Dem reichen Emirat am Golf kommt als Pate von Hamas eine entscheidende Rolle bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Gaza-Desaster zu. In der Regierungszeit von Emir Tamim bin Hamad al-Thani ist das Land ohnehin zum internationalen Schwergewicht avanciert.
Sofern es überhaupt einen Weg gibt, die rund 240 von den Hamas-Terroristen in den Gazastreifen verschleppten Geiseln durch Diplomatie zu befreien, dann führt dieser Weg über den Kleinstaat Qatar am Persischen Golf. Deutlichstes Anzeichen für die Bedeutung Qatars in diesem Zusammenhang: CIA-Chef William Burns reiste diese Woche persönlich nach Doha, und Gerüchte besagen, dass bei den Gesprächen mit Verantwortlichen Qatars auch ein wichtiges Mitglied des israelischen Geheimdienstes Mossad anwesend war.
Qatar ist ein Synonym für Zweideutigkeit. Der Regierung wird vorgeworfen, sie unterstütze radikal-islamistische Organisationen kreuz und quer durch die nah- und mittelöstliche Region massiv mit Geld, profiliere sich aber gegenüber der Aussenwelt als Vermittler für Konflikte unterschiedlichster Art: vor wenigen Jahren zwischen den USA und den afghanischen Taliban, dann zugunsten einer Aussöhnung zwischen Iran und Saudi-Arabien, und jetzt, aktuell, im Konflikt um den Gazastreifen.
Hamas ist nur einer von vielen Begünstigten. In den Gazastreifen wurden in der letzten Zeit (das gab die Regierung in Doha selbst bekannt) etwa 360 Millionen Dollar pro Jahr transferiert. Übrigens mit Wissen der israelischen Regierung, die (wahrscheinlich zähneknirschend) erkannte, dass die öffentlichen Dienste im abgeschotteten Küstenstrich mit seinen 2,3 Millionen Menschen ja irgendwie finanziert werden mussten.
Werden Politiker in Qatar auf die Willkürherrschaft von Hamas in Gaza hingewiesen, sagten sie, das Geld fliesse nicht an diese Organisation, sondern vorwiegend über Uno-Organisationen an Hilfsprojekte oder direkt an die Bevölkerung. Der Verdacht, dass dennoch zumindest ein Teil der Gelder zu Hamas (die ideologisch aus dem Gedankengut der ägyptischen Moslembrüder hervorgegangen ist) gelangen konnte, wurde allerdings nie widerlegt. Umso weniger, als das Golf-Emirat über die Jahre gerne Organisationen wie jene der Moslembrüder in Ägypten (und anderen Ländern der Region) unterstützte und sich auch offen dazu bekannte, dass seine Herrscher Verständnis für Bewegungen hatten, deren Credo der politische Islam ist.
Heikle Liaison mit dem politischen Islam
Was heisst politischer Islam? Vereinfacht bedeutet der Begriff, dass die Herrschenden sich nach den wesentlichen Grundsätzen der Religion zu richten haben – was, konsequent durchgedacht (die Islamwissenschafterin Gudrun Krämer weist das in ihrem Buch «Demokratie im Islam» nach), so ziemlich alle Regierungsformen ermöglicht, ausser der Monarchie. Verständlich, dass die Regierenden zum Beispiel Saudi-Arabiens oder der Vereinigten Arabischen Emirate Bewegungen und deren Anhänger, die sich im geistigen Umfeld des politischen Islams bewegen, gnadenlos verfolgen. Weniger konsequent erscheint im Spiegel dieser Überlegungen allerdings, dass auch Ägyptens Präsident as-Sissi die Moslembrüder erbarmungslos verfolgte und weiterhin verfolgt. Es sei denn, man erkenne in der Art und Weise, wie er sein Amt ausführt, autoritäre Züge, die jenen von Monarchen vergleichbar wären. Was der Realität durchaus entspricht.
Allerdings müssten sich nun, dieser Logik folgend, auch die Herrscher in Qatar vor dem politischen Islam fürchten und daher ihre Hilfe für Organisationen wie Hamas längst beendet haben. Doch dafür gibt es keine Anzeichen, und dies aus zwei Gründen: Erstens fühlt sich die Dynastie der ath-Thani in Qatar total sicher, und zweitens liebt sie es, andere Regierungen in Nah- und Mittelost zu provozieren.
Missglückte Einschüchterung durch Saudis
Die Provokationslust führte 2017 zu einem Bruch: Saudi-Arabien, die Emirate, Bahrain und Ägypten brachen die diplomatischen Beziehungen mit Doha ab, und die Saudis begannen sogar damit, eine Grenzmauer am Landübergang zu Qatar zu bauen und Qatar-Airways die Überflugrechte zu entziehen. Ihr Vorwurf: Qatar unterstütze islamistische Terrorgruppen, beispielsweise in Syrien. Das war allerdings nur ein Bruchteil der Wahrheit. Das Fass zum Überlaufen brachte ein banaler Zwischenfall: Mitglieder der qatarischen Herrschaftsfamilie hatten sich in einem scheinbar sicheren Gebiet von Irak auf Falkenjagd begeben (die Falkenjagd ist in Qatar so etwas wie ein nicht-materielles Kulturgut, kann aber nicht im eigenen Mini-Land betrieben werden, weil es dort kein jagdbares Wild mehr gibt – die Antilopen und Hasen wurden längst abgeschossen), wurden aber dennoch von Mitgliedern einer islamistischen Miliz überfallen und als Geiseln genommen.
Um die Männer freizubekommen, zahlte Qatar rund eine Milliarde Dollar, und ein Teil dieses Geldes soll dann zu den Terroristen des Islamischen Staats geflossen sein. Das bot den regionalen Widersachern Qatars den Anlass zum Bruch – in der Hoffnung, die Herrscher in Doha müssten nun kapitulieren und sich dem Mainstream der Regime in der Region anschliessen. Doch weit gefehlt: Die Qatarer fanden in kurzer Zeit Mittel und Wege, die Blockade zu umgehen.
Im Nu bauten sie ihre (schon vorher recht harmonischen) Beziehungen zu Iran weiter aus und importierten von dort all das, was die verwöhnten Konsumentinnen und Konsumenten im Land benötigten. Und als sie sahen, dass sie aus Iran zu wenig frische Milchprodukte einführen konnten, flogen sie innert weniger Tage über tausend Milchkühe aus europäischen Ländern und dem Kaukasus ein und bauten im Nu eine Farm, um den täglichen Bedarf an Milchprodukten im Land kurzfristig zu decken.
Ein bewundertes Ärgernis
Längerfristig erkannten die Widersacher, dass es ihnen mehr schadete als nützte, Qatar zu isolieren. 2021 wurden alle Beziehungen wieder normalisiert. Was an der eigenwilligen Aussenpolitik der Herrscher in Doha allerdings nichts änderte: Sie sorgten weiterhin dafür, dass hunderte Millionen, hochgerechnet bald einmal Milliarden, an Parteien transferiert wurden, die dem politischen Islam Geltung verschaffen wollten und dass auch die Gelder für den Gazastreifen nicht versiegten.
Es störte sie auch nicht, dass Ismail Haniyya, einer der wichtigsten Führer von Hamas, ein Haus in Doha bezog und dass er von dort wohl auch die wichtigsten Operationen von Hamas im oder aus dem Gaza-Streifen lenken kann. Schwer (nein: nicht) vorstellbar, dass Ismail Haniyya nicht in die Planung der Hamas für die massenmörderische Attacke auf Israeli vom 7. Oktober einbezogen worden wäre. Die Widersprüchlichkeit auf die Spitze treibt dann die Tatsache, dass die US-Streitkräfte auf dem Territorium Qatars eine ihrer wichtigsten Basen im Mittleren Osten unterhalten. Für die qatarische Führung ist weder das eine noch das andere ein Problem.
Qatar ist für einen Grossteil der Aussenwelt, auch für westliche Regierungen, ein bewundertes Ärgernis. Bewundert, weil die ganze Welt sieht, dass Emir Tamim bin Hamad ath-Thani, Staatschef seit 2013, mit den immensen Gewinnen aus der Förderung und der Vermarktung von Erdgas vorbildlich geschickt umgeht. So geschickt, dass sein Kleinstaat zu einer globalen wirtschaftlichen Grossmacht geworden ist.
Als man sich in Europa nach dem Kriegsüberfall Russland auf die Ukraine entschied, kein Erdgas mehr aus Russland zu beziehen, pilgerten die Politikerinnen und Politiker sogleich nach Doha und versuchten, mit den dort Verantwortlichen Verträge für die Lieferung von Flüssiggas auszuhandeln. Aus der Schweiz flog Ueli Maurer, damals noch Finanzminister, im November 2022 nach Qatar – um, wie «admin.ch», das Portal der Bundesverwaltung, mitteilte, mit dem Finanzminister des Golfemirats «aktuelle bilaterale und internationale Themen» zu bereden. Es ging u. a. um Flüssiggas (aber das kann ja nur über Drittländer in die Schweiz gelangen), aber gewiss auch um mehr.
Willkommene Gelder aus Qatar
Qatar war damals noch mit mehr als fünf Prozent an der Crédit Suisse beteiligt (und man wusste wohl schon damals, dass die Bank in schwerer Schieflage war), und qatarisches Geld lag (liegt auch weiterhin) noch gebunden in Investitionen in der Schweiz – in Hotels wie dem Schweizerhof in Bern oder dem Bürgenstock Resort. Und wenn der Genfer Automobilsalon noch gerettet werden kann, dann durch eine Verlegung von der Rhonestadt an den Persischen Golf.
Qatarische Gelder in solchen Bereichen sind hoch willkommen. Trägt diese «Willkommenskultur» aber möglicherweise dazu bei, dass man die Augen verschliesst bei Aktivitäten der «Qatar Charity», einer Organisation, die islamischen Institutionen und Moscheen in der Schweiz finanziell hilft? «Qatar Charity» wird vorgeworfen, sie fördere nur Institutionen, die (so schreibt der französische Islamexperte Georges Malbrunot) «konservativer» seien, als es sich die meisten europäischen Länder wünschten.
Im internationalen Portfolio der Qatar Holding ist die Schweiz allerdings nur ein kleiner Player. Deutschland zum Beispiel ist da schon viel wichtiger: Beteiligungen an der Deutschen Bank, bei Siemens, bei Volkswagen, bei Hapag-Lloyd, und im weiteren Europa etwa bei Glencore, Barclays, am London Stock Exchange. Kommen die finanziellen Engagements im Bereich von internationaler Soft Power hinzu, also an Unternehmen, die keinen direkten finanziellen Gewinn versprechen, aber das Image Qatars aufwerten können: bei Fussballclubs (besser würde man wohl von Fussball-Unternehmen sprechen) wie Paris-Saint-Germain oder Sporting Braga.
Soft Power mittels Al-Jazeera
Und, im Bereich von Soft Power nicht zu vergessen, das Medien-Unternehmen Al-Jazeera, das sein zentrales Studio in Doha hat. Dessen Redaktion konnte einst (aber das liegt lange zurück) in Anspruch nehmen, neben dem US-amerikanischen CNN das weltweit einzige Medium zu sein, das rund um die Uhr Nachrichten vermittelte, die von keiner staatlichen Instanz beeinflusst seien. Die Regierenden in Doha begannen allerdings schon vor rund fünfzehn Jahren, auf die Journalistinnen und Journalisten des Senders so viel Druck auszuüben, dass diese begannen, sich einer gewissen Selbstzensur zu unterwerfen.
Jetzt, beim Gazakrieg, nimmt al-Jazeera in seinen Berichten klar Stellung zugunsten der palästinensischen Bevölkerung (nicht im Sinne von Propaganda für Hamas allerdings) und in den Kommentaren deutlich gegen die Politik und die Strategie der israelischen Regierung. Der Sender ist nach unserem Verständnis gewiss nicht objektiv, aber er vermittelt – weil er immer noch eigene Korrespondenten im Gazastreifen hat – doch direkte Einblicke in eine gewaltige humanitäre Tragödie. Und er ist, im Spiegel der gesamten Medienlandschaft Qatars, immer noch auf einsamer Höhe. Was die Medienfreiheit im Land insgesamt betrifft, liegt Qatar nämlich auf dem unrühmlichen Platz 123 von etwas mehr als 180 beurteilen Ländern weltweit.
Wenn Sie all das gelesen haben – wie denken Sie jetzt über Qatar? Ich will Ihnen meine Meinung nicht vorenthalten: Ein Land mit einer problematischen, eigenwilligen Regierung, der man eine Menge vorwerfen kann (im Vorfeld der Fussball-Weltmeisterschaft wurde in den Medien international die Verletzung der Menschenrechte der Arbeiter angeprangert). Qatar kann man aber bei essentiellen Themen nicht ausgrenzen. Wir alle sind irgendwie abhängig von diesem Land mit nicht mehr als etwa 300’000 Menschen (offiziell hat Qatar gut drei Millionen Einwohner, aber 90 Prozent sind Gastarbeiter). Europa käme ohne Flüssiggas aus Qatar im nächsten Winter nicht über die Runden, und die 240 Geiseln hätten ohne Qatar keine Überlebenschancen.