Rund neun Monate vor den nächsten Parlamentswahlen am 20. Oktober 2019 lohnt sich ein Blick auf die schweizerische Parteienlandschaft. Schliesslich bestimmen die Parteien die politische Agenda und sind deshalb auch massgeblich für das politische Klima im Land verantwortlich.
Zurzeit zählen wir 14 nationale sowie ca. 180 kantonale und 5’000 kommunale politische Parteien. Rund 6,8 Prozent der 5,3 Millionen Stimmberechtigten sind eingeschriebene Parteimitglieder (FDP 120’000, CVP 100’000, SVP 90’000, SP 30’000, GPS 7’500, BDP 6’500, EVP 4’500, GLP 4’000, diverse 3’000 – Stand 2015). Die Wähleranteile dürften folgende ungefähren Werte aufweisen: FDP 18%, CVP 10%, SP 19%, SVP 27%, Grüne 9%, GLP 6%, BDP 3%, andere 8%.
Die fünf grössten Probleme
Gemäss SRG Wahlbarometer sind dies die fünf grössten Probleme, die Schweizerinnen und Schweizer 2018 bewegten (Angaben in Prozent):
- Krankenkassenprämien (42)
- Reform Altersvorsorge (37)
- Zuwanderung, Ausländer (31)
- Klimawandel (30)
- Beziehungen zur EU (28)
Sehen wir uns diese fünf Knacknüsse in aller Kürze an:
Krankenkassenprämien: Unser Gesundheitssystem ist zwar qualitativ Weltspitze, doch was die Kostentreiber angeht, unheilbar, ja chronisch krank. Sämtliche Anspruchsgruppen sind mitschuldig:
- die Prämienzahlenden selbst, mit ihrer inflationären Anspruchshaltung;
- die 58 Krankenkassen, die einen überbordenden Konkurrenz-, Werbe- und administrativen Aufwand betreiben;
- die Spitäler – es sind zu viele, Doppelspurigkeiten, unnötige Operationen und Fehlbehandlungen sind die Folgen;
- die Ärzteschaft mit strukturellen Fehlanreizen: zu viele überbezahlte Spezialisten, zu wenig Allgemeinpraktizierende und Landärzte;
- die Pharmabranche mit einer fragwürdigen Preispolitik;
- die Altersheime mit undurchsichtigen, zum Teil zu hohen Tarifen.
Eine Herkulesaufgabe für die Politik, aber für die vielen Lobbyisten im Parlament ein grossartiges Tummelfeld.
Altersvorsorge: Zu Recht machen sich viele jüngere Menschen Gedanken darüber, ob sie dereinst noch finanziell gesichert über die Runden kommen werden. Das jetzige System ist ungerecht – die Alten leben auf Kosten der Jungen. Dringende politische Sanierungen werden im Dschungel der Parteifehden blockiert. Kooperation und Kompromisswille sind Voraussetzungen zur politischen Lösung. Beides fehlt heute.
Zuwanderung: Bevor steigende Unsicherheit, ja bisweilen militante Ablehnung gegenüber in der Schweiz anklopfenden Migranten instrumentalisiert werden, lohnt es sich, einen Moment auf vergangene Jahrhunderte zurückzublicken. Immer waren Schweizerinnen und Schweizer gezwungen auszuwandern. Meistens als Folge von Nahrungsknappheit. Die heutigen Migrantenströme sind Zeichen einer globalen Bewegung, der einerseits mit Respekt, andererseits mit Konsequenz zu begegnen ist. Beides ist den politisch Verantwortlichen ins Aufgabenheft zu schreiben.
Klimawandel: Offensichtlich beschäftigt das Thema stärker, als man aus der mangelnden Konsequenz im persönlichen Handeln ableiten könnte. Umsatzrekorde bei den SUV-Zulassungen, bei den Kurz- und Langstreckenflügen, bei den Kreuzfahrtenbuchungen – und gleichzeitig Besorgnis ob der offensichtlichen Klimaerwärmung. Es gäbe ein probates Mittel, um Theorie und Praxis des menschlichen Verhaltens einander anzunähern: finanzielle Anreize. Diese hätten ihren Ausgangspunkt im Bundeshaus, im National- und Ständerat, bei den politischen Parteien. Klimarappen, Klimakompensation, Aufklärungsarbeit. Leider wenig geeignet, um eine politische Partei zu profilieren.
Beziehung zur EU: Die epischen Diskussionen über Gut oder Schlecht des abzuschliessenden Rahmenabkommens mit der EU lassen uns keine Ruhe. Irgendwie spüren wir, dass es ein Abkommen braucht – auch im Interesse der Exportwirtschaft als Garant unseres Wohlstands. Doch die Gegner sind zahlreich, von Partikularinteressen motiviert die einen (Beispiel Landwirtschafts-Lobby), von helvetischen Nostalgiegefühlen einer pseudofreien, unabhängigen und selbstbestimmten Schweiz geblendet die anderen. Den notwendigen Kompromiss, um aus der vertrackten Situation herauszufinden, muss die Politik liefern. Früher oder später.
Das sagen die Parteipräsidenten
Im Januar 2019 äusserten sich die Parteipräsidenten der sieben grössten Parteien im «Tages-Anzeiger» darüber, was sie im Herbst erreichen wollen. Spannende Lektüre! Besonders interessant ist der Vergleich mit den fünf grössten Problemen, welche die Schweizerinnen und Schweizer umtreiben.
Christian Levrat (SP): «Oberstes Ziel ist, die Mehrheit von FDP und SVP im Nationalrat zu brechen. Die notwendigen Reformen für dieses Land sind wegen der Politik von FDP und SVP ausgeblieben.»
Petra Gössi (FDP): «Wir wollen alle liberal denkenden Menschen abholen. Die SP ist hingegen im Moment nur am Blockieren und ist konservativ unterwegs. Und die SVP war seit je eine konservative Partei, die zu allem Nein sagt.»
Regula Rytz, (Grüne): «Ich bin überzeugt, dass die FDP wegen ihrer Blockadepolitik im Klimaschutz bei den Wahlen die Quittung erhält. So unökologisch wie unter Präsidentin Petra Gössi war die FDP noch nie unterwegs.»
Martin Landolt (BDP): «Man vermisst bei den grossen Parteien Vernunft und Lösungsorientierung. Die Schuld am Scheitern wichtiger Reformen tragen die Mitte-rechts-Parteien.»
Jürg Grossen (GLP): «Ich bin überzeugt, dass wir mit unserem klaren Bekenntnis zum Rahmenabkommen vielen Schweizerinnen und Schweizern aus dem Herzen sprechen. Es in eine Konsultation zu geben, ist reine Zeitschinderei, denn es ist seit Monaten klar, dass sich weder SP noch SVP auch nur einen Millimeter bewegen werden.»
Gerhard Pfister (CVP): «Die FDP übernimmt ihre staatstragende Verantwortung immer weniger. Ein Beispiel: Sie hat zusammen mit der SVP das CO2-Gesetz so verwässert, dass es im Nationalrat durchfiel.»
Albert Rösti (SVP): «[…] Weil wir die einzige Partei sind, die für die Freiheit und die Sicherheit in diesem Land konkrete Lösungen anbietet.»
Probleme des Volkes, Ziele der Parteipräsidenten
Ein grosser Zusammenhang zwischen Problemen des Volkes und den Zielen respektive Statements der Parteipräsidenten ist nicht sichtbar. Falls unterschiedliche Wahrnehmungen zwischen beiden Gruppen bestehen, warum ist das so? Oder, anders gefragt: Ist das tendenziell schwindende Vertrauen der Bevölkerung in die Problemlösungsfähigkeit der Politikerinnen und Politiker etwa die Folge oben geschilderter Prioritäten-Wahrnehmungen?
Die NZZ fragte kürzlich, warum es die Politiker meist nicht schafften, das eigene Gärtchen zu verlassen und gemeinsam etwas anzupflanzen, auf dass ein grosser Wurf gelänge? Die Antwort des befragten GLP-Politikers lautete: «Die Unfähigkeit zu tragfähigen Kompromissen hat meines Erachtens viel mit der Angst zu tun, sein Profil zu verlieren.»
Ist das Parteiprofil wichtiger als die Ergebnisorientierung? Bestimmt die Parteipolitik der National- und Ständeräte die politische Agenda etwa in weit grösserem Ausmass als das Bedürfnis nach Kompromisslösungen und zeitgemässen Reformschritten? Eine Mehrheit der Menschen hat die ewige Zuspitzung und Polarisierung längst satt.