gesundheitsberufe zu raten: Dieses System ist für den Mehrwert, den es besonders bei den AHV-Bezügern erbringt, zu preisen; dafür ist es eigentlich enorm kostengünstig.
Schwerwiegender Mangel an Personal
Gerade den Ökonomen sollte eine andere Entwicklung grösste Sorgen machen: Das Gesundheitswesen wird nämlich in den nächsten Jahrzehnten durch die Macht des Faktischen limitiert, so dass ungewollt und unvermeidbar eine Rationierung medizinischer Leistungen stattfindet, nämlich durch den Mangel an Leistungserbringern.
Zunächst wird sowohl die Produktion von jungen Ärztinnen und Ärzten als auch von Pflegerinnen und Pflegern durch unsinnige Auswahlverfahren und staatliche Limitierungen seit Jahrzehnten behindert und unter einem wünschbaren Sollwert gehalten. Nicht mehr lange werden wir den resultierenden Mangel durch Importe aus dem Norden kompensieren können. Die deutschen Kliniken rekrutieren bereits Pflegepersonen aus der Mongolei. Hierzulande werden psychiatrische Notfallpatienten am Wochenende zumindest noch auf Deutsch, wenn auch mit deutlichem Akzent, begrüsst. Noch.
Limitierende Teilzeitarbeit und absurdes Tarifsystem
Die frisch ausgebildete Ärzteschaft besteht zu mehr als fünfzig Prozent aus Frauen, die aus einfühlbaren physiologischen Gründen bald einmal eine Teilzeittätigkeit anstreben. Auch junge Männer neigen zur Teilzeiterei. Zudem limitieren Arbeitsgesetze die Ausbildungszeit. So können Erfahrungen nicht erworben und Leistungskataloge – zum Beispiel für die Anzahl von durchgeführten Operationen – nicht erfüllt werden. Ein gravierender Mangel an Orthopäden ist bereits in wenigen Jahren zu erwarten, von Hausärzten ganz abgesehen.
In manchen Gebieten werden auch ökonomische Gründe, im Besonderen ein absurdes Tarifsystem für Mängel sorgen: Urologen oder Radiologinnen verdienen drei- bis viermal so viel wie Psychiater. Das sorgt bei allem Idealismus potentieller künftiger Seelenärzte für Laufbahnentscheidungen.
Die Gretchenfrage – immer vorausgesetzt, dass der individuelle Patient eine entsprechende medizinische Leistung wünscht – ist aus Gründen der Fairness und der Ökonomie klar mit Nein zu beantworten. Die Rationierung und die verschärfte Klassenmedizin werden jedoch durch Mangel eingeführt beziehungsweise verschärft.
Dr. med. Oswald Oelz, emeritierter Professor, ist Extremalpinist und ehemals Chefarzt des Zürcher Triemlispitals