Wenn die oberste Führungsebene eines Grosskonzerns ein Schuldeingeständnis unterschreibt, rechtlich massive Verfehlungen begangen zu haben und gleichzeitig eben diese Personen öffentlich erklären, dass sie persönlich keine Schuld für das „kriminelle“ Verhalten trügen, sondern eine „weisse Weste“ hätten, dann stösst die reine Vernunft – die sich nach den allgemein anerkannten logischen Grundsätzen richtet und mit welcher Denk- und Verhaltensweisen, basierend auf einer gemeinschaftlichen Konvention, als stringent, also schlüssig, sinnvoll und damit rational beurteilt werden – an ihre Grenzen.
Es folgt auf dem Fusse eine weitere Erklärung, die die so entstandene kognitive Dissonanz aufheben sollte: „Wir hatten interne Regeln, dass wir uns an die Rechtsordnung anderer Staaten halten“. Der Verwaltungsratspräsident zeigt sich enttäuscht, dass diese Regeln nicht eingehalten worden sind. Allein die Tatsache also, dass Regeln bestehen, entbindet die Konzernleitung davon, für das massive Fehlverhalten ihrer Untergebenen Verantwortung zu übernehmen, obwohl sie schriftlich ein Schuldeingeständnis abgegeben hat? Und obwohl die Aufsichtsbehörde (Finma) festgestellt hat, dass es zwar entsprechende Regeln gegeben habe, die Risiken aber weder genügend erfasst begrenzt und überwacht worden seien und deshalb rechtliche Risiken und ein daraus folgender Reputationsschaden in Kauf genommen wurden.
Irritierende Argumentationslinie
Dieses Verhalten führte schliesslich tatsächlich und kausal zu materiellem und immateriellem Schaden. Trotz dieser Tatsachen, interpretiert die oberste Führung die Übernahme von Verantwortung für die widerrechtlichen Handlungen mittels einem geistigen Looping wie folgt: „Wir übernehmen die Verantwortung insoweit, indem wir die Bank durch diese schwierige Phase geführt haben und weiter führen.“
Jetzt ist also erst recht der Verbleib in deren Position nötig! Denn wer anders als die bisherige oberste Führungsebene, könnte eine Unternehmung in einer solch schwierigen Lage noch führen? Die Chefposition wird also vor allem dann als sinnstiftend und gerechtfertigt angesehen, wenn massives Fehlverhalten von Untergebenen vorliegt und die Unternehmung sich in einer Imagekrise befindet.
Ist es möglich, dass die horrenden Lohn- und Bonussummen in den höchsten Chefetagen gerade im Hinblick auf das „Führen durch solche schwierigen Phasen“ gerechtfertigt werden? Weil die Übernahme einer solch grossen Verantwortung erstens absehbar und wahrscheinlich und zweitens enorm schwierig und belastend ist? Die Argumentationslinie über Verantwortung und Schuldlosigkeit der obersten Führungsetage wurde von Teilen der Öffentlichkeit mit einer gewissen Irritation aufgenommen und nicht für plausibel gehalten.
Nicht delegierbare Verantwortung
Wie sind die Aussagen nach unterzeichnetem Schuldeingeständnis, „persönlich eine weisse Weste zu haben“ und die „Verantwortung zu übernehmen, indem wir die Bank (…) weiter führen“, mit gesellschaftlich allgemein anerkannten logischen Kriterien zu vereinbaren?
Hierzu können wir uns verschiedene Hypothesen vorstellen. Die naheliegende ist jene, dass die oberste Führungsebene sich mit zahlreichen Geschäften zu beschäftigen hat, sich auf Reisen und demnach kaum am Ort der Handlungen aufhält und deshalb tatsächlich keine Ahnung hat, was sich auf der zweiten oder dritten Führungsebene abspielt. Dennoch sagt uns unsere Ratio, die sich auch in der allgemeinen Führungslehre widerspiegelt, dass es eine nicht delegierbare Verantwortung gibt. Welche Verantwortung aber ist delegierbar und welche nicht?
Gehören Verantwortlichkeiten für begangene systematische Rechtsverletzung, mangelnde Kontrolle bzw. Risikobegrenzung zu jener Gruppe Verantwortung, die gerade nicht delegiert werden kann? Wird nicht gerade dadurch eine Besserbezahlung gerechtfertigt? Müsste die oberste Konzernleitung nicht die Verantwortung auch für nicht eigenhändig begangene rechtlich gravierende Verfehlungen übernehmen, auch wenn sie davon keine Kenntnis gehabt hat? Nämlich weil es sich nicht um eine von einer einzigen Person und einmalig begangene Straftat, sondern um systematische Rechtsverletzungen von Personengruppen handelt, die nicht genügend kontrolliert worden sind.
Abwesenheit vom Arbeitsplatz: Garantie für "nicht schuldig"
Diese Ansicht teilen offenbar nur einige von uns. Jene Führungskräfte hingegen sind der Ansicht, dass eine solche Verantwortung sehr wohl delegierbar ist und sie im Grunde nur für eigene widerrechtliche Handlungen haftbar gemacht werden können. Deshalb bezeichnen sie sich als nicht schuldig.
Sie können allerdings nur „nicht schuldig“ im ethischen Sinne gemeint haben, denn nach juristischen Grundsätzen ist ihre Schuld ja mit dem von ihnen unterzeichneten Schuldeingeständnis besiegelt. Was wiederum "ethisch" heisst, lässt sich über gesellschaftliche Konventionen definieren. Ein Individuum verhält ethisch, wenn es sich nach gemeinschaftlich anerkannten Grundsätzen pflichtbewusst und moralisch verhält. Was bedeutet es aber, wenn keine Schuld im ethischen Sinne anerkannt wird, nur weil die Handlung nicht persönlich ausgeführt worden ist?
Das könnte heissen, dass Abwesenheit vom Arbeitsplatz die beste Garantie des „Nicht-schuldig-Seins“ im ethischen Sinne ist. Es ist also wichtig, niemals einen Vertrag persönlich zu unterzeichnen und keine Anweisungen zu geben, die nachweisbar von der Führungskraft kommen. Es heisst weiter, dass die Führungskraft vor allem schauen muss, dass entsprechende Regeln erstellt werden, die aber nicht auf ihre Durchsetzung kontrolliert werden müssen.
Führungsmässige Abwesenheit und die Einführung von klaren – wenn auch noch so leeren – Regeln reichen offenbar aus, um „eine weisse Weste“, also ethisches Handeln, zu garantieren. Wir alle wissen schliesslich, dass es überall fehlbare Mitarbeitende gibt, die man nicht immer und überall kontrollieren kann. Eine unglückliche Personalauswahl kann auch jedem passieren.
Dass möglicherweise das finanzielle Anreizsystem, gekoppelt mit einem übermässigen Wachstumsanspruch, zu widerrechtlichen Verhaltensweisen geführt haben könnte, liegt möglicherweise auch nicht in den Händen der obersten Führungsetage… Ethisch korrektes Handeln in deren Sinne verstanden, steht offenbar auch über der juristischen Schuldfrage und rechtfertigt das Verbleiben in der bisherigen Position, weil auf höherer Stufe der Schuldfrage die Unschuld als evident erachtet wird.
Eigene Welt, eigene Regeln
Ausserhalb der Abwesenheit der Führungskraft von fehlbaren Handlungen, wäre eine zweite Hypothese oder auch eine Mischform von beiden denkbar. Wenn die Ratio des Menschen aufgrund der Argumentationsweise einer Konzernleitung derart an ihre Grenzen stösst, kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass es sich um verschieden wahrgenommene Realitäten handelt. Es wäre möglich und psychologisch interessant, ob ein grösserer Konzern sich eine eigene Welt aufgebaut hat, die nach eigenen Regeln funktioniert.
Angenommen, eine Organisation baut sich eine eigene Welt auf. Der ausserhalb stehende Beobachter stellt fest, dass es eine Innenwelt eines Konzerns und eine darum herum existierende Aussenwelt gibt. Zunächst diffundieren Innenwelt und Aussenwelt. Die Membran ist sozusagen durchlässig und die Einflüsse wechselseitig. Mit der Zeit aber nehmen die Personen der Innenwelt ihre eigene Realität als die einzig gültige wahr, schotten sich gegen die Einflüsse der Aussenwelt ab und negieren diese schliesslich gänzlich. Von aussen betrachtet, entsteht eine fiktive Welt. Wer rund um die Uhr mit dieser inneren Welt digital verbunden ist, wer kaum Bezug in die Aussenwelt pflegt, wer nur Kontakte und Meinungen der Ingroup der Innenwelt akzeptiert, der wird allmählich keine andere Denkweise mehr anerkennen und sich durch nichts „Fremdes“ mehr tangieren lassen.
Die Aussenwelt als Scheinwelt
Wenn Loyalität und Treue heisst, die selbstgemachten Regeln der Ingroup bedingungslos anzuerkennen und die Aussenwelt nur als Scheinwelt zu sehen, dann verliert man den Bezug zu der Realität, wie Aussenstehende und zu ihnen gehörige staatliche Gerichte sie anerkennen.
Der Umstand, jedes Jahr mehr und mehr Geld zu verdienen ohne dass das Gesamtergebnis der Unternehmung dies rechtfertigen würde, ist in dieser Welt zum Beispiel legitimiert und offenbar erstrebenswert. Es gibt auch interne Regeln, die sich mit jenen der Aussenwelt decken, die aber insofern keine praktische Gültigkeit haben, weil sie systematisch nicht angewendet werden. Vielleicht ist der Bezug zur Aussenwelt mittlerweile derart entfernt, dass die Innenwelt in die Aussenwelt hineininterpretiert wird und eine subjektive Ausdehnung der Innenwelt nach aussen hin erfolgt ist.
Die fiktive Welt übernimmt sozusagen die reale Welt oder mindestens Teile davon. Nach und nach könnte das bedeuten, dass die Innenwelt allgemeine Gültigkeit hat und nicht mehr erkannt wird, dass es eine andere Welt darum herum gibt, die in die Innenwelt hineingreifen könnte. Dann könnte der Ausspruch „persönlich haben wir eine weisse Weste“ den dort vorherrschenden Realitäten entsprechen, weil da keine andere Welt mehr ist, die dies anders beurteilt. In der Aussenwelt, die als Scheinwelt irgendwo existiert, kann gleichzeitig ein Schuldeingeständnis ohne weiteres unterschrieben werden, weil dieses nichts bedeutet und es ein solches es auch niemals hätte geben dürfen.
Das Bestreben, möglichst rasch wieder in die innere – einzig gültige –Welt zurückzukehren, einzutauchen und weiter zu machen wie bisher, ist aus dieser Optik geradezu folgerichtig. Betrachten wir also den Ausspruch „persönlich haben wir eine weisse Weste“ als eine Aussage, die aus einer anderen Welt stammt, zu der der Aussenstehende keinen Zugang hat und von ihr auch nicht gehört und verstanden wird. So können wir diese Aussage eher mit unserer Ratio nachvollziehen. Wir können diese beiden Realitäten einander gegenüberstellen. Das Erkennen zweier Welten bewirkt, dass wir in unserer Verwirrung wieder aufatmen und aus ihr herausfinden können.