Gewagter lässt sich eine Rede kaum beginnen. Er wolle eine “Verwunderungsübung“ abhalten. Ihm gehe es darum, „der abgründigen Erstaunlichkeit zeitgenössischer Lebensformen etwas besser gerecht zu werden“, erklärte Sloterdijk seinen Zuhörern in der „Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit“ im April 2011 im Rahmen der „Berliner Reden“. Kein präsidialer „Ruck“ also, sondern Verwunderung. Am Ende allerdings dürfte doch ein gehöriger Ruck durchs Publikum gegangen sein. Und zwar anlässlich der Kritik Sloterdijks am zeitgenössischen Liberalismus. Aber der Reihe nach.
Warum ist unsere Gesellschaft derartig fragil, wie Sloterdijk konstatiert? Weil ihre „Mitglieder mehrheitlich der Überzeugung sind, ihre eigene Existenz sei letztlich um eine Dimension wirklicher als alles, was sie auf der Seite des Kollektivs umgibt.“ Dass der Einzelne zuerst an sich denkt, ist eine Tatsache, die auf den ersten Blick wenig Anlass zum Staunen gibt. Um zum Verwunderlichen daran vorzustossen, legt Sloterdijk zwei geschichtliche Wurzeln für diesen Individualismus frei.
Auf dem Bieler See
Zum einen bezieht er sich auf eine Erzählung von Titus Livius, in dem dieser die Rebellion der Römer gegen die etruskisch-tarquinische Königsherrschaft schildert. Diese Rebellion fand im Jahre 509 v. Chr. statt und markiert in Sloterdijks Augen den Beginn politischer Rebellionen aus dem Motiv der „ethnischen Schliessung in sich selbst“.
Das ist aber nur der Take-Off zum nächsten und entscheidenden Schritt, der wesentlich später, nämlich 1765, auf Schweizer Boden, besser: auf einem Schweizer See stattfand. Jean-Jacques Rousseau, der berühmteste und auch umstrittenste politische Philosoph seiner Zeit, zog sich vor Anfeindungen zusammen mit seiner Lebensgefährtin Marie-Thérèse Le Vasseur für einige Wochen auf die fast menschenleere Insel St. Pierre auf dem Bieler See zurück. In einem Ruderboot war er einmal ganz für sich und träumte vor sich hin.
Heute würde man sagen: Er meditierte und hatte völlig unbeabsichtigt das Gefühl der Losgelöstheit. Zeit und Sorgen spielten keine Rolle mehr und er hatte „ein wertvolles Empfinden von Frieden und Zufriedenheit“, wie er im „Fünften Spaziergang“ seiner „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“ von 1776/77 notierte. Damit tritt für Sloterdijk „das moderne Individuum auf die Bühne“.
Was nicht sein darf
Was ist daran modern und buchstäblich weltbewegend? Es ist die Entdeckung der Rückzugsmöglichkeit aus der bedrückenden Realität. Das Volk kann gegen ungerechte Herrschaft rebellieren, der Einzelne kann sein Glück in sich selber finden, indem er „die Flucht aus dem Belastungskollektiv“ antritt. „Im Individualismus ist jeder Einzelne eine Parallelgesellschaft.“
Das aber darf nicht sein. Denn die Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn sich jeder Einzelne vorbehaltlos einspannen lässt. Wie geschieht das? In einer starken Gegenbewegung zu Rousseau haben Philosophen wie Kant – der übrigens in Rousseau einen „zweiten Newton“ sah – über Hegel bis Marx die Notwendigkeit für das Individuum aufgewiesen, sich in der Wirklichkeit zu verankern und diese zu gestalten. Entscheidender noch ist aber die Tatsache, dass die moderne Gesellschaft mit ihren Medien einen ständigen Erregungszustand erzeugt, ständig neue Sorgen thematisiert und neue Empörungen hervorruft, die die Individuen wie von selbst ins Kollektiv zwingen. Das ist der Stress.
Der exemplarische Taugenichts als Leitfigur
Die Gesellschaft hält sich durch Erregung zusammen. Dieser Zustand ist aber fragil oder, wie Sloterdijk sagt, „unwahrscheinlich“. Der inflationäre Gebrauch des Wortes „nachhaltig“ deute auf das Mass der gegenwärtigen Unsicherheit hin. Denn trotz aller Bemühungen der Philosophen und Propagandisten in Presse und Politik sei es nicht gelungen, die Abstrahlung „anarchischer Subjektivität in die Umwelt“, die Gefahr einer „Kettenreaktion“, die „die gesamte Gesellschaft verstrahlen könnte“ zu eliminieren. Das liege auch daran, dass die Moderne als „Aufstand gegen die Tyrannei des Realen“ ständig daran arbeite, den Menschen mittels Wissenschaft und Technik von den Nöten und Sorgen der Realität Stück für Stück zu befreien.
Das Programm der „Eroberung der Sorglosigkeit“ kann also jederzeit dazu führen, dass der „exemplarische Taugenichts“ mit seiner „ekstatischen Unbrauchbarkeit“ zu einer Leitfigur wird, die das Gemeinwohl untergräbt oder, wie bei Samuel Beckett, auf den Sloterdijk ausführlich Bezug nimmt, dem gesellschaftlich vorgeformten Leben gegenüber eine Verweigerungshaltung einnimmt. Wie aber gelingt es, ohne künstlich erzeugten „Tonus“ der Gesellschaft, aus dem „Migrationshintergrund“ wissend und wollend in die Gesellschaft zurück zu kehren?
Frei für das Besserere
Das gelinge in einem frei gewählten Engagement aus dem Geist der Vornehmheit. Denn die wahre Freiheit richte sich gegen die „Gemeinheit“: „In Wahrheit ist Freiheit nur ein anderes Wort für Vornehmheit, das heisst für die Gesinnung, die sich unter allen Umständen am Besseren, am Schwierigeren orientiert, eben weil sie frei genug ist für das weniger Wahrscheinliche, das weniger Vulgäre, das weniger Allzumenschliche.“
Entsprechend müsse es zu „einer intellektuellen Regeneration des politischen Liberalismus kommen.“ Der Liberalismus müsse wieder lernen, „dass Menschen nicht nur habenwollende, giergetriebene, süchtige und brauchende Wesen sind, die freie Bahn für ihre Mangelgefühle und ihren Machthunger fordern.“ Nie zuvor habe der Liberalismus eine „so niederträchtige Konnotation angenommen wie in den letzten Jahren.“ Die „wahren Liberalen“ würden sich am Menschen als offenem Wesen mit „Möglichkeitssinn“ orientieren: „Sie erinnern uns daran, dass wir nicht wissen können, was alles noch möglich wird, wenn Menschen Wege finden, sich aus den kollektiv verfertigten Zwangskonstruktionen zu lösen.“
Mit wenigen kraftvollen Strichen ist es Peter Sloterdijk gelungen, aus philosophischer Sicht ein wirklich überraschendes Bild von der Gesellschaft zu malen. Er ist ein Meister der kleinen Form und ebenso souverän im grossen Opus. Was genau meinte er am Ende seiner Rede mit den „kollektiv verfertigten Zwangskonstruktionen“? Und wie lässt sich die „Orientierung am Möglichkeitssinn“ genauer beschreiben? Antworten auf diese Fragen hat Sloterdijk im Jahre 2009 vorgelegt, diesmal auf 700 Seiten: „Du musst Dein Leben ändern. Über Anthropotechnik“.
Peter Sloterdijk, Stress und Freiheit, Sonderdruck edition suhrkamp, Berlin 2011, 61 Seiten