«Kiew und die grossen Städte sind zur Zeit nicht unser vorrangiges Ziel», erklärte die russische Militärführung am Freitag. «Wir werden uns zunächst auf den Krieg im Osten der Ukraine beschränken.» Ist Putin zur Einsicht gelangt, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann? Wird er sich dann doch bald einmal zurückziehen? Die Gefahr ist gross, dass dem nicht so ist.
Die Russen werden sich jetzt neu formieren, neue Kräfte ins Land holen, neue Offensiven starten. Und die Ukrainer werden sich wie bisher tapfer wehren. Biden hatte sicher recht, als er am Samstag in Warschau sagte: «Wir müssen uns für den langen Kampf wappnen.»
Doch es geht Putin nicht nur um die Ukraine. Es geht ihm um sehr viel mehr.
Die Ukraine ist für ihn nur eine erste Beute, um das «Grosse Russland» wieder zu errichten. Er will dem – seiner Ansicht nach – «geschändeten» Land wieder seinen historischen Platz in der Welt zurückgeben und die Dominanz des Westens brechen.
In einem Artikel des russischen Historikers Pjotr Akopow, einer Art Mastermind von Putin, heisst es: Nach dem Krieg werde es «weder die Ukraine noch Russland, so wie es heute ist, geben». Die «postsowjetische Übergangszeit sei vorbei», schreibt Akopow. «Wir fangen an, ein gerechtes, solidarisches Russland aufzubauen.»
Er spricht von einer neuen Weltordnung. «Unser Denken muss russozentrisch werden ... Der Geist der russischen Geschichte, der Geist unserer Vorfahren gibt uns die Chance, den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht nur zu sühnen, sondern ihn durch Schöpfung, durch die Wiedergeburt eines grossen Russlands zu korrigieren.» Akopow schrieb diesen Artikel für die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti.
Um dieses neue, grosse Russland wieder herzustellen, brauche es die Ukraine. «Auf die Ukraine zu verzichten hiesse, dass Russland Verrat an allem übt, was die Grundlagen der russischen Zivilisation und seinen Nationalcharakter ausmacht. Auf die Ukraine verzichten, hiesse – dass Russland aufhört zu existieren.»
Man mag solche Aussagen als Elaborat eines Durchgeknallten betrachten. Doch das Schlimme ist: Putin ist genau dieser Meinung. Putin sagt, dass die «jetzigen Ereignisse einen Schlussstrich unter die globale Dominanz der westlichen Staaten ziehen».
Nicht genug: Das «neue, grosse Russland» wird keine «dekadente Demokratie» nach westlichem Vorbild sein. Akopow zitiert Putin, der von «einem notwendigen Prozess der Selbstreinigung der russischen Gesellschaft» spricht.
Putin und Akopow lassen durchblicken, dass verschiedene Meinungen im neuen Staat nicht gefragt sind, oder vielmehr: andere Meinungen werden mit allen Mitteln unterdrückt werden. Nawalny ist nur ein Beispiel dafür. Biden hatte recht, als er am Samstag sagte, unter Putin falle Russland ins 19. Jahrhundert zurück.
Putin, so Akopow, habe «die historische Verantwortung übernommen, die Lösung der ukrainischen Frage nicht späteren Generationen zu überlassen». Sprüche von «historischer Verantwortung» hörte man in Europa auch in den Zwanziger-, Dreissiger und Vierzigerjahren. Es gibt Kommentatoren, die sagen, Putins neues, chauvinistisches Russland werde klar «faschistische Züge» tragen. Benito Putin? Wladimir Mussolini?
Um sein grosses Ziel zu erreichen, lässt sich Putin nicht von einigen Rückschlägen, von einigen logistischen Problemen in der Ukraine beirren. Putin hat Zeit. Er lässt sich auch nicht vom Vorwurf beirren, er sei ein «Schlächter» und ein Kriegsverbrecher. Dass er über Leichenberge gehen kann, hat er schon in Tschetschenien, Georgien und Syrien bewiesen. Ein Putin lässt sich nicht von der internationalen Gemeinschaft stoppen, von einer Uno, vom internationalen Völkerrecht.
Könnte Putin von eigenen Leuten gebremst oder gar gestürzt werden? Die Meinungen gehen auseinander. Viele sagen, sein Machtapparat sei derart auf ihn zugeschnitten, dass er auch eine vorläufige Teilniederlage in der Ukraine überleben würde.
Putin kann warten. Er weiss, dass das neue grosse Russland nicht von heute auf morgen zu erreichen ist. Obsessiv wird er für die Verwirklichung seiner Lebensaufgabe kämpfen. Putin ist zu weit gegangen, er kann nicht mehr zurück. Solange er lebt, wird er diesen «heiligen Krieg» weiterführen. Putin ist 69. Mit 69 lebt man noch lange.