Es gibt Wahrheiten, ausgesprochen von hochrangigen israelischen Politikern, die in der Dauerdebatte über die „Sicherheit Israels“ schlicht nicht zur Kenntnis genommen werden. So stellte der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin am 28. Mai 2015 klipp und klar fest: „Es gibt keine existentielle Bedrohung auf militärischem Gebiet ...“
Flüchtige Bündnisse
Mit dieser Aussage findet sich Reuven Rivlin sowohl im Einklang mit Stellungnahmen arabischer Politiker, als auch im weitgehenden Einklang mit der politischen und militärischen Situation in der nahöstlichen Region. Als etwa der Autor dieses Beitrages Anfang der zweitausender Jahre mehrfach den jordanischen Politiker Marwan Kassem (unter anderem einst Berater des jordanischen Königs) besuchte, fragte Marwan Kassem, ob es wirklich realistisch sei zu glauben, dass arabische Politiker der Gründung eines palästinensischen Ministaates zustimmen würden. Ein solcher Staat auf engstem Territorium liege doch nicht im Interesse arabischer Politik. Das wisse auch Jassir Arafat. Eine Bedrohung durch einen palästinensischen Staat bestehe für Israel also nicht.
Ein anderes Beispiel: Nachdem Adil Yahya, Teilnehmer an der ersten Intifada, später Leiter der palästinensischen Kulturorganisation PACE (Palestinian Association for Cultural Exchange) von einem Besuch im Irak Saddam Husseins zurückgekehrt war, gab er seiner Enttäuschung gegenüber dem Autor dieser Zeilen deutlichen Ausdruck: Irakische Politiker hätten ihm und seinen Begleitern unumwunden gesagt, Palästina spiele in der Propaganda des Iraks zwar eine grosse Rolle, aber die Palästinenser sollten nicht erwarten, dass der Irak ihnen tatsächlich politische oder gar militärische Hilfe gewähren würde.
Harmlose Nachbarn
Und schliesslich: Nach der irakischen Invasion Kuwaits im Jahr 1990 schickte eine internationale Koalition unter Führung der USA und ihres Präsidenten George H. W. Bush eine Streitmacht an den Golf. Oberbefehlshaber Norman Schwarzkopf liess von Ende Januar bis fast Ende Februar 1991 den Irak bombardieren – angeblich nur militärische Ziele. Es ging auch darum, den Irak so zu schwächen, dass er als Konkurrent und Bedrohung Israels für viele Jahre ausgeschaltet sein würde. Die Irakinvasion der USA im Jahr 2003 schwächte dann den Irak so, dass er bis heute, fünfzehn Jahre später, ein staatliches und gesellschaftliches Wrack ist.
Heute sieht die Umgebung Israels so aus: Die Nachbarn Ägypten und Jordanien haben Friedensverträge mit Israel geschlossen; Syrien ist zerstört, der Irak droht zu zerfallen, Saudi Arabien ist mit Israel in einer De-facto-Allianz gegen den Iran verbunden. Die Hamas (arabisches Akronym für Islamische Widerstandsbewegung) kann ein paar Raketen auf Israel schiessen, aber die Existenz Israels kann sie nicht bedrohen. Die Hisbollah hat zwar Hunderte, wenn nicht Tausende Raketen auf Israel gerichtet, kann aber die Existenz des Staates ebenso wenig in Frage stellen. Der Iran baut zwar seine Stellung in der Region aus, ist aber trotz der politischen Schaueinlage von Israels Premier Benjamin Netanjahu, welche eine illegale iranische Atombewaffnung beweisen sollte, kein ernsthafter Gegner Israels. Israel ist militärisch zu stark, und das, was im Allgemeinen „Internationale Gemeinschaft“ genannt wird, würde eine Zerstörung Israels – zu Recht – nicht zulassen.
Keine Gefährdung
Schliesslich könnte sich Israel den Iran ein für allemal als Feind vom Leibe halten, wenn es die mehr als ein halbes Jahrhundert dauernde Besatzung palästinensischen Gebietes aufgeben würde. Dafür aber bedürfte es eines Staatsmannes vom Schlage Charles des Gaulles, der im Jahr 1962 gegen heftigsten politischen Widerstand den mörderischen Algerienkrieg und somit die Besetzung des Landes beendete. Eine solche politische Persönlichkeit ist in Israel aber nicht in Sicht.
Zurück zum eingangs erwähnten Satz von Reuen Rivlin, in dem er bestätigt, Israel sei militärisch in seiner Existenz nicht gefährdet. Das Zitat hat eine Fortsetzung. Insgesamt lautet es: „Es gibt keine existentielle Bedrohung auf militärischem Gebiet, aber es gibt BDS.“
Was aber ist BDS? Die Abkürzung steht für die englischen Worte „Boykott, Desinvestment, Sanctions“. Zwei mutige Israelis haben ein Buch über BDS geschrieben, das jetzt auf deutsch im Promedia-Verlag, Wien erschienen ist. Eyal Sivan ist Filmemacher und Regisseur, Armelle Laborie ist Produzentin von Dokumentarfilmen. Im Anhang ihres Buches ist der Text der BDS-Kampagne – veröffentlicht 2004, überarbeitet 2008 – im (deutschen) Wortlaut wiedergegeben.
In Kurzfassung: Weil die „militärische Besatzung und Kolonisierung des Westjordanlandes (einschliesslich Ostjerusalems) und des Gazastreifens ... gegen das Völkerrecht und UN-Resolutionen“ verstosse; weil die Gründung Israels „Wellen ethnischer Säuberung und Enteignung“ (von Palästinensern) mit sich gebracht habe; weil die Besetzung und Kolonisierung des Westjordanlandes und Gazas gegen das Völkerrecht verstosse, „rufen wir, palästinensische AkademikerInnen und Intellektuelle, unsere KollegInnen in der Internationalen Gemeinschaft auf ... alle akademischen und kulturellen Institutionen umfassend und lückenlos zu boykottieren ...“
Kultureller Boykott
Zunächst einmal: BDS ist kein Boykott gegen Juden oder gar gegen „die Juden“. Es ist ein Boykott, in der Tat, der gegen Israel und viele seiner Institutionen gerichtet ist. Dieser Boykott soll aber in dem Moment aufgehoben werden, in dem Israel die Besatzung beendet, und in dem, wie es in dem Aufruf heisst, „Israel seiner Verpflichtung nachkommt, das unveräusserliche Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung anzuerkennen, und den Bestimmungen des Völkerrechts vollständig nachkommt ...“
Was wohl niemand so erwartet hatte: Der akademische Boykott zeigt Wirkung. Staatspräsident Reuven Rivlin sagte am 28. Mai 2015: „Ich dachte nicht, dass die israelischen Universitäten ernsthaft bedroht wären. Doch das Klima weltweit hat sich geändert, und es ist daher unmöglich, dieses Problem nicht als eine strategische Bedrohung ersten Grades anzusehen.“ Eyal Sivan und Armelle Laborie beschreiben, warum, ihrer Meinung nach, die BDS-Kampagne bisher so erfolgreich sei: „Der kulturelle Boykott findet in dem Mass Verbreitung, wie die Siedlungspolitik und die Militäroperationen, die Bombardierungen, Landkonfiszierungen, Massenverhaftungen und die rassistischem Gesetze ... voranschreiten.“
Ethisch fundierte Mauer
Wie sehr sich Israel durch BDS in die Defensive gedrängt sieht, zeigen die Gegenmassnahmen, welche das Land getroffen hat – und die für alle neuen Regierungen, die nach Wahlen ins Amt kommen, gelten. Das Stichwort heisst Hasbara – was so viel wie öffentliche Diplomatie bedeutet. Diese Diplomatie sei, sozusagen, generalstabsmässig organisiert.. Die Hasbara-Kampagne unterstehe direkt dem Premierminister. Dieser koordiniere das Hasbara-Forum, in welchem Sicherheits- und Geheimdienste, das Aussenministerium, das Ministerium für Diaspora-Angelegenheiten sowie das Ministerium für Strategische Angelegenheiten vertreten seien. Hasbara sei, heisst es in der Studie der beiden Israelis, „ein Massnahmenpaket, das die israelische Politik erklären, Elemente der Überzeugung von GegenerInnnen liefern, den Zögernden helfen soll, die Bösen im Israel/Palästinakonflikt zu erkennen. Sie hat auch die Aufgabe, die Kritik an Israel in der Welt zum Schweigen zu bringen“. Jahresetat für alle Hasbara-Aktivitäten: umgerechnet zwanzig Millionen Euro.
Dass BDS funktioniert, müssen Israel und die Palästinenser zuweilen gleichermassen schmerzhaft erfahren – wenn auch auf vollkommen verschiedene Weise. Da ist zum Beispiel der Palästinenser Jamal Juma, einer der Organisatoren der BDS-Kampagne.
Im Rahmen dieser Kampagne sei es ihm gelungen – wie er dem Autor dieses Berichtes darlegte – die Verwalter des norwegischen Staatspensionsfonds davon zu überzeugen, die Einlagen des Fonds aus der israelischen Rüstungsfirma Elbit zurückzuziehen. Jamal Juma argumentierte, Elbit baue Überwachungsanlagen und Sicherungssysteme für die Trennmauer und den elektronisch gesicherten Sperrzaun. Die Norweger folgten den Argumenten Jamal Jumas. Bau und Verlauf der Mauer, so argumentierten die Norweger, seien mit den ethischen Grundsätzen ihres Landes nicht zu vereinbaren.
Die Angst des Häftlings
Für Israel war der norwegische Rückzug sicher ein Warnzeichen und eine Niederlage im Kampf gegen BDS. Jamal Juma allerdings musste einen hohen Preis bezahlen. Es war auch diese Aktivität, welche Israel veranlasste, Jamal Juma zu verhaften. Jamal Juma sass knapp einen Monat in israelischer Internierungshaft. Hier ein Zitat aus dem Bericht über seine Haft, der dem Autor dieser Zeilen vorliegt:
„Ich wusste nie, wann man mich zum Verhör bringen würde. So verbringt man jede Minute mit dem Gedanken, wann sie wohl kommen würden. Immer wenn ich eine Tür oder klirrende Ketten hörte, dachte ich, sie würden zu mir kommen. Wenn sie kommen, sind sie grob. Man befahl mir, aufzustehen, meine Jacke anzuziehen, dann wurden Arme und Beine gefesselt, meine Augen wurden verbunden. Eine Wache zog mich am Kragen voran, eine andere schob von hinten. Jedes Mal ist es dasselbe. Der Gefangene wird auf das Pult geworfen, der Verhörende sitzt an dem Pult gegenüber mit einem Computer. Meine Arme wurden zurückgestreckt und mit einer Kette am Boden hinter dem Stuhl befestigt. Diese unkomfortable Situation muss man manchmal stundenlang ertragen. Abhängig von der Stimmung des Verhörenden kann das eine Stunde dauern, manchmal zwölf.“
Zionismus und Semitismus
Eyal Sivan und Armelle Laborie wenden sich am Schluss ihres Buches gegen die weit verbreitete Vorstellung, die BDS-Kampagne sei antisemitisch. Tatsächlich hilft aus dieser auch politisch motivierten Aussage ein kurzer historischer Exkurs. Der Zionismus entstand Ende des 19.Jahrhunderts als Reaktion auf den europäischen Antisemitismus. Zionismus ist eine Bewegung, die eine Ansiedlung von Jüdinnen und Juden in Palästina zum Ziel hatte. Aber nicht alle Juden waren auch Zionisten. Eyal Sivan und Armelle Laborie schreiben: Tatsächlich hätten es seinerzeit Millionen von Juden und Jüdinnen weltweit abgelehnt, den Plan der Gründung eines jüdischen Staates zu unterstützen. „Wer behauptet, der Antizionismus sei Antisemitismus behandelt die Millionen antizionistischer Juden/Jüdinnen, die in Europa gelebt haben, ... als AntisemitInnen. Der jüdische Antizionismus war ausserhalb Europas ebenso verbreitet, denn die meisten Juden/Jüdinnen der arabisch-muslimischen Welt waren ebenfalls keine ZionistInnen.“
Wer, so argumentieren Eyal Sivan und Armelle Laborie weiter, in der BDS-Kampagne „den Willen zur Zerstörung Israels sehe, verwechsle mutwillig die Zerstörung des Regimes mit der Vernichtung der Bevölkerung“. Schliesslich habe der Untergang des Apartheid-Regimes in Südafrika oder das Ende des Sowjetstaates nicht die Vernichtung der südafrikanischen Bevölkerung bzw. der Völker der ehemaligen Sowjetunion mit sich gebracht.
Strategische Bedrohung
Eyal Sivan und Armelle Laborie bezeichnen die BDS-Kampagne als ein Instrument, das keine zentrale Institution und keinen Chef habe, eine weltweite, vielverzweigte Bewegung sei und seine „Ausbreitung den Hunderten von weltweit stattfindenden Initiativen Veranstaltungen und Aktionen, die die öffentliche Meinung beeinflussen“ verdanke.
In dieser dezentralen Arbeitsweise liegt vermutlich der Grund dafür, dass die BDS-Kampagne für die israelische Regierung trotz ihres mit 20 Millionen Euro dotierten Hasbara-Jahresbudgets so schlecht zu fassen ist und, nach den Worten von Staatspräsident Reuven Rivlin, eine „strategische Bedrohung“ darstellt.
Eyal Sivan/Armelle Laborie: Legitimer Protest – Plädoyer für einen kulturellen und akademischen Boykott Israels. Promedia Verlag, Wien 2018. 184 Seiten. Aus der französischen Originalausgabe von 2016 übersetzt von Birgit Althaler.
Eine Unterscheidung zwischen Zionismus und Antisemitismus nimmt auch David Ranan in seinem Buch „Muslimischer Antisemitismus“ vor.. Verlag J. H. W.Dietz Nachf., Bonn 2018.