Es wäre eigentlich angebracht, den unseligen Beschluss der Stimmbürger der Bündner Gemeinde Bergün und dessen nachträgliche Entlarvung als Werbegag dort zu lassen, wo er sich – wie alle Gags dieser Art – von selbst rasend schnell hinbewegt hat, nämlich ins Reich der vergessenen Eintagsnachrichten. „Wir möchten die Menschen ausserhalb der Gemeinde nicht mit Fotos unglücklich machen und laden sie herzlich ein, Bergün zu besuchen“, begründete der Gemeindepräsident Peter Nicolay den Beschluss der Gemeindeversammlung. Die Gemeinde behalte sich vor, bei Zuwiderhandlung eine Busse von fünf Franken zu erheben.
Schidbürgerstreich
Als Ferienhausmitbesitzer in dieser tatsächlich mit allen Schönheiten der Natur gesegneten Gemeinde im Albulatal hatte ich mich über diesen Unsinn geärgert. Aber nachdem nur wenige Tage später verkündet wurde, der Gemeindepräsident hätte das Verbot „grosszügig“ wieder aufgehoben, war für mich die Sache abgetan und schon fast vergessen.
Heute bin ich nicht mehr so sicher, ob man so einfach zur Tagesordnung übergehen kann und der Bergüner Schildbürgerstreich nicht eines zweiten Gedankens wert wäre. Am vergangenen Samstag fand nämlich im Ortsmuseum Bergün die Jahresversammlung der Interessensgemeinschaft der „Auswärtigen Liegenschaftsbesitzenden Bergün/Bravuogn“ (ALB) statt. Der Verein wurde vor zwei Jahren mit dem Ziel gegründet, „das Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen der einheimischen Bevölkerung von Bergün/Bravuogn und den auswärtigen Grundbesitzern zu fördern“, wie es in den Statuten steht. Vereine mit ähnlicher Zielsetzung sind in den letzten Jahren in vielen Schweizer Tourismusgemeinden entstanden, ganz besonders im Kanton Graubünden. Diese Gründungen müssen als Indikator gewertet werden, dass vielerorts das Verhältnis zwischen den lokalen Behörden und den auswärtigen Liegenschaftsbesitzern in den letzten Jahren gelitten hat – aus welchen Gründen auch immer –, und auf beiden Seiten ein gewisser Argwohn herrscht.
In den Schlagzeilen
Im Sinne des angestrebten Dialogs wäre es sicher nützlich gewesen, wenn die Teilnehmenden der Jahresversammlung mit dem Gemeindepräsidenten über offene Fragen, insbesondere auch über das Bergüner Fotografierverbot, hätten reden können. Doch leider hatten sich sämtliche Mitglieder des Gemeindevorstandes entschuldigen lassen. Immerhin erfuhren die Anwesenden, dass die Idee für den Werbegag von jener renommierten Werbeagentur stamme, welche mit den Steinbock-Spots Werbung für Tourismus Graubünden mache. Bergün hatte sich (offenbar als einzige Gemeinde im Kanton) bereit erklärt, sich für diese Aktion zur Verfügung zu stellen, weil sie sich erhoffte, damit in die globalen Schlagzeilen zu kommen. Was dann auch geschah, wie eine Bergünerin am Samstag voller Stolz erklärte. Mit solchen Aktion würde man, so hiess es, auch die Jungen erreichen.
Tatsächlich, zumindest für 24 Stunden lang, war Bergün weltweit in den Schlagzeilen. Doch wenn es nur um die mediale Aufmerksamkeit ginge, könnte man die Sache einfacher und billiger haben. Erinnern wir uns doch einfach an die Geschichte eines Stadtpräsidenten einer Kleinstadt zwischen Zürich und Bern. Auf das Wie kommt es bei den Schlagzeilen wohl auch noch ein bisschen an. Diesbezüglich wird die Bergüner Aktion wohl kaum zusätzliche Touristen anlocken, im Gegenteil, man rieb sich allenthalben die Augen über soviel Unsinn. Dabei könnte der stagnierende Tourismus in Bergün – im ganzen Kanton Graubünden – einige zusätzliche Gäste durchaus gebrauchen.
Grenzverletzung
Doch ein verunglückter Werbegag allein wäre keinen Artikel wert. Das Bergüner Fotografierverbot wirft eine viel grundsätzlichere Frage auf als diejenige nach guter beziehungsweise schlechter Werbung. Halten wir fest: Die Gemeindeversammlung von Bergün, also der Souverän auf Gemeindeebene, gewissermassen der heilige Gral unserer direkten Demokratie, stimmt mit 46 gegen 2 Stimmen für ein Fotografierverbot auf Gemeindegebiet. Ich weiss zwar nicht, wie der Gemeindevorstand seinem Souverän sein Anliegen begründet hat. Es scheint aber, dass niemand die offensichtlichen Fragen gestellt hatte, zum Beispiel diejenige nach der rechtlichen Grundlage eines solchen Beschlusses oder die Frage nach der Durchsetzbarkeit.
Ferner: Ein paar Tage danach hebt der Gemeindepräsident den Beschluss wieder auf, obschon er dazu gar nicht berechtigt gewesen wäre. Was muss man daraus schliessen? Heisst das nun, dass Gemeindeversammlungen inzwischen Teil unserer Spassgesellschaft geworden sind und man deren Beschlüsse nicht wirklich ernst nehmen müsse? Wollen wir damit zum Ausdruck bringen, dass unsere staatliche Ordnung nichts anderes ist als eine wunderbare Maschine, mit der man, je nach Lust und Laune, dieses oder jenes in die Welt setzen und die Menschen zum Lachen oder Fluchen bringen kann? Erinnert uns diese Botschaft nicht beängstigend an jene schrillen Töne, welche seit Monaten über den Ozean tönen?
Auch in der Werbung muss es Grenzen geben, nicht nur die Gürtellinie, sondern auch eine des Respekts vor jenem fein gewachsenen politischen Gefüge, welchem wir in der Schweiz viel zu verdanken haben. Werbegags der Bergüner Art untergraben das Vertrauen in unsere politischen Institutionen, und diese haben es auch ohne solche Aktionen in der heutigen Zeit schon schwer genug. Hände weg vor solchen Spielen!