Gespaltenes Amerika: die «Black Lives Matter Bewegung» kämpft für die Rechte der Afroamerikaner und der People of Color. Dagegen wollen durch evangelikale Ideologien getriebene, oft von Polizeibrutalität unterstützte Gruppen die weisse Vorherrschaft bewahren. Die von Präsident Joe Biden erhoffte «Heilung der Gesellschaft» ist nicht in Sicht, wie zwei neue Bücher dokumentieren.
Es sei erlaubt, diesen Bericht mit einem persönlichen, wenn auch ein wenig zurückliegenden Erlebnis zu beginnen. Im Rahmen eines internationalen Hilfsprojektes des «American Friends Service Committee», den Quäkern, weilte der Autor dieses Berichtes (damals gerade 23 Jahre alt) im Sommer 1962 in Homewood Brushton, einem noch heute überwiegend von Afroamerikanern bewohnten Vorort von Pittsburgh/Pennsylvania. Damals zumindest war Homewood Brushton ein schwarzes Ghetto. Die Aufgabe von uns etwa zwanzig Personen aus verschiedenen Ländern bestand darin, den wirtschaftlich und gesellschaftlich diskriminierten Schwarzen bei der Renovierung ihrer oft heruntergekommenen Häuser zu helfen. Eines Abends ging unsere Gruppe durch das Ghetto, wurde plötzlich von einer schwarzen Gang umzingelt und brutal zusammengeschlagen. Unsere Rettung bestand darin, uns nicht zu wehren und zu versuchen, die nächste beleuchtete Hauptstrasse zu erreichen.
Die Rebellion 1980 in Miami und ihre Hintergründe
Zeitensprung. Am 17.Mai 1980 fuhren der 18-jährige Michael Kulp und dessen 22-jähriger Bruder Jeffrey Kulp durch Liberty City, dem grössten schwarzen Viertel von Miami. Wie Elisabeth Hinton, Professorin an der Yale University, in ihrem neuesten Buch «America on Fire» berichtet, wurden die beiden weissen Brüder plötzlich von einer schwarzen Gang so schwer attackiert, dass einer der beiden später im Krankenhaus starb. Professorin Hinton beschreibt die Attacke so: «Die Angreifer, die zwischen 12 und 40 Jahre alt waren, schlugen mit Ziegelsteinen und mit einer zehn Kilo schweren Betonplatte auf die Kulp-Brüder ein. Ein Zeitungsverkaufsständer wurde auf Jeffreys Kopf gekippt. Ihm wurde ein Ohr und ein Teil der Zunge abgeschnitten. Ein Mann fuhr mit einem grünen Cadillac über die Körper der beiden und stach dann, begleitet vom Jubel der Menge, mit einem Schraubenzieher auf sie ein.»
Ein Einzelfall, von Afroamerikanern ausgehender, krimineller, zügelloser Gewalt? Die Professorin Hinton ordnet den Aufstand von Miami, der den Gewalttaten an den Kulpbrüdern folgte, so ein: «Die Rebellion 1980 in Miami – wie 1992 in Los Angeles, 2001 in Cincinnati, 2014 in Ferguson in Missouri und 2020 in Minneapolis und anderen Städten – erfolgte als Reaktion auf aussergewöhnliche staatliche Gewalt und Missachtung, nicht aufgrund alltäglicher Zusammenstösse mit der Polizei.»
Eine «Chronik schwarzer Rebellionen»
Am Ende ihres Buches listet die Autorin auf satten 26 Seiten eine «Chronik schwarzer Rebellionen» auf. Diese Chronik basiert zum grössten Teil auf offiziellen Quellen und kommt für die Jahre von 1964 bis 2001 auf 1596 solcher Aufstände, wobei, wie Elizabeth Hinton schreibt, solche Rebellionen ab 1972 deutlich zurückgegangen seien. Folgt man der Argumentation der Autorin über die gut 400 Textseiten, dann haben sich seit der Bürgerrechtsgesetzgebung von Präsident Lyndon B. Johnson in den 1960iger Jahren allmählich landesweit immer mehr Bürgerrechtsgruppen gebildet, welche mit «Diskriminierung und Ungleichheit» ins Gericht gegangen und in der Millionen von Menschen auf die Strassen gegangen seien, um «eine andere Form von Gesellschaft» herzustellen. Genau in diesem Augenblick aber sei die Regierung Trump darangegangen, «den massenhaften Einsatz von Polizei als einzig mögliche Antwort auf die Proteste» zu wählen.
Als ein Beispiel (von Hunderten oder gar Tausenden) ständiger Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung wählt Professorin Hinton die Kleinstadt Cairo im Bundesstaat Illinois. Dort hätten die Behörden schon im Jahr 1939 zwei Wohnquartiere gebaut – eins für die schwarzen Einwohner mit dem Namen «Pyramid Courts» in einem von Hochwasser gefährdeten Gebiet, genau dort, wo im Bürgerkrieg die (weissen) Truppen der Nordstaaten versklavte Menschen bewacht hätten. Und ein anderes mit dem Namen «Elmwood Place» für die weissen Einwohner, quasi für jene, für die der amerikanische Traum eigentlich gelte. Ein paar Jahrzehnte später sei besonders das schwarze Wohnquartier «völlig heruntergekommen»: undichte Rohrleitungen, rissige Decken, Kakerlaken und Ratten überall.
Was «White Supremacy» bedeutet
In der Amerikanischen-Traum-Siedlung Elmwood seien die Verhältnisse zwar nur ein wenig besser gewesen, aber die weisse Bevölkerung habe sich im Gegensatz zum schwarzen Bevölkerungsteil wenigstens keine Sorgen darüber machen müssen, ob man «auf sie schiessen würde, während sie ihren täglichen Beschäftigungen nachgingen». Kein Wunder, dass Pyramid Courts das Zentrum jenes Aufstandes wurde, der am 17.Juli 1967 ausbrach – kurz nachdem die Rebellion von Newark/New Jersey niedergeschlagen war und kurz bevor «Detroit explodierte», wie die Autorin schreibt.
Die Kleinstadt Cairo/Illinois kann als Modell für all die anderen amerikanischen Städte gelten, in denen Afroamerikanern bedeutet wurde, was «White Supremacy», weisse Vorherrschaft, bedeutete: «Der Aufstand», schreibt Elizabeth Hinton, «war eine Reaktion auf die Infrastruktur der rassistischen Unterdrückung in einer Kleinstadt, in der die etwa 3800 Menschen zählenden schwarzen Einwohner knapp die Hälfte der Wohnbevölkerung stellten und dennoch gezielt von allen politischen und wirtschaftlichen Institutionen ausgeschlossen waren.»
Das weisse Establishment musste irgendwann zumindest pro forma reagieren. Tatsächlich tat es dies schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts, als es, zum Beispiel, 1917, wie die Autorin schreibt, eine Kommission für «menschliche Beziehungen und Bürgerrechte» gründete. Diese sollte das Fehlverhalten der Polizei in East St. Louis untersuchen. Dort waren bei Übergriffen weisser Bewohner Hunderte Schwarzer getötet worden. In den 1930iger Jahren habe, schreibt die Autorin, die oben erwähnte, 1917 gegründete Kommission Sonderkomitees ausgesandt, «wenn weisse Bürgerwehren Selbstjustiz im grossen Stil übten oder wenn regelrecht Krieg gegen schwarze Bürger geführt wurde».
Die Kerner-Kommission und ihre Wirkung
Die bekannteste Kommission wurde die nach dem früheren Gouverneur von Illinois benannte Kerner-Kommission. Nach den Aufständen in Cairo, Detroit, Newark und 70 anderen Städten sollte diese Kommission 1967 im Auftrag von Präsident Lyndon B. Johnson die Ursachen der Gewalt untersuchen. Das Ergebnis war so offensichtlich wie vorhersehbar. Professorin Hinton schreibt: «Die Kommission betonte die Rolle des weissen Rassismus bei der anhaltenden Ungleichheit und Segregation und forderte die volle Integration der schwarzen Bürger in den amerikanischen Alltag.»
Umgesetzt wurden diese Forderungen bis heute – nach mehr als einem halben Jahrhundert – allenfalls teilweise.
Der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner und der People of Color steht eine zunehmend radikalisierte, von evangelikalen Ideologien getriebene, nationalistische Bewegung gegenüber, welche die «White Supremacy», die Vorherrschaft der Weissen in den USA mit allen Mitteln bewahren will. Über diese extreme Bewegung hat die deutsche Journalistin Annika Brockschmidt ein höchst informatives Buch geschrieben. Selten gibt die Titelseite eines Buches so viele optische Informationen her wie dieses: ein grosses Kreuz, eingerahmt von wehenden amerikanischen Flaggen, darüber der Titel «Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet».
Rassismus als verbindendes Element
Schon das erste Zitat, mit dem die Autorin den Leser in der Einleitung konfrontiert, offenbart den ganzen Schrecken, der die Welt erfasst, wenn sie über den Zustand der führenden Demokratie nachdenkt. Die Autorin zitiert nämlich einen Mann namens Jacob Chansley, einen der Angreifer auf das Kapitol vom 6.Januar 2021. In der Senatskammer angekommen, faltete Chansley die Hände zum Gebet und sagte folgendes: «Danke, dass du den Vereinigten Staaten erlaubt hast, wiedergeboren zu werden. Danke, dass du uns erlaubt hast, uns der Kommunisten, der Globalisten und der Verräter in unserer Regierung zu entledigen. Wir lieben dich und wir danken dir. Wir beten in Christus’ heiligem Namen.»
Dieser christliche Nationalismus, erklärt die Autorin, sei nicht erst mit Donald Trump aufgetreten. Es sei auch wenig überraschend gewesen, «dass Rassismus das verbindende Element zwischen der Religiösen Rechten und White Supremacists darstellt: Schon bei den Anfängen der organisierten modernen Religiösen Rechten in den 1960iger Jahren war Rassismus die treibende Kraft.»
Diese religiöse Rechte verteile sich auf viele verschiedenen Gruppen, deren Gemeinsamkeit u. a. darin bestehe, dass sie die Trennung von Kirche und Staat nicht anerkenne. Zudem sei die «moderne Reljgiöse Rechte», schreibt die Autorin, schon früh ein Bündnis mit Neoliberalen eingegangen. «Die Verbindungen von Superreichen und radikalen Hardlinern waren essentiell, um das heutige, weit verzweigte Netzwerk der Religiösen Rechten aufzubauen und dadurch massiven Einfluss auf die amerikanische Politik zunehmen.» (Annika Brpckschmidt) Die Autorin weist auf «grosse Überschneidungen zwischen Christlichem Nationalismus und Protestantischem Fundamentalismus» hin. Demnach haben die USA die Rolle Israels im Alten Testament übernommen. Die Leitlinien, die Gott dem Volke Israel im Alten Testament gegeben habe, hätten heute für das Verhalten der Vereinigten Staaten zu gelten.
Wie eine solche ideologische evangelikale Grundhaltung in praktische Machtpolitik umgesetzt wird, das zeigte – ausgerechnet – Ronald Reagan, als er sich 1980 um die Präsidentschaft bewarb. Ein geschiedener Schauspieler aus dem sündigen Hollywood – das war eigentlich à priori kein Kandidat für die religiöse nationalistische Rechte. Doch dieser einflussreiche politische Block denkt anders. Für die Evangelikalen war Reagan der Mann, der ihrer Meinung nach konservative Richter ans Oberste Gericht der USA berufen werde. Im August 1980 sprach er beim Treffen des «Religious Round Table» in Dallas/Texas vor 15’000 Pastoren und religiösen Aktivisten. Vor diesen religiösen Eiferern habe Reagan, schreibt die Autorin, Zweifel an der Evolutionstheorie geäussert und dazu beteuert, dass er auf einer einsame Insel lediglich die Bibel mitnehmen werde. Dann habe er, fährt Annika Brockschmidt fort, jenen Satz ausgesprochen, der als Wendepunkt in die Geschichtsbücher eingehen und ihm die Gunst konservativer Evangelikaler sichern sollte. «Ich weiss», habe Reagan gesagt, «dass ihr mich öffentlich nicht unterstützen könnt, aber … ich unterstütze euch öffentlich.»
In diesem Zusammenhang erinnert die Autorin daran, dass sich die Evangelikalen seinerzeit nicht für den gottesfürchtigen, fast pazifistischen amtierenden Präsidenten Jimmy Carter, praktisch einen Glaubensgenossen von ihnen, entschieden hätten, sondern für den kämpferischen Schauspieler Ronald Reagan. Die Autorin sieht Parallelen zur Wahl Donald Trumps im Jahr 2016, den die Evangelikalen trotz seiner sexistischen, Frauen herabwürdigenden Äusserungen bevorzugt hätten – gegen Hillary Clinton.
Man könnte stundenlang aus dem Buch von Annika Brockschmidt zitieren – immer kommt die Autorin zur selben Schlussfolgerung: Die christliche nationalistische, weisse Vorherrschaft anstrebende Rechte in den USA ist eine politische Kraft, die einen langen Atem hat und auch die kommenden Wahlen mitentscheiden kann.
War Trump nur der Anfang?
Der evangelikalen politischen Rechten steht, wie eingangs durch Professorin Elizabeth Hinton dargelegt, eine zunehmend ungeduldiger werdende Bewegung der Afroamerikaner und der «People of Color» entgegen. Diese Konfrontation hat das Potenzial, eines Tages, wie auch schon am 6. Januar 2021 beim Sturm aufs Capitol, in Gewalt auszuarten.
Denn, sagt Annika Brockschmidt, die Präsidentschaft Donald Trumps sei erst der Anfang einer Epoche gewesen, in der die christliche nationalistische Rechte ganz oben mitspiele, die Ära Trump sei «eine Vorschau auf das, was noch kommen kann». Die Gegenfront: Auf etwa 20 Millionen Afroamerikaner und People of Color zählt Elizabeth Hinton die Zahl derer, die im Sommer 2020 nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd auf den Strassen des Landes gegen das Fortbestehen der Vorherrschaft der Weissen demonstriert haben.
Derzeit aber sind offenbar radikale rechte Gruppen wie die «Oath Keepers» und die «Proud Boys» auf dem Vormarsch. Sie versuchen, wie die amerikanische Grassroots-Plattform «Move On» berichtet, mit Hilfe von Mark Finchem, einem republikanischen Abgeordneten des Arizona-Repräsentantenhauses, noch immer, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl vom November 2020 für ungültig zu erklären und, mehr noch, Wahlkreise so zuzuschneiden, dass republikanische Siege zukünftig sicher sind. Annika Brockschmidt spricht von den «Totenglocken der amerikanischen Demokratie», welche läuten, «seitdem die einzelnen Bundesstaaten begonnen haben, die Lüge vom Wahlbetrug durch Gesetzgebung zu institutionalisieren».
Elizabeth Hinton: America on Fire. Rassismus, Polizeigewalt und die Schwarze Rebellion seit den 1960iger Jahren. Originaltitel: The Untold History of Police Violence and Black Rebellion since the 1960ies. Verlag Blessing, München 2021.
Annika Brockschmidt: Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet. Verlag Rowohlt, Hamburg 2021.