So erfolgreich, wie das die Putin-Propagandisten und ihre Nachbeter noch im Frühjahr prophezeit haben, kommt die russische «Sommeroffensive» im Osten der Ukraine nicht voran. Im Gegenteil, seit die Waffenlieferungen aus dem Westen wieder zunehmen, verstärken sich die ukrainischen Gegenangriffe auf russischem Gebiet. Moskau spricht von «ukrainischem Terror» und macht dafür auch westliche Regierungen verantwortlich.
Noch im März und April, als die ukrainischen Streitkräfte einen akuten Mangel an Munition für Ihre Artillerie beklagten und ein milliardenschweres Hilfspaket für den Waffennachschub der Biden-Administration im US-Kongress blockiert war, hatten manche Beobachter auch im Westen trübe Perspektiven für den ukrainischen Verteidigungskrieg gegen die russischen Invasoren gezeichnet. Gut zwei Jahre nach dem Beginn von Putins «militärischer Spezialoperation» und nach dem ernüchternden Ergebnis der vielzitierten ukrainischen «Frühjahrsoffensive» vom vergangenen Jahr schienen die Voraussetzungen für einen bedeutenden Vormarsch der russischen Truppen in Richtung Charkiw und anderen Frontabschnitten der Ukraine günstig zu sein.
Stockende russische «Sommeroffensive»
Die Rede war von einer beginnenden russischen «Sommeroffensive» und Putin-Apologeten aus allen möglichen Breitengraden schwärmten bereits von einem baldigen Ende des Krieges angesichts einer sich angeblich definitiv abzeichnen Niederlage der ukrainischen Streitkräfte. Solche Szenarien sind inzwischen weniger im Schwange, seit die westliche Waffen- und Munitionszufuhr für die Ukraine wieder in grosszügigerem Umfang in Gang gekommen ist. Die russische Offensive ist ins Stocken geraten. In der ukrainischen Armee scheint sich neues Selbstvertrauen auszubreiten, seit sie gegen die russischen Invasoren mit verstärkten Waffenarsenalen kämpfen kann.
Vor allem häufen sich in den letzten Wochen die ukrainischen Gegenschläge auf russischem Territorium. Diese Angriffe werden neuerdings auch mit modernen westlichen Lenkwaffen amerikanischer, britischer und französischer Produktion geführt, aber auch mit Hilfe eigener ukrainischer Drohnen, deren Effizienz offenbar markant verbessert worden ist. Die russische Propaganda bezeichnet diese Angriffe auf russischem Gebiet konsequent als «Terrorattacken», ein Begriff der natürlich bei der eigenen Sprachregelung im Zusammenhang mit den seit über zwei Jahren pausenlos geführten Zerstörungsaktionen gegen ukrainische Städte und Dörfer nie verwendet wird.
Putins Pilgerfahrt zum nordkoreanischen Diktator
Der Einsatz moderner Waffensysteme mit grösserer Reichweite gegen Ziele auf russischem Territorium ist von den zuständigen westlichen Regierungen erst vor kurzem teilweise freigegeben worden. Auch dagegen blasen Putins Höflinge verlogenes Empörungsgezeter und dunkle Drohungen in ihre Propagandahörner – und ihre Gesinnungsgenossen im Ausland tönen brav im gleichen Takt. Dass die angegriffene Ukraine das in der Uno-Charta verbriefte Recht hat, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln – inklusive der Hilfe verbündeter Regierungen – zu verteidigen, wird dabei geflissentlich unterschlagen. Ausgeblendet wird ebenso, dass auch die russische Armee mit ausländischen Waffen aufgerüstet wird – wozu der Kremlchef vor kurzem eine devote Pilgerfahrt zum stalinistischen Diktator Kim Jong-un absolvierte.
Die ukrainischen Luftangriffe richten sich zwar gegen teilweise weit verstreute Ziele im gegnerischen Hinterland – von grenznahen militärischen Objekten bis zu Benzinlagern und Flugzeugbasen an der Wolga und gelegentlichen Nadelstichen von Drohnen im Umkreis von Moskau und einmal sogar gegen ein Gebäudedach im Kreml. Doch es sind vor allem zwei Schwerpunkte, die unter Gegenschlägen der Ukraine ernsthaft zu leiden haben: Die Stadt Belgorod, die nur 40 Kilometer hinter der offiziellen ukrainisch-russischen Grenze liegt, und die Halbinsel Krim, die seit zehn Jahren von Russland kontrolliert wird.
Belgorod und die Krim unter ukrainischem Beschuss
Belgorod zählt rund 340’000 Einwohner und liegt auf russischem Territorium 90 Kilometer von der viermal grösseren ostukrainischen Metropole Charkiw entfernt, die seit Beginn des Krieges von Russland mit Raketen und Bomben attackiert wird. Nach einem Bericht des britischen «Economist» sind durch ukrainische Gegenangriffe auch in Belgorod bisher 200 Zivilisten umgekommen und 800 verletzt worden. 26’000 Häuser der Stadt sollen beschädigt sein. Wegen dieser Gefahren sollen viele Schüler der Stadt nur noch online unterrichtet werden und die Bevölkerung wird regelmässig zu Übungen in erster Hilfe aufgerufen.
Militärisch gewichtiger sind die ukrainischen Gegenangriffe auf die Halbinsel Krim. Am vergangenen Wochenende sind in der Nähe von Sewastopol, dem legendären Haupthafen der russischen Schwarzmeerflotte, durch den angeblichen ukrainischen Einsatz moderner amerikanischer Raketensysteme vom Typus ATACMS vier Zivilisten getötet und 150 weitere verletzt worden sein. Der «Economist» schreibt weiter, dass durch die ukrainischen Raketen- und Drohnenangriffe möglicherweise rund die Hälfte der russischen Schwarzmeerflotte ausser Gefecht gesetzt worden sei. Was davon noch einsatzfähig bleibe, sei inzwischen 300 Kilometer weiter in den Hafen von Noworossisk an der russischen Festlandküste verlegt worden.
Revision der Zielvorstellungen im Kreml?
Russische Militäreinrichtungen auf der Krim würden auch durch Sabotageakte einheimischer Aktivisten und verdeckt operierender ukrainischer Sondertrupps gefährdet. Weiterhin bedroht bleibe auch die neue Brücke von Kertsch, die Putin nach der vor zehn Jahren erfolgten Krim-Annexion bauen liess und die die Halbinsel mit dem russischen Festland verbindet. Sollte diese Verbindung tatsächlich zerstört werden, was den ukrainischen Streitkräften vor mehr als einem Jahr schon einmal ansatzweise gelang, würde die Versorgung der russischen Truppen auf der Krim in grösste Schwierigkeiten geraten.
Gewiss bleibt die Ukraine durch den russischen Angriffskrieg weiterhin aufs Schwerste bedrängt und muss um ihre Existenz kämpfen. Putin leugnet grundsätzlich deren staatliche Eigenständigkeit, obwohl Moskau nach dem Kollaps der Sowjetunion diese in aller Form und durch zahllose Verträge anerkannt hatte. Doch dank aufgestockter Waffenhilfe aus dem Westen ist sowohl die Widerstandskraft der ukrainischen Verteidigung sowie deren Fähigkeit, dem Angreifer auch auf dessen eigenem Territorium empfindliche Schläge zuzufügen, offenbar gestärkt worden. Das könnte auch im Kreml die Einsicht reifen lassen, dass die bisherige Vorstellung, den Krieg erst zu beenden, wenn die Ukraine einen Diktatfrieden akzeptiert, auf den Putins Verhandlungsbedingungen hinauslaufen, revidiert werden muss.